| # taz.de -- Feministisches Theaterfestival Body Talk: Private Dance für alle | |
| > Matthias Lilienthals erste Spielzeit an den Münchner Kammerspielen neigt | |
| > sich dem Ende zu. Eine Intendanz, die München bereichert hat. | |
| Bild: Emanzipation vom Körper: Melanie Jame Wolf alias Mira Fuchs | |
| Rosa Zuckerwatte statt Prosecco an den Münchner Kammerspielen: Hat Matthias | |
| Lilienthal einen Jahrmarkt aus einem der ehrwürdigsten Sprechtheater des | |
| Freistaats gemacht? Claus Peymann, Intendant am Berliner Ensemble, lästerte | |
| kürzlich, der ehemalige Chef des Hebbel-Theaters habe das Haus „in | |
| kürzester Zeit heruntergewirtschaftet“. Nein, die Zuckerwatte ist nur ein | |
| Gag des feministischen Festivals „Body Talk“. | |
| Die Zahlen sprechen für Lilienthal. Ihm ist es nicht nur gelungen, die | |
| Auslastung der vorherigen Saison bei 75 Prozent zu halten, und das, wie er | |
| selbst im Gespräch äußert, „bei einem starken ästhetischen und inhaltlich… | |
| Wechsel“. Er hat das Publikum verjüngt. Der Anteil von Studenten stieg von | |
| 15 auf 30 Prozent. | |
| Das sei eine Revolution, behauptet Lilienthal. Jene Studenten seien früher | |
| nicht ins Theater gegangen. „Dafür haben wir Teile der Bürgertums | |
| verloren“, schränkt der Intendant ein. Bis auf einige Ausnahmen jung sind | |
| auch die Besucher von „Body Talk“, einem Festival zum Ende der Spielzeit. | |
| Das Programm wird fast durchweg von Theatermacherinnen bestritten. In | |
| Berlin Alltag, in München innovativ. | |
| Einiges gelingt, anderes misslingt bei diesem Eventmarathon und dem | |
| sperrigen Untertitel „Ein Festival über Körper und Märkte, Geschlecht und | |
| Sichtbarkeit“. Mittelprächtig etwa gerät die Performance der freien | |
| Berliner Gruppe „Talking Straight“ mit dem Titel „Sex“. Sie setzt zu se… | |
| auf Gaudi-Atmosphäre statt auf tiefsinnige Botschaft. Das Kollektiv | |
| improvisiert ein Pick-up-Event – Verführung von Frauen als Sport – und | |
| involviert das Publikum in die Praktiken der „Seduction Community“, also | |
| von Männern, die Techniken zum Frauenabschleppen lernen und „Profit in Form | |
| von Ficks herausschlagen“ wollen. | |
| ## Die Lächerlichkeit von Balzverhalten | |
| Es ist eine kurzatmige Stunde, in der sich die Truppe um Alicia Agustin, | |
| Daniel Cremer, Lina Krüger und Antje Prust verausgabt und beweist, wie gut | |
| sie in glaubwürdigen Moves und Gesten reüssieren kann. Aber die Erkenntnis, | |
| dass dümmliche Anmache in Macho-Manier existiert, führt nicht weiter. Was | |
| für schlimme Chauvis sind doch diese Pick-up-Artists. Die Performance | |
| entlarvt allenfalls die Lächerlichkeit von Balzverhalten. | |
| Politischer geht es dagegen zu bei der Diskussion „Unsichtbare Normen. Die | |
| alltägliche Diskriminierung am Theater“. Dass bislang nur 22 Prozent der | |
| Führungspositionen von Frauen besetzt seien, kritisiert Stefanie Lohaus vom | |
| Missy Magazine. Auch auf der Bühne bemängelt die Journalistin zu viel | |
| Einerlei: Zu häufig würden Frauen auf Klischees reduziert, herrschende | |
| Verhältnisse reproduziert, wo das Theater doch Orte der gesellschaftlichen | |
| Utopie darstellen soll, beklagt Lohaus. | |
| Ähnlich argumentiert die Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi, die | |
| „positive ermächtigende Bilder von Frauen“ auf der Bühne vermisst. Die | |
| Schauspielerin Wiebke Puls vom Ensemble der Kammerspiele plädiert für | |
| „Emanzipation, ohne sich daran aufzureiben“, und sieht Theater primär als | |
| Ort der Kunst, an dem Identität nicht als Selbstzweck eingesetzt werden | |
| dürfe. Ihr geht es in den Stücken um den Menschen an sich, der sich an | |
| seiner Umwelt aufreibt, egal ob Mann oder Frau. | |
| ## Ein unperfekter Körper als Ausschlusskriterium | |
| Melanie Hinz von der Fräulein Wunder AG referiert eigene Erfahrung als | |
| Beleg struktureller Diskriminierung, etwa, dass ein unperfekter Körper ein | |
| Ausschlusskriterium darstelle. „Du hast so einen Rundrücken, das sieht | |
| nicht schön aus, musst du auf die Bühne?“ habe sie sich anhören müssen. | |
| Bedauerlicherweise nähern sich die Diskutierenden nicht an: hier die | |
| stoische Anklage des „weißen Mannes, der es geschafft hat, nicht markiert | |
| zu werden“ (Melanie Hinz) – wobei sie es leider versäumt, diesen Slogan zu | |
| erklären, es ist nicht jeder im Publikum ein/e GenderwissenschaftlerIn –, | |
| dort die vorwiegend positiven Erfahrungen der Schauspielerin Puls, die das | |
| Theater als einen Ort beschreibt, an dem sie sich wohlfühle. Hinz’ Attitüde | |
| nervt: Warum sollte man sich dieser destruktiven Argumentation anschließen, | |
| die verkennt – man schaue sich nur das Ensemble der Kammerspiele an –, dass | |
| es durchaus vielfältige weibliche Körperbilder auf der Bühne gibt? | |
| Wie eine Figur weit jenseits von Size Zero auf der Bühne agiert, zeigt dann | |
| beim Festival gleich die Künstlerin Melanie Jame Wolf aka Mira Fuchs in | |
| ihrer überzeugenden Performance „Savage Amusement“. Sie hat acht Jahre lang | |
| als Stripperin in Melbourne gearbeitet und reflektiert in ihrer | |
| energetisch-erotischen Performance diese Form der Sexarbeit. Es ist | |
| Körperarbeit am Zuschauer: Jedem einzelnen widmet sie einen Private Dance, | |
| ein intimes und reizvolles Erlebnis, wie man es im Theater selten erlebt. | |
| Die Darstellung lebt von Wolfs starker Präsenz. Während sie ihr | |
| Verführungsspiel fast 30-mal wiederholt und dabei ihr Leben reflektiert, | |
| emanzipiert sie sich gleichzeitig davon, auf ihren Körper reduziert zu | |
| werden. | |
| Das Festival „Body Talk“ ist ein schöner (Beinahe-)Schlusspunkt für die | |
| erste Spielzeit Lilienthals. Neues wagen, Mut beweisen, freie Gruppen auf | |
| die große Bühne holen, kurzum: jünger, fragmentarischer, subversiver. Das | |
| tut München gut, wo es ja in gediegenen Häusern starke Konkurrenz durch | |
| Residenz- und Volkstheater gibt. Das Haus an der Maximilianstraße setzte | |
| einige Akzente: das Welcome Café mit Flüchtlingen, eine neu installierte | |
| Bar, eine anspruchsvolle Gesprächsreihe mit Chris Dercon sowie mehrere gute | |
| Konzerte. | |
| ## Wo ist der Kaufmann abgeblieben? | |
| Das passt nicht allen. „Wir wollen mal wieder Theater sehen“, hört man von | |
| Personen, die den Kammerspielen eng verbunden sind. Sie sitzen unglücklich | |
| eine Nicolas-Stemann-Inszenierung des Shakespeare-Klassikers „Der Kaufmann | |
| von Venedig“ ab und fragen sich, „wo der Kaufmann abgeblieben sei“. | |
| Dass es weniger Klassiker in erkennbarem Format gebe, bekennt auch | |
| Lilienthal. Aber er forciert eben, dass die drei Sprechtheater in München | |
| weiter auseinanderrücken. Seine Intention: „Wir haben einen Teil | |
| Exklusivität herausgenommen.“ Seine Kritiker wird das nicht besänftigen, | |
| sie eint die Sehnsucht nach Vertrautem: konventionelles Sprechtheater und | |
| Bühnenprotagonisten, mit denen man mitfühlen kann, am besten möglichst nahe | |
| am Originaltext. | |
| Dieselben Kritiker verkennen leider, dass München in Sachen Pop | |
| mittlerweile den Anschluss an Köln, Berlin und Hamburg verloren hat und ein | |
| kontroverses, von jungen Leuten besuchtes Theater deshalb wichtig ist für | |
| die Stadt. Der Vorwurf, Schauspiel komme zu kurz, ist indes unbegründet. | |
| Dazu gab es viele Gelegenheiten: „Rocco und seine Brüder“ von Simon Stone, | |
| „Wut“ von Elfriede Jelinek oder „Mittelreich“ von Anna-Sophie Mahler, a… | |
| das Festival „Europoly“. Lilienthal nimmt die Kritik sportlich. „Ich muss | |
| drei Jahre durchhalten. Sonst geht es gar nicht.“ Und fügt hinzu: „Mich | |
| kennt jeder Münchner. Aber nicht jeder Münchner liebt mich.“ | |
| 19 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Walter | |
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