# taz.de -- Feminismus im Sport: Ein halbes Willkommen | |
> Leipzigs erstes feministisches Thaiboxstudio will Frauen einen Schutzraum | |
> bieten und offen für Trans- und Interpersonen sein. Ein Widerspruch? | |
Bild: Trainingsauftakt: Die Kopfbedeckung trägt die Kämpferin (l.) nur, weil … | |
LEIPZIG taz | An einem Dienstagabend im November sitzen 40 junge Menschen | |
in einem kalten Boxstudio im Kreis. Bei der Vorstellung sagen sie, wie sie | |
heißen, wie es ihnen geht und mit welchem Pronomen sie angesprochen werden | |
möchten. Die meisten wählen sie, einige wollen sich nicht festlegen. Ro | |
entscheidet sich für er. Erstaunt reagiert hier niemand. Denn viele von | |
ihnen kennen solche „Pronomen-Runden“ aus anderen feministischen Gruppen | |
oder linken Netzwerken. | |
Ro trägt seine schwarzen Haare zwar kurz geschnitten, mit seinen großen | |
Augen im fein geschnittenen Gesicht wird er dennoch nicht automatisch als | |
männlich wahrgenommen. Ro erzählt, dass selbst engen Freunden hin und | |
wieder ein „sie“ herausrutscht, wenn sie über ihn sprechen. Deshalb ist er | |
froh über die Vorstellungsrunde bei Sidekick. Hier kann er sich so | |
präsentieren, wie er sich selbst sieht. Langwierige Erklärungen und | |
unangenehme Nachfragen entfallen. | |
Ro definiert sich als „transmaskulin/androgyn“. Seit vier Jahren weiß der | |
26-Jährige, dass bei ihm biologisches und soziales Geschlecht nicht | |
übereinstimmen. Angefangen hat für ihn alles mit YouTube-Videos von Leuten, | |
für die sich das ihnen zugewiesene Geschlecht nicht richtig anfühlte. Die | |
Clips dokumentierten die Suche nach einer Identität, die zum eigenen | |
Empfinden passt. Dass das etwas mit Ro selbst zu tun haben könnte, begriff | |
er erst nach einer Weile. Heute stellt er sich immer dann mit männlichem | |
Pronomen vor, wenn er sich wohl und sicher fühlt. | |
## Solidarischer Ansatz | |
So wie an diesem Novemberabend beim Techniktraining von Sidekick im | |
Leipziger Westwerk. Seit August existiert der Thaiboxverein mit explizit | |
feministischem Anspruch. Die Trainerinnen Caro Köhler und Imke Bartmann | |
haben ihn ins Leben gerufen. Beide Frauen haben langjährige Erfahrung im | |
Kampfsportbereich. Sie beschreiben die Szene als „autoritär“ und „von | |
heterosexuellen Männern dominiert“. | |
Mit Sidekick wollen sie Frauen, Trans- und Interpersonen dazu eine | |
Alternative bieten. Im Training sei ihnen ein solidarischer Umgang | |
miteinander wichtig, sagt Köhler. Frauen sollten spüren, wie viel Kraft in | |
ihnen stecke – aber ohne Leistungsdruck. Das, ergänzt Bartmann, sei in | |
einem konventionellen Verein nicht möglich. Dort sei alles auf das | |
Erreichen eines vom Trainer vorgegebenen männlichen Ideals ausgerichtet. | |
Frauen müssten sich dort permanent beweisen. | |
Mit ihrem Konzept treffen die beiden Trainerinnen offensichtlich einen | |
Nerv: Woche für Woche versammeln sich bis zu 50 junge Frauen, Trans- und | |
Interpersonen in der ehemaligen Fabrikhalle, um Thaiboxen zu lernen. Viele | |
von ihnen kommen regelmäßig. | |
So wie Ro. Er ist von Anfang an dabei und trainiert ein- bis zweimal pro | |
Woche. Seit seiner Jugend interessiert er sich für Kampfsportarten. Ihn | |
fasziniert die Präzision, mit der die Übungen ausgeführt werden, und die | |
Ethik, die dahintersteht: „Es geht nicht darum, möglichst aggressiv die | |
andere Person zu vermöbeln, sondern eine Defensive aufzubauen und sich | |
selbst zu behaupten.“ | |
## So sein, wie man ist – an zwei Wochentagen | |
Obwohl Ro viele verschiedene Vereine und Kurse ausprobiert hat, ist | |
Sidekick der erste, in dem er sich richtig wohlfühlt. Er beschreibt den | |
Verein als eine von mehreren Inseln in Leipzig, wo er als Transperson | |
explizit willkommen sei: „Hier kann ich so sein, wie ich bin.“ | |
Das gilt aber nur an Dienstagen und Donnerstagen. Bartmann und Köhler | |
bieten zwar an vier Tagen in der Woche Trainingseinheiten an. Montags und | |
freitags dürfen jedoch nur diejenigen kommen, die sich vom Pronomen sie | |
angesprochen fühlen. | |
„Wir sehen schon, dass das nur so ein halbes Willkommen ist“, räumt Köhler | |
ein. Transpersonen, die sich männlich definieren und auch so wahrgenommen | |
werden, machten aber andere Erfahrungen als weibliche. Zur weiblichen | |
Lebensrealität gehöre es, von Männern nicht ernstgenommen und für schwach | |
gehalten zu werden. „Deshalb gehen wir davon aus, dass es Frauen gibt, die | |
nur unter Frauen trainieren wollen.“ | |
Sevda* ist eine dieser Frauen. Während der Erwärmung steht sie weit vorne, | |
hüpft und springt zur lauten Musik. Ihre langen braunen Haare wippen im | |
Takt. Sie wirkt gelöst, lacht viel. Im Gegensatz zu den meisten anderen | |
Teilnehmerinnen, die T-Shirt oder Top zu Shorts kombinieren, trägt die | |
junge Muslima graue Leggins und ein knielanges Oberteil mit blauer Kapuze. | |
Diese ist so geschnitten, dass sie sich wie ein Kopftuch tragen lässt. Der | |
feministische Ansatz des Vereins spielt für Sevdas Entscheidung, zum | |
Training zu kommen, keine Rolle. Wohl aber die Tatsache, dass hier keine | |
Männer trainieren – so kann sie die Kapuze unten lassen. | |
## Wenn sie wollte, könnte sie treffen | |
Im Gegensatz zu den meisten anderen Teilnehmer*innen hat Sevda schon | |
Kampfsporterfahrung. Bereits als Kind ging sie mit ihren Brüdern zum | |
Karate, später zum Kickboxen. „Dieser Sport ist wie ein Magnet für mich. | |
Ich kann nicht ohne“, sagt sie. | |
Während Bartmann die erste Übung erklärt, wickelt sich Sevda Bandagen um | |
die Finger. Bei der ersten Übung sollen im Wechsel Geraden geschlagen und | |
abgewehrt werden. Sevda schlüpft in ihre schwarz glänzenden Boxhandschuhe. | |
Ihre Geraden schnellen geübt hervor. Sie zielt direkt auf die Stirn ihrer | |
Partnerin. Wenn sie wollte, könnte sie jederzeit treffen. | |
Aufgewachsen ist die 27-Jährige als Kind säkularer Muslime in einer | |
Millionenmetropole im Südwesten Russlands. Im Jahr 2011 musste sie | |
plötzlich mit ihrem Mann fliehen. Zu den Gründen will sie nichts sagen. Zu | |
groß ist ihre Angst vor möglichen Konsequenzen. | |
## Ankunft im Alltag | |
Fünf Jahre lang war an Training nicht zu denken. Die Flucht aus ihrer | |
Heimat, die Unklarheit, ob sie hier in Deutschland bleiben darf, und der | |
Alltag mit zwei kleinen Kindern, die hier geboren wurden – all das setzte | |
Sevda so zu, dass sie sich psychologische Hilfe suchen musste. | |
Doch es war ein guter Sommer für sie. Sevda hat eine Therapeutin gefunden, | |
die Russisch spricht. Und seit beide Söhne im Kindergarten sind, hat sie | |
wieder etwas Zeit für sich. Die nutzt sie, um zum Sprachkurs zu gehen. Und | |
fürs Thaiboxen. | |
Es ist Halbzeit im Training. Trainerin Bartmann erklärt die nächste Übung. | |
Auf zwei Geraden folgt ein Tritt gegen den Oberschenkel. Ro fällt die | |
Umsetzung der Übung leicht. Er ist konzentriert und seine Bewegungen sind | |
schnell. Aber er tritt und schlägt ohne Kraft. Während es ringsum durch den | |
Aufprall der Fäuste und Schienbeine klatscht und knallt, erzeugen Ros | |
Geraden und Kicks kein Geräusch. Es scheint, als wolle er möglichst harmlos | |
wirken. | |
Darauf angesprochen sagt er: „Durch dieses Transthema ist man ohnehin schon | |
ein bisschen exponiert. Ich möchte nicht so eine dominante Männerrolle | |
verkörpern. Besonders nicht in dieser Gruppe.“ | |
## Die Wünsche gehen auseinander | |
Nach anderthalb Stunden sitzen alle Teilnehmer*innen wieder auf dem | |
Boden, um sich zu dehnen. Ro findet es schade, nur dienstags und | |
donnerstags dabei sein zu können. Während er spricht, wägt er seine Worte | |
genau ab. Ihm ist es wichtig, dem Verein nicht zu schaden. „Aber | |
gleichzeitig bin ich kein kompletter Teil davon. Das gibt der ganzen | |
Euphorie einen Dämpfer.“ Er würde sich wünschen, dass alle | |
Trainingseinheiten für Frauen, Trans- und Intersexuelle offen sind und nur | |
dann eingeschränkt werden, wenn Teilnehmerinnen den Wunsch danach äußern. | |
Sevda hingegen wäre es lieber, nur unter Frauen zu trainieren. Und doch | |
kommt sie zu denselben Zeiten wie Ro. Sie hat gehört, dass es einen | |
Transmann im Training geben soll. Was der Begriff bedeutet und um wen es | |
sich handelt, weiß sie nicht so genau. Um keine religiösen Vorschriften zu | |
verletzen, zieht sie sich seitdem in der Einzelumkleide um. Ihre Kapuze | |
trägt sie jedoch weiterhin nicht. Endlich wieder boxen zu können, scheint | |
ihr wichtiger zu sein als jede religiöse Vorschrift. | |
* Name geändert | |
11 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Nadja Mitzkat | |
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