# taz.de -- „Bella e perduta“ im Kino: Szenen tierischen Miteinanders | |
> Im halbdokumentarischen Spielfilm „Bella e perduta – Eine Reise durch | |
> Italien“ wird ein Büffel zur Allegorie auf das Italien von heute. | |
Bild: Traumhaft auf den ersten Blick, doch eigentlich ein Albtraum | |
„Oh, Fenster, das leuchtet / doch nicht länger strahlt, / als Zeichen, dass | |
meine Geliebte / krank darnieder liegt. / Ihre Schwester zeigt sich / und | |
spricht zu mir: / Deine Geliebte ist tot / und begraben. / Sie weinte | |
immer, / weil sie alleine schlafen musste. / Jetzt schläft sie mit dem Tod | |
/ als Begleitung.“ Etwa in der Mitte von Pietro Marcellos Film „Bella e | |
perduta – Eine Reise durch Italien“ erklingt das neapolitanische Lied | |
„Fenesta che lucive“, vorgetragen von Giuseppe Di Stefano. | |
Wie kaum ein anderes evoziert dieses Lied eine Vorstellung des | |
italienischen Südens als archaischem, bukolischem Ort. Pier Paolo Pasolini | |
verwendete das Lied gleich dreimal: das erste Mal in seinem Filmdebüt | |
„Accattone“, dann in zwei Filmen der „Trilogie des Lebens“ („Il Decam… | |
und „I racconti di Canterbury“). | |
In „Bella e perduta“ fungiert das Lied als düstere Vorahnung auf das | |
Schicksal des Protagonisten Sarchiapone, einem kampanischer Büffel. | |
Sarchiapone wird zu Beginn des Films, nach einem allegorischen Prolog, | |
ausgesetzt und von Tommaso, einem Schafhirten und Hüter eines verlassenen | |
Palasts, aufgegriffen. Tommaso bringt den jungen Büffel in das Schloss von | |
Carditello, das er durch seine Anwesenheit gegen Vandalen und die Camorra | |
schützt. Verkörpert wird der Tommaso des Films von Tommaso Cestrone, der | |
das Schloss im kampanischen San Tommaro auch in der Wirklichkeit in | |
Eigeninitiative rettete und – wie im Film – unerwartet an einem Herzanfall | |
starb. | |
Im Gespräch erklärt Regisseur Pietro Marcello: „Die Geschichte dieses | |
Schlosses ist paradox […] Das Schloss wurde von Charles de Bourbon im 18. | |
Jahrhundert gebaut, es war eine „Musterfarm“, ein Ort, der eine | |
Vorreiterposition einnahm, was Tierschutz betraf, und an dem | |
Wissenschaftler aus ganz Europa arbeiteten: eine wunderbare „Institution“ �… | |
bis die Savoyer kamen. Diese überließen das Schloss einem Gutsherrn aus | |
Casal di Principe, einem Camorrista aus der Zeit, als der Niedergang | |
begann. Im 20. Jahrhundert war das Schloss ein Versteck für den | |
Casalesi-Clan und ein lokaler Umschlagplatz für geschmuggelte Waffen. Aus | |
all diesen Gründen ist Carditello ein Symbol für die unvollständige | |
Geschichte Italiens, eines Italien, das, der Vision Mazzinis folgend, nie | |
geeint wurde. | |
## Kein Grund, den jungen Büffel am Leben zu lassen | |
Neben dem sprechenden Büffel Sarchiapone nutzt Pietro Marcello die | |
Commedia-dell’arte-Figur des maskierten Pulcinella, um die der Realität | |
entnommenen Elemente zu einer melancholischen Reflexion über die Gegenwart | |
im ländlichen Süditalien zu überformen. Wie der Büffel verweist auch | |
Pulcinella zurück auf eine zeitlose Archaik. So geht die Figur Pulcinellas | |
ihrerseits auf einen etruskischen Halbgott zurück, der zwischen Lebenden | |
und Toten vermittelte. | |
Pulcinella und der Büffel stehen für eine in mehrfachem Sinne „vorrömische… | |
Wirklichkeit, für die in der Gegenwart (auch hier ist Pietro Marcello nahe | |
bei Pasolini) immer weniger Platz ist: In den Augen der meisten | |
pullovertragenden Bewohner gibt es keinen Grund, einen jungen männlichen | |
Büffel wie Sarchiapone am Leben zu lassen. Nach Tommasos Herztod schützt | |
nur der maskentragende Pulcinella Sarchiapone vor dem sicheren Tod. | |
Marcellos Film gelingt es nur zum Teil, die Zuschauer die Last der | |
Allegorie im Film vergessen zu lassen. Am ehesten passiert dies in | |
beiläufigen Szenen tierischen Miteinanders, wenn etwa Sarchiapone gemeinsam | |
mit einem Welpen aus einer Wasserschüssel trinkt und der Welpe kurz darauf | |
den aus seiner Perspektive tierischen Koloss umläuft und erkundet. Dennoch | |
zeugt „Bella e perduta“ (wie letztes Jahr schon Francesco Munzis „Anime | |
nere“) davon, dass ein neues italienisches Kino im Entstehen ist. Jenseits | |
des Manierismus von Matteo Garrone und der Saturiertheit von Paolo | |
Sorrentino, voller Willen, neue Wege zu finden, die italienische | |
Wirklichkeit zu zeigen. | |
17 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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