# taz.de -- Filmfestival Cinema Ritrovato in Bologna: Marsianer entdecken Deuts… | |
> Im Schatten überdachter Säulengänge: Beim Cinema Ritrovato in Bologna | |
> kann man frei und ungezwungen flanieren und herumstöbern. | |
Bild: Drama um Liebe und Moral: „Different Fortunes“ (1956) von Leonid Lukov | |
Die regennassen Straßen Moskaus: Das ist ein Motiv, das mir von der | |
diesjährigen Ausgabe des Cinema Ritrovato, eines jährlich in Bologna | |
stattfindenden, auf Vorführungen historischer Filmprogramme spezialisierten | |
Festivals, besonders deutlich in Erinnerung bleiben wird. Es taucht in | |
mindestens zwei Filmen auf, die beide Teil einer Programmsektion sind, die | |
sich mit dem sowjetischen „Tauwetterkino“ beschäftigt – mit einem Kino, … | |
in den Jahren nach Stalins Tod im Jahr 1953 entstand, als nach einer langen | |
Phase der jeglichen künstlerischen Eigensinn erdrückenden Zensur plötzlich | |
wieder eine erstaunliche Vielfalt filmästhetischer Formen möglich wurde. | |
Manchmal sogar in einem einzigen Film: „Different Fortunes“ von Leonid | |
Lukov beispielsweise ist zugleich ein eindringliches Drama um Liebe und | |
Moral, eine vielschichtige Charakterstudie, ein beschwingtes Musical – und | |
einer der schönsten Farbfilme, die je gedreht wurden. In einer Szene | |
schlendern zwei junge Liebende, eine intime Melodie singend, an der Moskwa | |
entlang, in abendlichem Sonnenschein, der sich im Belag der feuchten Straße | |
aufs Zauberhafteste spiegelt. Ein außerweltliches Leuchten erfüllt den | |
gesamten Kinosaal. | |
In „The House I Live In“ von Lev Kulidzanov und Jakov Segel, einer der | |
erstaunlichsten Ausgrabungen des diesjährigen Festivals, findet sich früh | |
im Film eine ähnliche Szene. Auch da spazieren zwei junge, hoffnungsvolle | |
Menschen am Fluss entlang, auch da reflektiert sich die Stadt in Pfützen, | |
aber das Glück ist fragiler, brüchiger. Der Film setzt im Jahr 1935 ein und | |
beschreibt, geduldig und mit viel Aufmerksamkeit für psychologische | |
Details, das Leben einiger Bewohner eines Mietshauses: Liebesgeschichten, | |
Karrierepläne, große Hoffnungen, kleine Enttäuschungen. | |
## Die Schicksalsfäden zerreißen | |
Ziemlich genau in der Mitte des Films bricht der Zweite Weltkrieg aus, | |
gekennzeichnet durch ein denkwürdiges Bild: Die Jahreszahl 1941 erhebt sich | |
gewaltig und drohend über einem apokalyptischen Ruinenpanorama. Tatsächlich | |
legt der Krieg den Film selbst in Trümmer. Die Protagonisten sind bald über | |
die halbe Welt verstreut, die Schicksalsfäden zerreißen oder verheddern | |
sich, und auch das filmische Bild selbst gerät in eine Krise. Die | |
unbesorgten Spaziergänge und auch der ästhetische Überschwang der | |
Vorkriegszeit sind bald nur noch wehmütige Erinnerung. | |
Und nach so einem Film, der einen mit Haut und Haaren in eine andere Zeit | |
und an einen anderen Ort versetzt, mit den Schrecken der Geschichte | |
konfrontiert hat, tritt man aus dem Kino und fühlt sich sofort geborgen – | |
zum einen in der warmen Abendluft Bolognas, zum anderen in einer Atmosphäre | |
entspannter Kinobegeisterung. | |
Das Cinema Ritrovato hat sich insbesondere in den letzten Jahren zu einem | |
zentralen Treffpunkt der internationalen Cinephilenszene entwickelt. | |
Insbesondere auf der Via delle Lame, die die drei zentralen Spielorte | |
verbindet und die wie die meisten innerstädtischen Straßen Bolognas von | |
überdachten, zumindest in der Mittagshitze dringend benötigte Kühlung | |
spendenden Säulengängen gesäumt ist, wird das sichtbar: Gefühlt alle paar | |
Meter begegnet man da während des Festivals anderen Besuchern, die zum | |
nächsten Film eilen oder sich zwischendurch einen Kaffee gönnen. | |
## Von Hektik ist nichts zu spüren | |
Nichts ist auf dem Cinema Ritrovato zu spüren von der Hektik, die fast | |
alle anderen Filmfestivals fest im Griff hat. Sicher auch, weil fast alle | |
anderen Filmfestivals an deutlich unangenehmeren Orten stattfinden, als | |
Bologna einer ist; vor allem aber, weil es in fast allen anderen | |
Filmfestivals um den jeweils neuesten heißen Scheiß geht, den man ja nicht | |
verpassen darf, wenn man mitreden möchte. | |
Das Cinema Ritrovato dagegen zeigt das Kino als einen Möglichkeitsraum, in | |
dem man frei und ungezwungen flanieren und herumstöbern kann. Mal | |
verschlägt es einen auf die regennassen Straßen Moskaus, mal in einen | |
klaustrophobischen Fischerhaushalt, in dem William Wylers meisterlicher „A | |
House Divided“ einen Vater-Sohn-Konflikt so lange eskalieren lässt, bis | |
wirklich alle Zuschauernerven zum Zerreißen gespannt sind. | |
Und dann kann es auch passieren, dass man in Filme stolpert, die nicht nur | |
aus einer anderen Zeit, sondern aus einer anderen Realitätsebene zu stammen | |
scheinen. Zum Beispiel „Die Entdeckung Deutschlands durch die | |
Marsbewohner“, ein deutscher Science-Fiction-Film aus dem Jahr 1916, der | |
ursprünglich einmal zum Zweck der Kriegspropaganda produziert wurde. | |
Allerdings ist das gleichermaßen krude wie urkomische Werk nur | |
unvollständig überliefert, und gerade die politischen Abschnitte des Films | |
sind verschollen. Übrig bleiben drollig kostümierte, neugierige | |
Außerirdische, die in München landen und dort von der lokalen Bevölkerung | |
erst einmal mit Bier und Henderl versorgt werden. Ähnlich reich beschenkt | |
fühle ich mich Jahr für Jahr in Bologna, auf dem generösesten Filmfestival | |
der Welt. | |
7 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Lukas Foerster | |
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