| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Es ging nicht um Europa | |
| > Warum hat die Hälfte der BritInnen für den Austritt gestimmt? Die | |
| > Mischung aus Sparpolitik und Migration war toxisch, Ressentiments blühen. | |
| Bild: Fundstück in den Straßen Londons | |
| Die Frau am Fahrkartenschalter des kleinen Bahnhofs in Wales hatte es nicht | |
| eilig. Sie unterhielt sich angeregt mit einem Kollegen. Der sagte: „Man | |
| kann kein rosa Mädchenspielzeug mehr kaufen, das muss jetzt alles grau | |
| sein.“ Sie antwortete: „Das Wort ‚golliwog‘ darf man auch nicht mehr | |
| sagen.“ Golliwog bedeutet „Negerpuppe“. Beide Bahnangestellten befanden | |
| sich in Hörweite der Kunden, und beide trugen die Uniform ihres | |
| Unternehmens. | |
| Während der Brexit-Kampagne konnte man es überall hören, wenn man darauf | |
| achtete: Beiläufige rassistische Bemerkungen, kleine Revolten gegen die | |
| Political Correctness. Da ich selbst aus einer kleinen Arbeiterstadt | |
| stamme, wusste ich, was sie bedeuteten: Da begann eine Pseudorevolte der | |
| Unterklasse – gegen das Wertesystem einer progressiven gesellschaftlichen | |
| Elite und deren langfristiges Projekt: die Mitgliedschaft in der EU. | |
| In dem mitgehörten Gespräch und in Millionen anderen kam das Wort „Europa“ | |
| nicht unbedingt vor. Das Referendum war die Gelegenheit, es schließlich | |
| laut zu sagen: Wir haben die Schnauze voll – von der Trostlosigkeit, von | |
| heruntergekommenen Geschäftsstraßen ohne Geschäfte, von Minijobs mit | |
| Minilöhnen, von den Lügen und der Angstmache der politischen Klasse. Am | |
| Abend des 23. Juni haben 56 Prozent der Leute in diesem walisischen | |
| Städtchen für den Austritt aus der EU gestimmt. | |
| Man konnte es kommen sehen. In der alten Bergbauregion, die der Labour | |
| Party seit ihrer Gründung 1906 die Treue gehalten hatte, schaffte die | |
| United Kingdom Independence Party (Ukip) bei den Kommunalwahlen im Mai | |
| dieses Jahres den Durchbruch. Zwei Jahre zuvor war die Ukip bei der Wahl | |
| zum Europäischen Parlament in ganz Großbritannien auf 26 Prozent gekommen. | |
| Den stärksten Zulauf hatte sie in solchen Kleinstädten: grau in grau, | |
| Niedriglohnjobs und gerade so viele ausländische Migranten, dass alle | |
| dachten, was die Ökonomen bestätigten: dass die Einwanderung aus Osteuropa | |
| die Niedriglöhne weiter drückt. | |
| Diese seit Langem präsente Fremdenfeindlichkeit in den heruntergekommenen | |
| Labour-Hochburgen, verbunden mit dem traditionellen Nationalismus der | |
| Konservativen und der Vorstädte und ländlichen Regionen, ist die | |
| Vorgeschichte des Brexit. Auf allen Verteilungsgrafiken kann man es sehen: | |
| Die englischen Großstädte und ganz Schottland stimmten „Remain“. Die | |
| verarmten kleinen und mittleren Städte in England und Wales stimmten | |
| „Leave“. So brachte eine seit Langem brodelnde Revolte ein historisches | |
| Ereignis hervor. Warum es so kam, hat drei wesentliche Gründe. | |
| ## Neoliberalismus am Ende | |
| Grund eins: Der Neoliberalismus ist am Ende. Großbritannien war sein | |
| Versuchskaninchen. In den 1980er Jahren setzte Margaret Thatcher | |
| prozyklische Maßnahmen ein, um eine Rezession im industriellen und sozialen | |
| Kollaps enden zu lassen. Ziel war es, den Zusammenhalt und die | |
| gesellschaftliche Macht der Labour Party zu brechen und damit, auf | |
| Jahrzehnte hinaus, ihre Macht, höhere Löhne durchzusetzen. Zwischen 1990 | |
| und 2008 wurde die Lücke zwischen stagnierenden Löhnen und wirtschaftlichem | |
| Wachstum – wie in allen Industrieländern – durch Kredite überbrückt. | |
| In der Ära Tony Blair und „New Labour“ herrschte die Illusion, der Reichtum | |
| würde irgendwie von den kapitalstarken globalisierten städtischen Zentren | |
| nach unten durchsickern. Als der Trickle-down-Effekt sich nicht einstellte, | |
| erhöhte Blairs Finanzminister Gordon Brown die Sozialausgaben zugunsten der | |
| arbeitenden Bevölkerung. Als dann noch die öffentlichen Dienstleistungen – | |
| bis hin zur Müllabfuhr – en gros privatisiert wurden, war die Illusion | |
| perfekt. | |
| Kurz vor dem Crash von 2008 konnte man das Ergebnis in einer walisischen | |
| Kleinstadt besichtigen: eine ihrer produzierenden Privatunternehmen | |
| beraubte Wirtschaft, keine Jobs, Kriminalität und Armutskrankheiten auf dem | |
| Vormarsch, aber mit einem blühenden privaten Dienstleistungssektor, der aus | |
| Steuergeldern finanziert und mit Billigarbeitskräften betrieben wurde. Eine | |
| Stadt, die sich nur über Wasser hielt, weil der Staat Löhne aufstockte und | |
| Kindergärten, psychiatrische Dienste und die Polizei finanzierte. | |
| Es folgten der Crash, eine Tory-Regierung und die Sparpolitik. Die | |
| Austerität brachte eine Kürzung der Sozialleistungen und der Gehälter im | |
| öffentlichen Sektor; die Kreditkrise erdrückte die kleinen Läden, mit denen | |
| die Leute aufgewachsen waren und die nun leer standen oder den | |
| allgegenwärtigen Symbolen verarmter Städte weichen mussten: Poundland, wo | |
| alles nur ein Pfund kostet; Cash Converters, wo man die letzten Wertsachen | |
| für ein bisschen Bares verpfänden kann; und Citizens Advice Bureau, wo man | |
| sich für eine Gratisberatung bei Schulden, drohender Räumung oder | |
| Selbstmordgedanken anstellen kann. | |
| Es ist nicht überall so. London, Manchester, Bristol und Leeds sind zu | |
| globalisierten, auf den ersten Blick auch prosperierenden Zentren geworden. | |
| Aber auch in den großen Städten entstand ganz unten ein ökonomisches | |
| Modell, das so funktioniert: Die Frau arbeitet für einen miesen Lohn bei | |
| Zara und kauft ihr Mittagssandwich bei Subway; der Mann arbeitet für einen | |
| miesen Lohn bei Subway und kauft sein Hemd bei Zara. Für beide ist das | |
| Problem weniger das Einkommen als die Miete. Angeheizt durch 375 | |
| Milliarden Pfund, die das Quantitative-Easing-Programm der Bank of | |
| England in die Wirtschaft gepumpt hat, sind die Immobilienpreise und Mieten | |
| so in die Höhe geschossen, dass viele junge Leute, die einen Job in London | |
| haben, zu zweit in einem Zimmer schlafen. Die ehemalige Studenten-WG, in | |
| der jede/r ein Zimmer bewohnt, ist heute eine Anwalts-WG. | |
| Die Krise des Neoliberalismus zerstörte die Perspektiven der jungen Leute | |
| und trieb sie in die Verschuldung. Aber das hat mit dem Brexit-Ergebnis | |
| nicht direkt zu tun. Die Revolte gegen die EU fand da statt, wo die | |
| palliativen Angebote des Neoliberalismus – die üppige Glitzerwelt der | |
| multikulturellen Metropolen – gar nicht existieren. | |
| ## Toxische Mischung aus Einwanderung und Sparpolitik | |
| Der zweite Grund ist die Migrantenfrage. Als die EU 2004 acht | |
| osteuropäische Staaten aufnahm, für die das Prinzip der | |
| Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten sollte, verzichtete die Regierung Blair – | |
| als einzige neben Irland und Schweden – auf die Möglichkeit, dieses Recht | |
| für eine Übergangszeit einzuschränken oder ganz zu suspendieren. [1][Ein | |
| Bericht des Innenministeriums schätzte, dass etwa 13 000 Migranten kommen | |
| würden]. Heute leben in Großbritannien 3 Millionen Menschen aus anderen | |
| EU-Ländern, 2 Millionen haben einen Job. Zusammen mit den Zuwanderern aus | |
| Nicht-EU-Ländern stellen sie fast 17 Prozent der britischen Beschäftigten. | |
| Viele arbeiten im öffentlichen Dienst – davon 55 000 aus der EU Stammende | |
| im staatlichen Gesundheitssystem NHS –, die Mehrheit aber ist im | |
| niedrigsten Lohnsegment des Privatsektors beschäftigt. Die Belegschaften | |
| von Abfüll- und Verpackungsfabriken bestehen zu 43 Prozent aus Migranten, | |
| in der Fertigungsindustrie sind es 33 Prozent. Ein Getränkehersteller in | |
| London hat seine ganze Belegschaft in Litauen angeheuert. | |
| Die politische Klasse hat die sozialen Auswirkungen der hohen Zuwanderung | |
| theoretisch begriffen, aber nie selbst gespürt. Der Mythos, wonach | |
| einheimische Arbeiter für diese Jobs „zu dumm“ oder sowieso „arbeitssche… | |
| seien, passte zum neoliberalen Diskurs. Die Vorstellung, das Problem seien | |
| eher die jämmerlichen Löhne oder die Sonderabgaben für Beschäftigte, die | |
| die Reallöhne unter das Niveau der Mindestlöhne drücken, passte weniger. | |
| Kein Wort auch über den üblen Brauch, ganze Belegschaften aus Osteuropa | |
| anzuheuern, ohne lokalen Arbeitskräfte in Betracht zu ziehen. | |
| Die plötzliche Ausbreitung von polnischen Läden und portugiesischen Cafés | |
| in britischen Kleinstädten hielten die Großstadteliten vielleicht für | |
| etwas, das dem eintönigen Alltag der Bewohner etwas magischen Glitzerstaub | |
| der Globalisierung hinzufügte. Als journalistischer Beobachter nahm ich in | |
| diesen Städten aber vor allem eines wahr: Ressentiment. | |
| Endgültig toxisch wurde diese Mischung mit der Sparpolitik. Wenn du | |
| Kinderarzt bist und jede zweite Mutter in deiner Praxis Portugiesin ist, | |
| liegt es nahe, eine Portugiesisch sprechende Arzthelferin einzustellen. | |
| Wenn Personalabbau die öffentlichen Dienstleistungen einschränkt, drängt | |
| sich die Frage auf, ob der Stress geringer würde, wenn es weniger | |
| Immigranten gäbe. Wer so fragte, wurde als fremdenfeindlich abgestempelt. | |
| In seiner Referendumskampagne versprach Cameron, man werde die Einwanderung | |
| auf „Zehntausende“ senken. 2015 kletterte die Nettozahl auf 333 000. Die | |
| [2][Hälfte der Einwanderer kam aus der EU, die andere Hälfte über ein | |
| Zulassungssystem], das auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnitten | |
| ist. | |
| Die Brexit-Bewegung machte die Zahl zur Ikone. Sie stand für die Aussicht, | |
| dass künftig alle drei Jahre 1 Million EU-Einwanderer ankommen könnten, | |
| dass der Lohn für die schlechtesten Jobs nicht steigen und dass nicht | |
| einmal die konservative Regierung etwas dagegen tun würde. Als diese | |
| aufgefordert wurde, kleinste Maßnahmen zur Entmutigung von EU-Migranten zu | |
| beschließen, war die Antwort nein. Cameron kam es nicht mal in den Sinn, | |
| bei seinen Brüsseler Verhandlungen im Februar 2016 substanzielle Änderungen | |
| bei den Freizügigkeitsregeln zu verlangen. So wurde der Boden bereitet für | |
| eine Kampagne, in der Themen wie wirtschaftliche Entwurzelung und Armut nur | |
| im Hinblick auf die Migrantenfrage eine Rolle spielten. | |
| Die Boulevardblätter verballerten tagtäglich ihre bösartige, kaum verhüllte | |
| rassistische Propaganda. In den Großstädten, wo die Jungen ihre | |
| Informationen von BuzzFeed beziehen und die Alten von öffentlichen | |
| kontrollierten Sendern, bekamen nur wenige mit, wie giftig die Revolte | |
| gegen die Einwanderung geworden war. | |
| ## Verlorener Kampf der Narrative | |
| Der dritte Grund: Der Kampf der Narrative ging verloren. Cameron musste | |
| gleich zu Beginn der Kampagne die Spaltung seiner Partei hinnehmen, dafür | |
| nutzte er die Regierungsmaschinerie, um die Remain-Kampagne mit | |
| Statistiken, Berichten und Impulsen zu versorgen. | |
| Labour hatte zwar eine offizielle Linie – für Remain –, aber eine Führung, | |
| in der linke Europaskeptiker dominierten. Die schluckten zwar ihre | |
| Prinzipien herunter und traten für den Verbleib in der EU ein, wollten | |
| aber nicht bei der parteiübergreifenden Kampagne „Better In“ mitmachen, | |
| sondern zogen ihren eigenen „Remain and Reform“-Wahlkampf auf. | |
| Inzwischen konzentrierte sich die „Leave“-Kampagne der ultrarechten | |
| Europaskeptiker von Ukip und des rechten Flügels der Konservativen | |
| skrupellos auf das Thema Migranten. | |
| Eine Zeit lang war das Remain-Lager im Aufwind. Hunderte Unternehmer, | |
| Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle erklärten sich für die EU | |
| und warnten vor einem ökonomischen Chaos im Fall des Brexit. Aber drei | |
| Wochen vor der Abstimmung verlor die Remain-Kampagne – von ihren Gegnern | |
| als „Operation Angst“ bezeichnet – allen Schwung. Nachdem Finanzminister | |
| Osborne für den Fall des Brexit einen Kamikazesparhaushalt versprochen | |
| hatte, Donald Tusk vor dem Zusammenbruch der westlichen Zivilisation | |
| gewarnt hatte und auch noch Obama an- und wieder abgereist war, war die | |
| Munition verschossen. Die Remain-Kampagne hatte „den Hai hinter sich“, wie | |
| man in Hollywood sagt, ihren Zenit überschritten. | |
| Als Labour-Aktivisten in den letzten drei Wochen vor dem 23. Juni ans | |
| Klinkenputzen gingen, hatten sie alle das gleiche, schreckliche Erlebnis: | |
| Nicht nur Ukip-Anhänger und Rassisten sagten ihnen „Fuck off“ ins Gesicht, | |
| sondern auch viele Labour-Wähler. Und immer ging es um Migration. Die | |
| britische Provinz übermittelte der städtischen Elite die Botschaft, dass | |
| sie das neoliberale Elend satthatte. | |
| Als Labour in den letzten Wochen der Kampagne andeutete, man könne die | |
| EU-Regeln zur Freizügigkeit neu aushandeln, hörte kaum noch jemand hin. Und | |
| der Labour-Chef ließ sich nicht dazu zu bewegen, etwas zu versprechen. | |
| Außerdem stellte EU-Kommissionspräsident Juncker klar, so etwas könne es | |
| nicht geben. | |
| Obwohl die Anti-Migranten-Rhetorik nach der Ermordung von Jo Cox | |
| vorübergehend verstummt war, blieb die Botschaft deutlich: Leave Europe | |
| bedeutet, die Kontrolle über die Migration zu gewinnen; Remain dagegen | |
| unbegrenzte Einwanderung, sinkende Löhne und kulturelle Spannungen. | |
| Die politische Elite, einschließlich der Labour-Linken, ging davon aus, | |
| dass mit dieser Brexit-Botschaft keine 45 Prozent der Wähler zu gewinnen | |
| waren. Am Ende waren es 52 Prozent, auch weil [3][33 Prozent der | |
| asiatischen und 27 Prozent der schwarzen Wähler für den EU-Austritt | |
| gestimmt hatten]. | |
| ## Blamable Wahlbeteiligung bei Remainern | |
| Bei den jungen Wählern war die Unterstützung für Europa mit 75 Prozent zwar | |
| sehr stark, die Beteiligung aber blamabel niedrig: Während 75 Prozent der | |
| älteren Wähler ihre Stimme abgaben, war es bei den unter 24-Jährigen nicht | |
| einmal die Hälfte. | |
| Letzten Endes war das Gesamtergebnis eine Illustration des Begriffs | |
| „ideologische Hegemonie“. In den letzten Wochen der Kampagne – als 24 | |
| Prozent der Wähler noch unentschieden waren – reiste ich viel herum und | |
| erlebte vielerorts, wie Leute aus der Arbeiterklasse selbstbewusst und | |
| intelligent für den Brexit plädierten. Mein Eindruck ist, dass die | |
| entscheidenden Prozente der Leave-Stimmen von links orientierten Arbeitern | |
| oder Angestellten kamen, die sich schließlich ihrer Umgebung anschlossen. | |
| Nach diesem Schock für das bürgerliche Establishment basteln die Tories nun | |
| verzweifelt an einer kohärenten Strategie. Wahrscheinlich werden sie sich | |
| darauf einigen, innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu | |
| verbleiben, also in der gemeinsamen Freihandelszone von EU und | |
| Europäischer Freihandelsassoziation (Efta). So müsste man die | |
| Handelsbeziehungen mit der EU nicht völlig neu aushandeln. Allerdings | |
| müsste man damit alle künftigen Regeländerungen der EU übernehmen, ohne | |
| darüber mitreden zu können. Und man müsste auch das Prinzip der | |
| Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren – wenn auch mit dem Recht, es im | |
| Notfall zeitweise außer Kraft zu setzen. | |
| Die Leave-Kampagne lehnte die EWR-Option wegen des Freizügigkeitsprinzips | |
| ab. Aber selbst wenn Großbritannien im EWR bleiben sollte, wäre die | |
| zentrale Voraussetzung der Politik der linken Mitte seit den frühen 1970er | |
| Jahren – EU-Mitgliedschaft, Sozialcharta, eine immer engere Union – nicht | |
| mehr gegeben. Die Labour-Partei muss sich entgegen dieser neuen Realität | |
| definieren – und es ist eine ungewisse Realität. Keine relevante Fraktion | |
| der Finanzwelt will ökonomischen Nationalismus. Die Leave-Kräfte der Eliten | |
| reden sich sogar ein, Großbritannien könnte zu einer ultraglobalen | |
| Wirtschaftsmacht werden – eine Art großes Singapur, das zwischen den großen | |
| Handelsblöcken manövriert. | |
| ## UK wird auseinanderbrechen | |
| Das wird schiefgehen. Und wahrscheinlich wird sogar der Brexit selbst | |
| schiefgehen. Er wird nicht weniger Inflation und die versprochenen höheren | |
| Löhne bringen, das Finanzkapital wird offshore gehen, und die paar | |
| Investitionen in die britische Industrie werden in die europäischen | |
| Kerngebiete zurückfließen. Das alles wird die langfristigen | |
| Wachstumsperspektiven drücken. Damit könnten auch die Verschuldung und die | |
| Handelsbilanzdefizite so bedrohlich anwachsen, dass sie eine veritable | |
| Kapitalflucht auslösen. | |
| Zusätzlich droht auch die politische Lähmung. Beide traditionelle | |
| politische Lager – der liberale Konservatismus und Labour – waren | |
| historisch auf das Projekt EU fokussiert. Für beide lautet die | |
| entscheidende Frage, was passiert, wenn der Brexit nicht bringt, was seine | |
| Anhänger erhoffen. Die nationalistischen und fremdenfeindlichen Kräfte | |
| sind durch ihren Sieg ja keinesfalls besänftigt. Seit dem 23. Juni häufen | |
| sich die Übergriffe gegen die Lieblingsfeindgruppen der Rechten – Polen und | |
| Muslime. Doch das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was wir erleben werden, | |
| wenn die Wirtschaft in die Rezession abrutscht. | |
| Mittlerweile gibt es eine gewisse Hysterie in der Mittelschicht: Petitionen | |
| für ein zweites Referendum; Appelle an das Parlament, das Ergebnis zu | |
| sabotieren; Hasstiraden in den sozialen Medien gegen die „ungebildete“ | |
| weiße Arbeiterschicht; Hass auf die alte Generation bei den Jungen, von der | |
| sich die Hälfte nicht die Mühe machte, abzustimmen, obwohl das Ergebnis | |
| tiefgreifende Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben wird. | |
| Derweil ist Schottland auf dem Rückzug aus dem Vereinigten Königreich. Was | |
| bislang eine wahrscheinliche Perspektive innerhalb der nächsten zehn Jahre | |
| war, ist jetzt eine sichere Entwicklung von drei Jahren. Es wird ein | |
| zweites schottisches Referendum geben; und dann werden große Teile der | |
| Labour-Anhänger, die 2014 für Großbritannien gestimmt haben, die | |
| Unabhängigkeit wählen, damit Schottland in der EU bleibt. Das Vereinigte | |
| Königreich wird auseinanderbrechen. | |
| Wird es in nächster Zeit zu Wahlen kommen? Es ist keinesfalls sicher, dass | |
| der künftige Parteichef der Konservativen das Unterhaus auflösen wird. Aber | |
| es wird schwer sein, mit der EU ohne Wählerauftrag zu verhandeln. Wenn es | |
| zu Wahlen kommt, hat auch Labour ein Problem: Der neu aufgeflammte Streit | |
| der alten Blair-Fraktion mit der Gruppe um den Vorsitzenden Corbyn zeugt | |
| von der selbstzerstörerischen Kurzsichtigkeit einer ganzen politischen | |
| Generation. Angesichts der größten politischen Katastrophe ihres Lebens – | |
| und der Chance, das Land aus dieser Katastrophe herauszuführen – fällt den | |
| Labour-Abgeordneten nichts anderes ein, als sich gegenseitig zu bekämpfen. | |
| Wenn es zu einer Wahl kommt, sollte Labour ein Wahlbündnis mit der | |
| schottischen SNP, den walisischen Nationalisten der Plaid-Cymru-Partei und | |
| den Grünen eingehen, um zu verhindern, dass die Ukip eine starke | |
| parlamentarische Bastion aufbaut und dass erneut eine konservative | |
| Regierung zustande kommt. | |
| Der Preis für ein solches Wahlbündnis wird eine Verfassungsreform sein | |
| müssen: die Einführung des Verhältniswahlrechts und ein Plan, der es | |
| Schottland gestattet, das Vereinigte Königreich zu verlassen, ohne | |
| ökonomisch erpresst zu werden, wie es die konservative Regierung und die | |
| Bank of England 2014 angedroht hatten. Diese Drohung wirkt nunmehr – unter | |
| Brexit-Bedingungen – genau umgekehrt: Wenn Schottland unabhängig wird, kann | |
| es als Außenposten der EU auf der britischen Hauptinsel mit ausländischen | |
| Investitionen sowohl im Finanzsektor als auch in der Industrie rechnen. | |
| Derzeit fühlt es sich an, als sei das gesamte politische System und die | |
| Gesellschaft Großbritanniens zweigeteilt: Symbolisiert wird die eine Hälfte | |
| vom „white van man“, dem Handwerker mit geringem Bildungsgrad, der die | |
| Nationalfahne am Fenster seines Lieferwagens hängen hat; die andere | |
| Hälfte vom bärtigen Hipster, dessen Trips zur Vernissage nach Berlin und | |
| zum Feiern nach Ibiza künftig infrage stehen und der seine kulturelle | |
| Überlegenheit als progressiver Mensch und Antirassist, von der er stets | |
| ausgegangen ist, jetzt bedroht sieht. | |
| Für Labour bestand das strategische Problem bisher darin, diese beiden | |
| soziologischen Stämme, verteilt auf vier Nationalitäten, irgendwie | |
| zusammenzuhalten. Heute geht es darum, wie man die Werte von sozialer | |
| Gerechtigkeit und Demokratie einer Bevölkerung nahebringen kann, die sich | |
| in großer Ungewissheit bewegt. | |
| ## Schritt ins Dunkle | |
| Großbritannien hat sich schon einmal aus der Weltordnung verabschiedet – | |
| 1931, als es den Goldstandard aufgab und den Zusammenbruch der eigenen | |
| Wirtschaft herbeiführte. Aber damals war die britische Gesellschaft noch | |
| vereint, und der Konflikt zwischen rechts und links, zwischen Arbeiter und | |
| Boss wurde innerhalb einer gemeinsamen kulturellen Tradition ausgetragen | |
| und dadurch begrenzt. | |
| Aber heute steht die ganze Gesellschaft vor einem Schritt ins Dunkle. Einen | |
| ökonomischen Entwurf für ein Großbritannien jenseits der EU gibt es nicht – | |
| wohl aber die hohe Wahrscheinlichkeit einer Rezession; sozial ist das Land | |
| so im tiefsten Innern gespalten, dass es sich wie ein Kulturkampf anfühlt; | |
| und mit Schottland auf dem Absprung geht das Vereinigte Königreich seiner | |
| Auflösung entgegen. | |
| Das älteste kapitalistische Gemeinwesen der Welt wird in zwei Teile | |
| zerbrechen. Sein kulturelles Narrativ ist bereits zersplittert. Das ist das | |
| Werk von David Cameron – unter Mithilfe einer Labour-Partei, die Krieg mit | |
| sich selbst führt. Und einer jungen Generation, die sich so weit aus der | |
| Politik verabschiedet hat, dass sie in diesem historischen Augenblick zur | |
| Hälfte auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat. | |
| Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
| 16 Jul 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://news.bbc.co.uk/1/hi/uk_politics/2967318.stm. | |
| [2] http://visual.ons.gov.uk/uk-perspectives-2016-international-migration-to-an… | |
| [3] http://lordashcroftpolls.com/wp-content/uploads/2016/06/How-the-UK-voted-Fu… | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Mason | |
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