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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Es ging nicht um Europa
> Warum hat die Hälfte der BritInnen für den Austritt gestimmt? Die
> Mischung aus Sparpolitik und Migration war toxisch, Ressentiments blühen.
Bild: Fundstück in den Straßen Londons
Die Frau am Fahrkartenschalter des kleinen Bahnhofs in Wales hatte es nicht
eilig. Sie unterhielt sich angeregt mit einem Kollegen. Der sagte: „Man
kann kein rosa Mädchenspielzeug mehr kaufen, das muss jetzt alles grau
sein.“ Sie antwortete: „Das Wort ‚golliwog‘ darf man auch nicht mehr
sagen.“ Golliwog bedeutet „Negerpuppe“. Beide Bahnangestellten befanden
sich in Hörweite der Kunden, und beide trugen die Uniform ihres
Unternehmens.
Während der Brexit-Kampagne konnte man es überall hören, wenn man darauf
achtete: Beiläufige rassistische Bemerkungen, kleine Revolten gegen die
Political Correctness. Da ich selbst aus einer kleinen Arbeiterstadt
stamme, wusste ich, was sie bedeuteten: Da begann eine Pseudorevolte der
Unterklasse – gegen das Wertesystem einer progressiven gesellschaftlichen
Elite und deren langfristiges Projekt: die Mitgliedschaft in der EU.
In dem mitgehörten Gespräch und in Millionen anderen kam das Wort „Europa“
nicht unbedingt vor. Das Referendum war die Gelegenheit, es schließlich
laut zu sagen: Wir haben die Schnauze voll – von der Trostlosigkeit, von
heruntergekommenen Geschäftsstraßen ohne Geschäfte, von Minijobs mit
Minilöhnen, von den Lügen und der Angstmache der politischen Klasse. Am
Abend des 23. Juni haben 56 Prozent der Leute in diesem walisischen
Städtchen für den Austritt aus der EU gestimmt.
Man konnte es kommen sehen. In der alten Bergbauregion, die der Labour
Party seit ihrer Gründung 1906 die Treue gehalten hatte, schaffte die
United Kingdom Independence Party (Ukip) bei den Kommunalwahlen im Mai
dieses Jahres den Durchbruch. Zwei Jahre zuvor war die Ukip bei der Wahl
zum Europäischen Parlament in ganz Großbritannien auf 26 Prozent gekommen.
Den stärksten Zulauf hatte sie in solchen Kleinstädten: grau in grau,
Niedriglohnjobs und gerade so viele ausländische Migranten, dass alle
dachten, was die Ökonomen bestätigten: dass die Einwanderung aus Osteuropa
die Niedriglöhne weiter drückt.
Diese seit Langem präsente Fremdenfeindlichkeit in den heruntergekommenen
Labour-Hochburgen, verbunden mit dem traditionellen Nationalismus der
Konservativen und der Vorstädte und ländlichen Regionen, ist die
Vorgeschichte des Brexit. Auf allen Verteilungsgrafiken kann man es sehen:
Die englischen Großstädte und ganz Schottland stimmten „Remain“. Die
verarmten kleinen und mittleren Städte in England und Wales stimmten
„Leave“. So brachte eine seit Langem brodelnde Revolte ein historisches
Ereignis hervor. Warum es so kam, hat drei wesentliche Gründe.
## Neoliberalismus am Ende
Grund eins: Der Neoliberalismus ist am Ende. Großbritannien war sein
Versuchskaninchen. In den 1980er Jahren setzte Margaret Thatcher
prozyklische Maßnahmen ein, um eine Rezession im industriellen und sozialen
Kollaps enden zu lassen. Ziel war es, den Zusammenhalt und die
gesellschaftliche Macht der Labour Party zu brechen und damit, auf
Jahrzehnte hinaus, ihre Macht, höhere Löhne durchzusetzen. Zwischen 1990
und 2008 wurde die Lücke zwischen stagnierenden Löhnen und wirtschaftlichem
Wachstum – wie in allen Industrieländern – durch Kredite überbrückt.
In der Ära Tony Blair und „New Labour“ herrschte die Illusion, der Reichtum
würde irgendwie von den kapitalstarken globalisierten städtischen Zentren
nach unten durchsickern. Als der Trickle-down-Effekt sich nicht einstellte,
erhöhte Blairs Finanzminister Gordon Brown die Sozialausgaben zugunsten der
arbeitenden Bevölkerung. Als dann noch die öffentlichen Dienstleistungen –
bis hin zur Müllabfuhr – en gros privatisiert wurden, war die Illusion
perfekt.
Kurz vor dem Crash von 2008 konnte man das Ergebnis in einer walisischen
Kleinstadt besichtigen: eine ihrer produzierenden Privatunternehmen
beraubte Wirtschaft, keine Jobs, Kriminalität und Armutskrankheiten auf dem
Vormarsch, aber mit einem blühenden privaten Dienstleistungssektor, der aus
Steuergeldern finanziert und mit Billigarbeitskräften betrieben wurde. Eine
Stadt, die sich nur über Wasser hielt, weil der Staat Löhne aufstockte und
Kindergärten, psychiatrische Dienste und die Polizei finanzierte.
Es folgten der Crash, eine Tory-Regierung und die Sparpolitik. Die
Austerität brachte eine Kürzung der Sozialleistungen und der Gehälter im
öffentlichen Sektor; die Kreditkrise erdrückte die kleinen Läden, mit denen
die Leute aufgewachsen waren und die nun leer standen oder den
allgegenwärtigen Symbolen verarmter Städte weichen mussten: Poundland, wo
alles nur ein Pfund kostet; Cash Converters, wo man die letzten Wertsachen
für ein bisschen Bares verpfänden kann; und Citizens Advice Bureau, wo man
sich für eine Gratisberatung bei Schulden, drohender Räumung oder
Selbstmordgedanken anstellen kann.
Es ist nicht überall so. London, Manchester, Bristol und Leeds sind zu
globalisierten, auf den ersten Blick auch prosperierenden Zentren geworden.
Aber auch in den großen Städten entstand ganz unten ein ökonomisches
Modell, das so funktioniert: Die Frau arbeitet für einen miesen Lohn bei
Zara und kauft ihr Mittagssandwich bei Subway; der Mann arbeitet für einen
miesen Lohn bei Subway und kauft sein Hemd bei Zara. Für beide ist das
Problem weniger das Einkommen als die Miete. Angeheizt durch 375
Milliarden Pfund, die das Quantitative-Easing-Programm der Bank of
England in die Wirtschaft gepumpt hat, sind die Immobilienpreise und Mieten
so in die Höhe geschossen, dass viele junge Leute, die einen Job in London
haben, zu zweit in einem Zimmer schlafen. Die ehemalige Studenten-WG, in
der jede/r ein Zimmer bewohnt, ist heute eine Anwalts-WG.
Die Krise des Neoliberalismus zerstörte die Perspektiven der jungen Leute
und trieb sie in die Verschuldung. Aber das hat mit dem Brexit-Ergebnis
nicht direkt zu tun. Die Revolte gegen die EU fand da statt, wo die
palliativen Angebote des Neoliberalismus – die üppige Glitzerwelt der
multikulturellen Metropolen – gar nicht existieren.
## Toxische Mischung aus Einwanderung und Sparpolitik
Der zweite Grund ist die Migrantenfrage. Als die EU 2004 acht
osteuropäische Staaten aufnahm, für die das Prinzip der
Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten sollte, verzichtete die Regierung Blair –
als einzige neben Irland und Schweden – auf die Möglichkeit, dieses Recht
für eine Übergangszeit einzuschränken oder ganz zu suspendieren. [1][Ein
Bericht des Innenministeriums schätzte, dass etwa 13 000 Migranten kommen
würden]. Heute leben in Großbritannien 3 Millionen Menschen aus anderen
EU-Ländern, 2 Millionen haben einen Job. Zusammen mit den Zuwanderern aus
Nicht-EU-Ländern stellen sie fast 17 Prozent der britischen Beschäftigten.
Viele arbeiten im öffentlichen Dienst – davon 55 000 aus der EU Stammende
im staatlichen Gesundheitssystem NHS –, die Mehrheit aber ist im
niedrigsten Lohnsegment des Privatsektors beschäftigt. Die Belegschaften
von Abfüll- und Verpackungsfabriken bestehen zu 43 Prozent aus Migranten,
in der Fertigungsindustrie sind es 33 Prozent. Ein Getränkehersteller in
London hat seine ganze Belegschaft in Litauen angeheuert.
Die politische Klasse hat die sozialen Auswirkungen der hohen Zuwanderung
theoretisch begriffen, aber nie selbst gespürt. Der Mythos, wonach
einheimische Arbeiter für diese Jobs „zu dumm“ oder sowieso „arbeitssche…
seien, passte zum neoliberalen Diskurs. Die Vorstellung, das Problem seien
eher die jämmerlichen Löhne oder die Sonderabgaben für Beschäftigte, die
die Reallöhne unter das Niveau der Mindestlöhne drücken, passte weniger.
Kein Wort auch über den üblen Brauch, ganze Belegschaften aus Osteuropa
anzuheuern, ohne lokalen Arbeitskräfte in Betracht zu ziehen.
Die plötzliche Ausbreitung von polnischen Läden und portugiesischen Cafés
in britischen Kleinstädten hielten die Großstadteliten vielleicht für
etwas, das dem eintönigen Alltag der Bewohner etwas magischen Glitzerstaub
der Globalisierung hinzufügte. Als journalistischer Beobachter nahm ich in
diesen Städten aber vor allem eines wahr: Ressentiment.
Endgültig toxisch wurde diese Mischung mit der Sparpolitik. Wenn du
Kinderarzt bist und jede zweite Mutter in deiner Praxis Portugiesin ist,
liegt es nahe, eine Portugiesisch sprechende Arzthelferin einzustellen.
Wenn Personalabbau die öffentlichen Dienstleistungen einschränkt, drängt
sich die Frage auf, ob der Stress geringer würde, wenn es weniger
Immigranten gäbe. Wer so fragte, wurde als fremdenfeindlich abgestempelt.
In seiner Referendumskampagne versprach Cameron, man werde die Einwanderung
auf „Zehntausende“ senken. 2015 kletterte die Nettozahl auf 333 000. Die
[2][Hälfte der Einwanderer kam aus der EU, die andere Hälfte über ein
Zulassungssystem], das auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnitten
ist.
Die Brexit-Bewegung machte die Zahl zur Ikone. Sie stand für die Aussicht,
dass künftig alle drei Jahre 1 Million EU-Einwanderer ankommen könnten,
dass der Lohn für die schlechtesten Jobs nicht steigen und dass nicht
einmal die konservative Regierung etwas dagegen tun würde. Als diese
aufgefordert wurde, kleinste Maßnahmen zur Entmutigung von EU-Migranten zu
beschließen, war die Antwort nein. Cameron kam es nicht mal in den Sinn,
bei seinen Brüsseler Verhandlungen im Februar 2016 substanzielle Änderungen
bei den Freizügigkeitsregeln zu verlangen. So wurde der Boden bereitet für
eine Kampagne, in der Themen wie wirtschaftliche Entwurzelung und Armut nur
im Hinblick auf die Migrantenfrage eine Rolle spielten.
Die Boulevardblätter verballerten tagtäglich ihre bösartige, kaum verhüllte
rassistische Propaganda. In den Großstädten, wo die Jungen ihre
Informationen von BuzzFeed beziehen und die Alten von öffentlichen
kontrollierten Sendern, bekamen nur wenige mit, wie giftig die Revolte
gegen die Einwanderung geworden war.
## Verlorener Kampf der Narrative
Der dritte Grund: Der Kampf der Narrative ging verloren. Cameron musste
gleich zu Beginn der Kampagne die Spaltung seiner Partei hinnehmen, dafür
nutzte er die Regierungsmaschinerie, um die Remain-Kampagne mit
Statistiken, Berichten und Impulsen zu versorgen.
Labour hatte zwar eine offizielle Linie – für Remain –, aber eine Führung,
in der linke Europaskeptiker dominierten. Die schluckten zwar ihre
Prinzipien herunter und traten für den Verbleib in der EU ein, wollten
aber nicht bei der parteiübergreifenden Kampagne „Better In“ mitmachen,
sondern zogen ihren eigenen „Remain and Reform“-Wahlkampf auf.
Inzwischen konzentrierte sich die „Leave“-Kampagne der ultrarechten
Europaskeptiker von Ukip und des rechten Flügels der Konservativen
skrupellos auf das Thema Migranten.
Eine Zeit lang war das Remain-Lager im Aufwind. Hunderte Unternehmer,
Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle erklärten sich für die EU
und warnten vor einem ökonomischen Chaos im Fall des Brexit. Aber drei
Wochen vor der Abstimmung verlor die Remain-Kampagne – von ihren Gegnern
als „Operation Angst“ bezeichnet – allen Schwung. Nachdem Finanzminister
Osborne für den Fall des Brexit einen Kamikazesparhaushalt versprochen
hatte, Donald Tusk vor dem Zusammenbruch der westlichen Zivilisation
gewarnt hatte und auch noch Obama an- und wieder abgereist war, war die
Munition verschossen. Die Remain-Kampagne hatte „den Hai hinter sich“, wie
man in Hollywood sagt, ihren Zenit überschritten.
Als Labour-Aktivisten in den letzten drei Wochen vor dem 23. Juni ans
Klinkenputzen gingen, hatten sie alle das gleiche, schreckliche Erlebnis:
Nicht nur Ukip-Anhänger und Rassisten sagten ihnen „Fuck off“ ins Gesicht,
sondern auch viele Labour-Wähler. Und immer ging es um Migration. Die
britische Provinz übermittelte der städtischen Elite die Botschaft, dass
sie das neoliberale Elend satthatte.
Als Labour in den letzten Wochen der Kampagne andeutete, man könne die
EU-Regeln zur Freizügigkeit neu aushandeln, hörte kaum noch jemand hin. Und
der Labour-Chef ließ sich nicht dazu zu bewegen, etwas zu versprechen.
Außerdem stellte EU-Kommissionspräsident Juncker klar, so etwas könne es
nicht geben.
Obwohl die Anti-Migranten-Rhetorik nach der Ermordung von Jo Cox
vorübergehend verstummt war, blieb die Botschaft deutlich: Leave Europe
bedeutet, die Kontrolle über die Migration zu gewinnen; Remain dagegen
unbegrenzte Einwanderung, sinkende Löhne und kulturelle Spannungen.
Die politische Elite, einschließlich der Labour-Linken, ging davon aus,
dass mit dieser Brexit-Botschaft keine 45 Prozent der Wähler zu gewinnen
waren. Am Ende waren es 52 Prozent, auch weil [3][33 Prozent der
asiatischen und 27 Prozent der schwarzen Wähler für den EU-Austritt
gestimmt hatten].
## Blamable Wahlbeteiligung bei Remainern
Bei den jungen Wählern war die Unterstützung für Europa mit 75 Prozent zwar
sehr stark, die Beteiligung aber blamabel niedrig: Während 75 Prozent der
älteren Wähler ihre Stimme abgaben, war es bei den unter 24-Jährigen nicht
einmal die Hälfte.
Letzten Endes war das Gesamtergebnis eine Illustration des Begriffs
„ideologische Hegemonie“. In den letzten Wochen der Kampagne – als 24
Prozent der Wähler noch unentschieden waren – reiste ich viel herum und
erlebte vielerorts, wie Leute aus der Arbeiterklasse selbstbewusst und
intelligent für den Brexit plädierten. Mein Eindruck ist, dass die
entscheidenden Prozente der Leave-Stimmen von links orientierten Arbeitern
oder Angestellten kamen, die sich schließlich ihrer Umgebung anschlossen.
Nach diesem Schock für das bürgerliche Establishment basteln die Tories nun
verzweifelt an einer kohärenten Strategie. Wahrscheinlich werden sie sich
darauf einigen, innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu
verbleiben, also in der gemeinsamen Freihandelszone von EU und
Europäischer Freihandelsassoziation (Efta). So müsste man die
Handelsbeziehungen mit der EU nicht völlig neu aushandeln. Allerdings
müsste man damit alle künftigen Regeländerungen der EU übernehmen, ohne
darüber mitreden zu können. Und man müsste auch das Prinzip der
Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren – wenn auch mit dem Recht, es im
Notfall zeitweise außer Kraft zu setzen.
Die Leave-Kampagne lehnte die EWR-Option wegen des Freizügigkeitsprinzips
ab. Aber selbst wenn Großbritannien im EWR bleiben sollte, wäre die
zentrale Voraussetzung der Politik der linken Mitte seit den frühen 1970er
Jahren – EU-Mitgliedschaft, Sozialcharta, eine immer engere Union – nicht
mehr gegeben. Die Labour-Partei muss sich entgegen dieser neuen Realität
definieren – und es ist eine ungewisse Realität. Keine relevante Fraktion
der Finanzwelt will ökonomischen Nationalismus. Die Leave-Kräfte der Eliten
reden sich sogar ein, Großbritannien könnte zu einer ultraglobalen
Wirtschaftsmacht werden – eine Art großes Singapur, das zwischen den großen
Handelsblöcken manövriert.
## UK wird auseinanderbrechen
Das wird schiefgehen. Und wahrscheinlich wird sogar der Brexit selbst
schiefgehen. Er wird nicht weniger Inflation und die versprochenen höheren
Löhne bringen, das Finanzkapital wird offshore gehen, und die paar
Investitionen in die britische Industrie werden in die europäischen
Kerngebiete zurückfließen. Das alles wird die langfristigen
Wachstumsperspektiven drücken. Damit könnten auch die Verschuldung und die
Handelsbilanzdefizite so bedrohlich anwachsen, dass sie eine veritable
Kapitalflucht auslösen.
Zusätzlich droht auch die politische Lähmung. Beide traditionelle
politische Lager – der liberale Konservatismus und Labour – waren
historisch auf das Projekt EU fokussiert. Für beide lautet die
entscheidende Frage, was passiert, wenn der Brexit nicht bringt, was seine
Anhänger erhoffen. Die nationalistischen und fremdenfeindlichen Kräfte
sind durch ihren Sieg ja keinesfalls besänftigt. Seit dem 23. Juni häufen
sich die Übergriffe gegen die Lieblingsfeindgruppen der Rechten – Polen und
Muslime. Doch das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was wir erleben werden,
wenn die Wirtschaft in die Rezession abrutscht.
Mittlerweile gibt es eine gewisse Hysterie in der Mittelschicht: Petitionen
für ein zweites Referendum; Appelle an das Parlament, das Ergebnis zu
sabotieren; Hasstiraden in den sozialen Medien gegen die „ungebildete“
weiße Arbeiterschicht; Hass auf die alte Generation bei den Jungen, von der
sich die Hälfte nicht die Mühe machte, abzustimmen, obwohl das Ergebnis
tiefgreifende Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben wird.
Derweil ist Schottland auf dem Rückzug aus dem Vereinigten Königreich. Was
bislang eine wahrscheinliche Perspektive innerhalb der nächsten zehn Jahre
war, ist jetzt eine sichere Entwicklung von drei Jahren. Es wird ein
zweites schottisches Referendum geben; und dann werden große Teile der
Labour-Anhänger, die 2014 für Großbritannien gestimmt haben, die
Unabhängigkeit wählen, damit Schottland in der EU bleibt. Das Vereinigte
Königreich wird auseinanderbrechen.
Wird es in nächster Zeit zu Wahlen kommen? Es ist keinesfalls sicher, dass
der künftige Parteichef der Konservativen das Unterhaus auflösen wird. Aber
es wird schwer sein, mit der EU ohne Wählerauftrag zu verhandeln. Wenn es
zu Wahlen kommt, hat auch Labour ein Problem: Der neu aufgeflammte Streit
der alten Blair-Fraktion mit der Gruppe um den Vorsitzenden Corbyn zeugt
von der selbstzerstörerischen Kurzsichtigkeit einer ganzen politischen
Generation. Angesichts der größten politischen Katastrophe ihres Lebens –
und der Chance, das Land aus dieser Katastrophe herauszuführen – fällt den
Labour-Abgeordneten nichts anderes ein, als sich gegenseitig zu bekämpfen.
Wenn es zu einer Wahl kommt, sollte Labour ein Wahlbündnis mit der
schottischen SNP, den walisischen Nationalisten der Plaid-Cymru-Partei und
den Grünen eingehen, um zu verhindern, dass die Ukip eine starke
parlamentarische Bastion aufbaut und dass erneut eine konservative
Regierung zustande kommt.
Der Preis für ein solches Wahlbündnis wird eine Verfassungsreform sein
müssen: die Einführung des Verhältniswahlrechts und ein Plan, der es
Schottland gestattet, das Vereinigte Königreich zu verlassen, ohne
ökonomisch erpresst zu werden, wie es die konservative Regierung und die
Bank of England 2014 angedroht hatten. Diese Drohung wirkt nunmehr – unter
Brexit-Bedingungen – genau umgekehrt: Wenn Schottland unabhängig wird, kann
es als Außenposten der EU auf der britischen Hauptinsel mit ausländischen
Investitionen sowohl im Finanzsektor als auch in der Industrie rechnen.
Derzeit fühlt es sich an, als sei das gesamte politische System und die
Gesellschaft Großbritanniens zweigeteilt: Symbolisiert wird die eine Hälfte
vom „white van man“, dem Handwerker mit geringem Bildungsgrad, der die
Nationalfahne am Fenster seines Lieferwagens hängen hat; die andere
Hälfte vom bärtigen Hipster, dessen Trips zur Vernissage nach Berlin und
zum Feiern nach Ibiza künftig infrage stehen und der seine kulturelle
Überlegenheit als progressiver Mensch und Antirassist, von der er stets
ausgegangen ist, jetzt bedroht sieht.
Für Labour bestand das strategische Problem bisher darin, diese beiden
soziologischen Stämme, verteilt auf vier Nationalitäten, irgendwie
zusammenzuhalten. Heute geht es darum, wie man die Werte von sozialer
Gerechtigkeit und Demokratie einer Bevölkerung nahebringen kann, die sich
in großer Ungewissheit bewegt.
## Schritt ins Dunkle
Großbritannien hat sich schon einmal aus der Weltordnung verabschiedet –
1931, als es den Goldstandard aufgab und den Zusammenbruch der eigenen
Wirtschaft herbeiführte. Aber damals war die britische Gesellschaft noch
vereint, und der Konflikt zwischen rechts und links, zwischen Arbeiter und
Boss wurde innerhalb einer gemeinsamen kulturellen Tradition ausgetragen
und dadurch begrenzt.
Aber heute steht die ganze Gesellschaft vor einem Schritt ins Dunkle. Einen
ökonomischen Entwurf für ein Großbritannien jenseits der EU gibt es nicht –
wohl aber die hohe Wahrscheinlichkeit einer Rezession; sozial ist das Land
so im tiefsten Innern gespalten, dass es sich wie ein Kulturkampf anfühlt;
und mit Schottland auf dem Absprung geht das Vereinigte Königreich seiner
Auflösung entgegen.
Das älteste kapitalistische Gemeinwesen der Welt wird in zwei Teile
zerbrechen. Sein kulturelles Narrativ ist bereits zersplittert. Das ist das
Werk von David Cameron – unter Mithilfe einer Labour-Partei, die Krieg mit
sich selbst führt. Und einer jungen Generation, die sich so weit aus der
Politik verabschiedet hat, dass sie in diesem historischen Augenblick zur
Hälfte auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
16 Jul 2016
## LINKS
[1] http://news.bbc.co.uk/1/hi/uk_politics/2967318.stm.
[2] http://visual.ons.gov.uk/uk-perspectives-2016-international-migration-to-an…
[3] http://lordashcroftpolls.com/wp-content/uploads/2016/06/How-the-UK-voted-Fu…
## AUTOREN
Paul Mason
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