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# taz.de -- Kampfabstimmung in der Labour-Partei: Dem Alten noch immer treu
> Londons Bezirk Islington steht für die soziale Spaltung Großbritanniens.
> Wer die Arbeiterpartei künftig führt, entscheidet sich auch hier.
Bild: In Islington ist der Auftritt von Jeremy Corbyn fast ein Heimspiel
London taz | Niemand kennt Jeremy Corbyn, den umstrittenen Führer der
britischen Labour-Opposition, besser als seine Wähler im Londoner
Innenstadtbezirk Islington. Seit 1983 ist Corbyn ununterbrochen der
Wahlkreisabgeordnete für Islington North; 2005 fand er in Islington South
mit Genossin Emily Thornberry eine enge Vertraute. Seit Corbyn als
Vertreter des linken Labour-Flügels im Herbst 2015 die Parteiführung
gewann, ist Thornberry in seinem Schattenkabinett, derzeit zuständig für
Außenpolitik und EU-Austritt.
221.000 Menschen leben in den beiden Teilen Islingtons, davon 44 Prozent in
Sozial- und Mietwohnungen, weit mehr als der Londoner Durchschnitt von 26
Prozent. Ein Bericht aus dem Jahr 2008 besagte, dass von den 40.000 Kindern
und Jugendlichen in Islington fast die Hälfte in Armut lebte.
Mittlerweile sind sie umringt von unglaublichem Reichtum in einem
ultragentrifizierten Stadtteil, wo ein winziges Studioapartment an die eine
Millionen Pfund kosten kann. Kaum irgendwo ist Großbritanniens soziale
Spaltung so krass.
Aus den Sozialwohnungen in Islington North gibt es für Corbyn nur gute
Worte. „Corbyn sagt immer die Wahrheit“, weiß Regina Gard, 30 Jahre alt,
Mutter dreier Kinder. Er stehe für „Familien wie unsere“, erzählt sie.
„Meiner Bekannten, die man nach dem Tod ihrer Mutter auf die Straße warf,
besorgte Corbyn innerhalb einer Woche eine neue Wohnung.“
Ein paar Stockwerke tiefer im gleichen Sozialwohnungsbau aus den 30er
Jahren sagt Hassan Rammish, 72, dass er Corbyn seit 40 Jahren kenne.
„Corbyn ist für den Frieden, das ist das Wichtigste in dieser Welt“, sagt
der auf Zypern geborene Rentner.
## Innerparteiliche Kampfabstimmung
Corbyn spaltet. Die einen loben ihn gen Himmel, die anderen wollen ihn
loswerden. Erst im September 2015 wurde er Labour-Chef, mit dem größten
Mandat der Parteibasis aller Zeiten. Aber im Juni sprachen ihm vier Fünftel
der eigenen Parlamentsfraktion das Misstrauen aus: Er habe sich nicht stark
genug gegen den Brexit eingesetzt und könne Labour unmöglich zum Wahlsieg
führen, lautete der Vorwurf der Abgeordneten.
Corbyn wies das Misstrauensvotum zurück. Nun gibt es eine Kampfabstimmung
um die Parteiführung: Jeremy Corbyn gegen den bisher weithin unbekannten
Owen Smith, ein 46-jähriger Abgeordneter aus Pontypridd in Wales. Die Basis
soll entscheiden, die Versammlungen laufen, im September soll zum
Labour-Parteitag ein Gewinner verkündet werden.
Auf einer Wahlversammlung in einem Restaurant in Petticoat Lane im Londoner
East End versucht Smith, sich bei den Parteimitgliedern interessant zu
machen. Es ist nicht leicht: Zu seiner Vita zählen Jahre als BBC-Produzent
und als Vertreter des Pharmariesen Pfizer. Deswegen muss er sich ständig
des Vorwurfs erwehren, er stünde für eine Privatisierung des
Gesundheitswesens. Vor dem Misstrauensvotum gegen Corbyn war er dessen
Arbeitsminister im Schattenkabinett, bis er sich wie die meisten anderen
Abgeordneten vom Parteichef lossagte.
An diesem Tag ist er Gast von Rushanara Ali, 41, die den Wahlkreis Bethnal
Green & Bow vor sechs Jahren von der linken Partei „Respect“ für Labour
zurückeroberte. „Ich habe mein Mandat von der Labour-Partei“, führt die
muslimische Politikerin die Veranstaltung ein, „aber auch von meinen
Wählern.“ Das ist das Argument der meisten Corbyn-Gegner: Sie würden eine
breite Wählerschaft vertreten – die linken Aktivisten, die die
Labour-Mitgliederbasis dominieren, stünden nur für sich selbst.
Smith, klein und schlank, im blauen Anzug, mit einem roten Notizbuch in der
Hand, ergreift das Wort. Großbritannien könne auf die Geschichte und die
Errungenschaften der Arbeiterbewegung stolz sein, hebt er an – aber nun
stehe Labour in der Gefahr, ein Museumsstück zu werden, während sich die
Konservativen unter Theresa May der Labour-Rhetorik über soziale
Gerechtigkeit bemächtigten.
Durch seine schwarze dicke Brille blickend, sagt Smith: „Corbyn hat viele
gute Ideen, aber keinen Plan.“ Er, Smith, aber schon: Investitionen in
soziale Dienste, ins Gesundheitssystem, bessere und sichere Löhne,
Steuererhöhungen. Das werde Labour einen Sieg bringen – die Umsetzung von
Prinzipien in Macht.
## Zürückhaltender Applaus
Inwiefern sich das inhaltlich von Corbyn unterscheidet, ist nicht auf den
ersten Blick ersichtlich. Der Applaus der rund 50 Zuhörer bleibt höflich
zurückhaltend. Auf Fragen, wie Smith verlorene Labour-Wähler zurückgewinnen
wolle – Brexit-Anhänger, Schotten –, antwortet der Kandidat mit dem Hinweis
auf die Notwendigkeit höherer Investitionen in arme Gemeinschaften. Die
87-jährige Bell Harris, in blauem Hut mit Blumenmuster, will wissen, ob er
das Parteiprogramm von 1945 kenne, als Labour nach dem Zweiten Weltkrieg an
die Regierung kam und die größten Sozialreformen der britischen Geschichte
umsetzte. Und was halte Smith von der Verstaatlichung der Stahlindustrie?
Smith verweist auf die Debakel unter den Tories in seinem Wahlkreis in
Wales, wo die Stahlindustrie um ihre Existenz zittert – und findet am Ende
positive Worte für Corbyn: Dieser habe bei Labour die Lust zu Radikalität
und Enthusiasmus zu neuem Leben erweckt. Aber um die Partei wieder an die
Macht zu führen, sei er halt nicht der Richtige.
Später erklärt Harris, warum sie nach dem Programm von 1945 fragte. „Es war
der letzte echte Labour-Plan. Er wurde nach dem Krieg mit echter Vision
geschrieben, und seitdem kam nichts Vergleichbares“, sagt sie. Es ist das
Alte, was diese Labour-Anhänger antreibt. So auch die Rentnerin Jill
Iremonter, die auf ihrem elektrischen Rollstuhl die Versammlung verlässt:
Sie will Corbyn treu bleiben, sie kenne ihn lange, er habe immer
unermüdlich für die Partei gearbeitet. Zwei junge „Corbynistas“, die wie
die Mehrheit der aktuellen Labour-Mitglieder erst letztes Jahr in die
Partei eintraten, um Corbyn wählen zu können, sind aber skeptischer: Sie
könnten Corbyn jetzt zwar nicht einfach den Rücken kehren, aber sie würden
mal genauer recherchieren und Smith eine Chance geben, sagen Clare Barrett,
40, und Jessica Burn, 38, beide aus der Filmbranche.
Reicht die Nostalgie der Alten, um Corbyn den erneuten Sieg zu holen?
Wahrscheinlicher ist, dass Labour auch bei einem Corbyn-Sieg zerstritten
bleibt, die rebellischen Abgeordneten austreten oder hinausgedrängt werden
und die Partei sich möglicherweise komplett spaltet.
## Islington ist Kriegszone
In der Nähe von Caledonian Road, nicht weit vom Bahnhof Kings Cross,
erzählt Sängerin Lillie Jo Hughes, 17, von einem ihrer besten Freunde.
Alan Cartwright wurde im vergangenen Jahr mitten auf der Straße von einem
18-Jährigen erstochen, der sein Fahrrad klauen wollte. „Die Leute haben
keine Ahnung, wie es hier für uns Jugendliche ist“, sagt Hughes. „Sie
glauben, Islington ist reich. Nein, es ist eine Kriegszone. Meine Mutter
hat mich jahrelang nicht mal in den Laden um die Ecke gehen lassen, weil es
zu gefährlich war.“ Nach dem Mord traf sie die Wahlkreisabgeordnete Emily
Thornberry, Corbyns Abgeorgnetenkollegin aus Islington. Die versprach ihr
Maßnahmen, um die Gegend zu beruhigen. Hughes vertraut ihr.
Aber Thornberry und Labour sind nicht an der Macht, können nichts tun. Erst
vor wenigen Tagen wurde hier wieder ein Teenager mit einem Messer schwer
verletzt, vor sechs Monaten wurde ein anderer erschossen, erzählt Erhan
Basder, ein 24-Jähriger aus einem anderen Sozialwohnbauviertel in
Canonbury. Wer hier Geld verdienen will, handle mit Drogen, sagt er. „Weil
es erst mal einfacher ist, so Kohle zu machen.“ Corbyn gegenüber ist Basder
uneingeschränkt positiv. „Er kann die Arbeiterklasse am besten verstehen,
weil er selber seit Jahrzehnten in Finsbury Park in Islington lebt und
weiß, was hier abgeht.“
Aber Islingtons Sozialsiedlungen sind nicht einfach Gettos mit abgehängten
Unterschichten. Basder ist heute Steuerberater, trotz der großen Tattoos am
Unterarm – Ausdruck der Liebe zu seiner Familie, wie er sagt – und seinem
prononcierten Cockney-Akzent. Der Sohn der Nachbarin gegenüber, erzählt er,
habe gar in Oxford studiert und wurde Rechtsanwalt. Es habe sich viel in
der Gegend getan, zum Beispiel an der lokalen Oberschule. Basder gibt zu:
Das ist eine Errungenschaft von Labour unter Tony Blair.
Auch der lebte einst in Islington. Für seine Partei ist er heute eine
Unperson. Seine Rhetorik gegen soziale Spaltung wird heute am ehesten von
der neuen konservativen Premierministerin Theresa May verwendet: gegen die
Elite, für die Armen, für Gerechtigkeit, eine Politik „für alle“. Die Le…
sind neugierig auf May, sie müsse aber ihre Glaubwürdigkeit erst einmal
unter Beweis stellen. Labour muss sich hüten. Aber noch ist es nicht zu
spät.
18 Aug 2016
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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