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# taz.de -- Gefühlte Unsicherheit: Unsere Angst ist ihre Macht
> Der Amoklauf in München hat vor allem eines gezeigt: Was wir inzwischen
> bereit sind, uns vorzustellen. Das sollte uns beunruhigen.
Bild: Schwer bewaffnet und auf der Suche nach der Tätern, die es nicht gibt
Berlin taz | Eines vorweg: Wir haben es hier mit einem Dilemma zu tun, für
das es wohl keine (einfache) Lösung gibt. Dem Dilemma zwischen dem
nachvollziehbaren Bedürfnis nach Sicherheit und der Gefahr, dass wir
Gewalttätern das geben, was sie wollen.
Am Freitagabend hat ein [1][Amoklauf in einem Münchner Einkaufszentrum]
möglicherweise ganz Deutschland, [2][sicherlich aber ganz München in Atem
gehalten]. Nach dem, was wir inzwischen über den Vorfall wissen, kann man
sagen: Gemessen am Hergang der Tat hat die Polizei, haben die Behörden,
haben die Medien überreagiert.
Und doch: Der Münchner Polizei nachträglich einen Vorwurf für ihren völlig
überdimensionierten Einsatz zu machen, fällt schwer. Denn die Situation
nach den Schüssen war unüberschaubar: Minütlich gingen mehrere Notrufe ein.
In den ersten sechs Stunden nach der Tat waren es laut Polizeipräsident
Hubertus Andrä 4.310. Von bis zu drei Tätern mit „Langwaffen“ war die Rede
sowie von anderen Tatorten in der wegen mehrerer Großveranstaltungen gut
besuchten Innenstadt: wahlweise Marienplatz, Hofbräuhaus, Stachus, Isartor,
Odeonsplatz. Wie es zu diesen Falschmeldungen kam, ist ungeklärt.
Wahrscheinlich hat es einfach irgendwo an diesen Orten geknallt – ein
kaputter Auspuff, eine Autotür, etwas fällt herunter. EineR ruft „Schüsse�…
und beginnt zu rennen. Wer von uns würde sich da nicht sofort anschließen?
Aufgescheucht sind ohnehin alle, die Nachrichten von besorgten Freunden auf
ihren Smartphones und die Postings in sozialen Netzwerken lesen. Da
entscheidet nicht mehr die Ratio.
## Wenn das für Irre nicht verlockend ist – was dann?
Was hätte die Polizei tun sollen? Die Informationen nicht ernst zu nehmen,
um eine Panik zu vermeiden, war keine Option. Auch ist nicht von der Hand
zu weisen, dass [3][die Schnelligkeit und die Radikalität, mit der die
Sicherheitskräfte gehandelt haben], beruhigen. Denn nun wissen wir: Sollte
es je zu einem terroristischen Anschlag von Pariser Dimension kommen, sind
„wir“ definitiv gewappnet, um die TäterInnen an der Flucht zu hindern –
auch wenn dahingestellt ist, ob diese gute Koordination und so viel
Entschlossenheit auch in Berlin zu erwarten wären.
Und doch werden gerade dieser monströs übertriebene Einsatz – eine ganze
Stadt mit knapp 1,5 Millionen EinwohnerInnen lahmgelegt, das SEK unterwegs
und die Bundeswehr bereit zum Einsatz – und die Panik, die die Münchener
Bevölkerung am Freitag ergriffen hat, zum Problem. Denn sie folgen sowohl
der Logik des Terrors als auch dem Aufmerksamkeitsbedürfnis des
Amokläufers.
JedeR AnhängerIn oder SympathisantIn des IS kann sich nun sicher sein: Die
Aufmerksamkeit der (westlichen) Weltöffentlichkeit ist ihm gewiss. JedeR
Jugendliche, der Amokläufer wie Anders Breivik oder die Schüler von
Columbine heroisiert und glaubt, sich durch eine ähnliche Tat Bedeutung
verschaffen zu können, weiß nun: Es würde ihm gelingen, eine ganze Stadt in
Angst und Schrecken zu versetzen, einen Ausnahmezustand hervorzurufen und
die Sicherheitskräfte des gesamten Landes in Bewegung zu setzen. Wenn das
für Irre nicht verlockend ist – ob nun politisch motiviert oder nicht –,
was dann?
## Problem „Werther-Effekt“
Die Ereignisse in München haben gezeigt, was wir mittlerweile bereit sind,
uns vorzustellen. Was wir für möglich, für plausibel halten. Fast scheint
es, als warteten wir nur darauf – wir, das sind die BürgerInnen, aber auch
die Sicherheitskräfte –, dass in Deutschland ein großer terroristischer
Anschlag geschieht.
Dass auch bei uns Realität wird, [4][was in Frankreich längst zum Alltag
gehört]: dass man sich nirgendwo – an keinem Ort und vor niemandem – mehr
sicher fühlt, weil man erwartet, dass es aus dem Nichts zu Angriffen kommen
kann.
Das sollte uns Sorgen bereiten. Auswertungen zeigen, dass fast die Hälfte
aller Amokläufe innerhalb von zehn Tagen nach einer ausführlichen
Berichterstattung über einen anderen Amoklauf geschehen. Ist dieser
„Werther-Effekt“ mit Grund für die hohe Schlagzahl an
Schreckensereignissen, die wir erleben? Möglich ist das auf jeden Fall.
Was also ist zu tun? Die bedrückende Wahrheit ist: Eine befriedigende
Lösung gibt es nicht. Sicher ist nur: Unsere Angst ist ihre Macht – und
beides wächst derzeit ins Unermessliche.
25 Jul 2016
## LINKS
[1] /Schuesse-in-Muenchen/!5327543/
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[3] /Kommentar-Amoklauf-in-Muenchen/!5327566/
[4] /Ausnahmezustand-in-Frankreich/!5327086/
## AUTOREN
Marlene Halser
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