| # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Die Anrufung des IS | |
| > Der IS bietet die Möglichkeit, den Amoklauf zu einer „politischen Aktion“ | |
| > zu machen. Damit schafft er es, aus Sinnlosigkeit Mehrwert zu schöpfen. | |
| Bild: Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische Labi… | |
| Die wiederkehrende Frage dieses Sommers lautet: Amoklauf oder | |
| Terroranschlag? Die Frage also: Sind die Horrorszenarien, die diesen Sommer | |
| takten, „politische Aktionen“ oder psychische Störungen? Bei einem Amoklauf | |
| tötet ein psychisch entgleister Einzelner blindlings und wahllos. Ein | |
| politischer Terrorakt hingegen reklamiert für sein Tun, so schrecklich | |
| dieses auch sein mag, einen Sinn, ein Ziel und eine Erzählung. | |
| Der sogenannte „Islamische Staat“ streicht dieses „oder“ durch. Er „b… | |
| die Möglichkeit, gerade den Amoklauf zu einer „politischen Aktion“ zu | |
| machen. Der IS „bietet“ also die Möglichkeit, einzelne Pathologien, private | |
| Störungen in sein System einzuordnen. | |
| Wir denken irgendwie immer noch im Prinzip des Heroismus – selbst dort, wo | |
| er negative Vorzeichen hat. Also im Prinzip eines exemplarischen Handelns, | |
| einer ungewöhnlichen Leistung, die einen Einzelnen zu einem herausragenden | |
| Subjekt macht. | |
| Dem IS hingegen ist es gelungen, auch das gegenteilige Prinzip zu | |
| verwerten: Er ermöglicht Einzelnen, sich über ihre Defekte, über ihr | |
| Versagen, über ihre Verhinderungen mit einem größeren Ganzen | |
| kurzzuschließen. Der psychische Defekt ersetzt bei diesen Attentaten | |
| eigentlich alles: die politische Motivation, die gefestigte Ideologie, die | |
| politische Organisation, das technische, das organisatorische, das | |
| physische „Können“. | |
| Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische | |
| Labilität des Einzelnen, die sich in einem sinnlosen Tötungsakt entlädt. Er | |
| verwandelt die Entladung in eine „Artikulation“ – als ob sich da etwas | |
| äußern würde. | |
| ## Nicht nur reine Instrumentalisierung | |
| Wie macht der IS das? Kommt er hinterher und reklamiert die Taten für sich? | |
| Adoptiert er die Täter nachträglich? Sicher auch. Aber die reine | |
| Instrumentalisierung alleine greift zu kurz. | |
| Das, was dem vorausgeht, ist eine Anrufung. Anrufung ist, laut Louis | |
| Althusser, der Mechanismus der Subjektbildung. In jeder Institution – in | |
| den Familien, in Schulen, Kirchen, am Arbeitsplatz, in den Parteien überall | |
| werden die Individuen angerufen. Es ergeht also ein Ruf an sie, ein Appell, | |
| der ihnen eine Identität verleiht, der sie zu eindeutigen Subjekten macht. | |
| Diese Anrufung ist nicht einfach ein Satz. Sie funktioniert vielmehr über | |
| eine Vielzahl materieller Anordnungen: Der Ruf erreicht den Einzelnen in | |
| und durch kollektive Rituale, Gewohnheiten, Versammlungen. Er ist physisch, | |
| ja sogar räumlich verankert. Der Ruf wird also über ein institutionelles | |
| Ganzes transportiert. | |
| ## Ruf, der Bedeutung verleiht | |
| Vom IS geht nun genau das aus: eine Anrufung. Ein Ruf, der die Einzelnen | |
| mit einer Identität versorgt. Der sie in ein größeres Ganzes einbindet, als | |
| dessen Stellvertreter sie sich fühlen können, in dessen Namen sie agieren. | |
| Er gibt ihnen eine Position („Soldat“), ein Ziel („Kalifat“) und er lie… | |
| ihnen eine „Ordnung“ – also eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, | |
| zwischen „erlaubt“ und „verboten“. Und die zentrale Bestimmung: Wer sind | |
| die Freunde, wer sind die Feinde. Kurzum – der IS liefert den Einzelnen | |
| „Bedeutung“ in jeder Hinsicht. | |
| Das Besondere daran ist, dass diese Anrufung scheint’s auch ohne materielle | |
| Anordnung funktionieren kann. Er ist das Paradoxon einer archaischen | |
| Institution, die auch virtuell funktioniert: eine Long-distance-Anrufung | |
| ohne physische Verankerung. Eine entmaterialisierte Anrufung, die nur das | |
| Schnittmuster zum Selberbasteln der Identität bereitstellt. Ein Albtraum | |
| für jeden Geheimdienst. | |
| Und der IS „ermöglicht“ es pathologisierten Jugendlichen, ihr Verlangen | |
| nach Zugehörigkeit durch Morde auszuleben. Damit wird der psychische Defekt | |
| zu einer Produktivkraft des IS. Eine Produktivkraft, die reine Destruktion | |
| „ermöglicht“. | |
| Die psychopolitische Voraussetzung zu solchen Taten scheint nicht eine | |
| gefestigte Ideologie zu sein. Sie morden nicht aus Überzeugung wahllos in | |
| der Menge. Es sind vielmehr Leute, die sich selbst als überflüssig erleben, | |
| denen ihr Leben sinnlos erscheint, die solche überflüssigen, sinnlosen | |
| Gewalttaten begehen. So viel Sinnlosigkeit. Und einzig der IS | |
| erwirtschaftet einen Mehrwert daraus. | |
| 26 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Isolde Charim | |
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