# taz.de -- Mutmaßlicher Amoklauf in München: Der Tag danach | |
> Geschäfte und Kneipen bleiben geschlossen. In der Nähe des Tatortes | |
> finden sich Menschen ein und versuchen, das Erlebte zu verstehen. | |
Bild: Den ganzen Tag über brachten Menschen ihre Anteilnahme zum Ausdruck | |
München taz | Eine Abgasglocke hängt über der Straßenkreuzung Hanauer | |
Straße und Pelkovenstraße, wenige Hundert Meter vor dem OEZ. Dutzende an | |
Übertragungswagen mit großen Satellitenschüsseln lassen ihre Motoren | |
laufen. Ihre Nummernschilder verraten, von wo überall her Journalisten und | |
Fernsehteams nach München gekommen sind, aus Spanien, Italien, Frankreich, | |
Norwegen, aus Portugal, aus Tschechien und der Schweiz, ein japanisches | |
Team ist aus Berlin angereist. | |
Weiß-rotes Flatterband und etliche Polizisten halten sie und Schaulustige | |
davon ab, sich dem Tatort zu nähern. Viele der ausländischen Reporter haben | |
müde Gesichter, sie sind die ganze Nacht gefahren. Über die sonst dicht | |
befahrene, jetzt gesperrte Straße, hüpft ein kleines Mädchen, immer links | |
und rechts des Mittelstreifens. | |
Viele der Münchner, die gestern etwas mitbekommen haben, sind bewusst | |
hierher gekommen. Sie erzählen ihre Geschichten bereitwillig. Da ist die | |
Rentnerin Christa Lange, die die Schüsse von ihrer nahen Wohnung aus gehört | |
hat. „Erst war es wie eine schnelle Salve, ich dachte, jemand feuere eine | |
Art Silvesterknaller“, schildert sie. „Beim zweiten Mal veränderte sich der | |
Schussrhythmus. Es machte: Päng, päng……päng.“ | |
Kurz darauf habe sie schon Sirenen, Blaulicht und das Knattern des | |
Hubschraubers gehört. „Bis in die frühen Morgenstunden ging das so!“ Sie | |
sei so froh, dass ihre Enkeltochter am gestrigen Abend, anstatt wie so oft | |
in den McDonalds, zu einem nahen See gefahren sei. Und doch kann auch sie | |
nicht anders, als hier mit hunderten anderen Menschen zu stehen und auf den | |
grauen Block des OEZ zu starren. | |
## Flucht ins Einkaufszentrum | |
Auch Amir Najjavzadeh ist gekommen. Der 20-jährige Afghane arbeitet als | |
Sicherheitsmann im angrenzenden Einkaufszentrum Mona. Auch er hat die | |
Schüsse gehört. „Auf einmal sind bei uns 150 oder 200 panische Leute in den | |
Laden gerannt gekommen.“ Darunter auch drei weinende Kinder, zwischen 9 und | |
12 Jahren, die hatten ihre Mutter verloren. Der junge Mann handelte | |
geistesgegenwärtig. „Ich habe sie und all die anderen Leute in unseren | |
Keller geführt und ihnen zu Trinken gebracht.“ | |
Danach sei er wieder nach oben, um der Polizei, die inzwischen vor dem | |
Gebäude stand, Bescheid zu geben. „Da waren auch noch zwei blutverschmierte | |
Passantinnen, denen habe ich Wasser gebracht, damit sie sich waschen | |
konnten.“ Auch beim Wiedersehen der drei Kinder mit ihrer aufgelösten | |
Mutter war er dabei. | |
Das alles quillt aus dem jungen Mann heraus, der vor drei Jahren als | |
Flüchtling in München angekommen ist. Obwohl auch das Einkaufszentrum, in | |
dem er arbeitet, geschlossen ist, ist er korrekt in seinem Anzug mit dem | |
angehefteten Ausweis erschienen. Als er hörte, der Täter sei kein Afghane | |
und kein Flüchtling gewesen, war er erleichtert. „Ich hätte mich so | |
geschämt.“ | |
Der Teil Moosachs, in dem das OEZ steht, ist ein Viertel, in dem viele | |
Migranten leben und arbeiten. Die Angst, die generelle Furcht vor Muslimen | |
könnte neu geschürt werden, begleitet den Uiguren Achad Habibula, 46, der | |
seinen Imbisstand nahe dem McDonalds führt. Er hat Freitag die Stunden der | |
Angst und Unsicherheit hinter den heruntergelassenen Rolladen in seinem | |
versperrten Geschäft verbracht. „Ich war einfach nur in Panik.“ | |
## Blumen für die Opfer | |
Chan Döner, 24, war gerade auf dem Heimweg gewesen, erklomm die Stufen aus | |
der U-Bahnstation hinauf, direkt gegenüber des Eingangs zum McDonalds. „Da | |
habe ich die Fortsetzung des Videos gesehen, der Täter hatte gerade | |
geschossen und die Menschen drehten panisch um und rannten in meine | |
Richtung. „Ich bin sofort zurück wieder runter in die U-Bahn“. Die Nacht | |
über habe er bei einem Freund geschlafen. Zuhause halte er es nun aber | |
nicht aus. „Ich muss jetzt hier sein, um das Ganze zu verarbeiten.“ | |
Immer mehr Leute mit Blumen und Kerzen in den Händen tauchen auf, suchen | |
Orte, wo sie diese niederlegen können. Viele von ihnen haben zumindest die | |
Schüsse gehört, manche haben sogar einen kurzen Blick auf den Täter | |
geworfen. | |
Gegen 14 Uhr kommt die schwarzgekleidete Delegation des politischen München | |
aus Ministerpräsident Horst Seehofer, Oberbürgermeister Dieter Reiter und | |
der Landtagspräsidentin Barbara Stamm. Unter einem drückenden Himmel halten | |
sie vor drei großen Blumenkränzen inne, direkt gegenüber dem Haupteingang | |
des Einkaufszentrums | |
Eine kurze Ansprache wird gehalten, ein gemeinsames „Vaterunser“ folgt. | |
Doch auch wenn viele Leute diesem offiziellen Akt zusehen, wird deutlich: | |
Es sind die Gespräche mit Freunden, Nachbarn oder auch Wildfremden, die sie | |
suchen und die sie trösten. Zwei Mädchen liegen sich weinend in den Armen. | |
Eine Gruppe junger Männer kommt vorbei, reißt die Smartphones hoch, filmt. | |
„Tut doch endlich mal die Telefone weg“, schreit einer und zieht die | |
Mädchen weg. | |
## Das Hofbräuhaus öffnet später | |
Derweil sind an diesem Samstag viel weniger Leute als sonst in der Münchner | |
Innenstadt. Die U-Bahnen sind ziemlich leer, an der U 3 wird der Hinweis | |
angezeigt, dass die Polizei die Station Olympia-Einkaufszentrum gesperrt | |
hat und die Züge dort nicht halten. An einem Imbissstand in der | |
Orlandostraße in der City, in der Haupt-Touristenmeile mit | |
FC-Bayern-Fanshop und Hard-Rock-Café, sagt eine Verkäuferin: „Wenn ich | |
nicht arbeiten müsste, wäre ich heute auch daheim geblieben.“ | |
Das Hofbräuhaus hat geschlossen. „It's closed?“, fragt ein US-Urlauber | |
fassungslos, der auf dem Platz vor der verschlossenen Eingangstür aus | |
dunklem Holz steht. „Die räumen drinnen erst einmal alles auf“, sagt | |
Konstantin Mötter, ein junger Mann, der in dem Laden beim Hofbräuhaus | |
Souvenirs verkauft. „Es gab eine Massenpanik, die Leute dachten, dass hier | |
auch bald einer schießt oder eine Bombe wirft.“ | |
Die Kapelle spielte nicht mehr, mit Bierkrügen haben die Menschen die | |
Scheiben von drinnen eingeschlagen, um rauszukommen und zu fliehen – | |
irgendwie, irgendwohin. Zahlreiche Fenster der Schwemme, wie der große | |
Schankraum genannt wird, sind nun mit Spanplatten zugesperrt. Teile des | |
Mobiliars wurden verwüstet. Zu Dutzenden haben Besucher, die noch gar nicht | |
in ihren Hotels waren, die Koffer liegengelassen. Die sind nun im | |
Hofbräuhaus gestapelt und warten auf ihre Eigentümer – Besucher, die Teil | |
einer Stadt im Ausnahmezustand wurden. | |
23 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
margarete moulin | |
Patrick Guyton | |
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