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# taz.de -- Besuch im Münchner Hofbräuhaus: Durst ist schlimmer als Heimweh
> 365 Tage im Jahr hat es geöffnet. Auch nach dem Münchner Anschlag im Juli
> kommen Touristen – und die Stammgäste sowieso. Ein Sittenbild.
Bild: Blick in die Schwemme des Hofbräuhauses mit Brotzeitfresken an der Decke
München taz | So eine schöne Geschichte, die Geschichte von der Franziska
und dem Peter. „Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da“
läuft in der Version von Cliff Richard, am Keyboard auf dem Holzpodest
sitzt Michael Lutz von der Dominant Band und intoniert. Er hat Jazz
studiert, und als Talisman an der Rampe hat er einen kleinen Plastiklöwen
des Zweitligisten TSV 1860 München platziert. Im Festsaal des Hofbräuhauses
am Platzl, mittendrin in München, hotten im Mittelgang Dutzende älterer
Herrschaften zwischen langen Holztischen ab.
Die Schrittfolgen sind ihnen sichtlich bekannt. Es ist wie jede Woche
Seniorentanztee, die Jahreskarte kostet zehn Euro, zahlbar bei der
Bedienung. Und jetzt zur schönen Geschichte: Der Peter war Busfahrer
drinnen in München und Jockey draußen in Riem auf der Rennbahn. Mit sechzig
ist er in Rente gegangen, „dann gleich Tanzkurs, jetzt bin ich 77 und seit
zwölf Jahren hier drin“. Zur selben Zeit ist die gleichaltrige Franziska
auch zum Tanztee erschienen, die Franziska war seit zehn Jahren Witwe, und
„mei, was soll ich sagen, mir ham uns hier kennengelernt“.
„Möchts ihr noch a Apfelschorle und a Wasser?“, fragt die Bedienung im
züchtig dreiviertellangen schwarzen Dirndl, als die beiden sich wieder
setzen. Gertraud Specht alias Traudl bedient seit 1972 im Hofbräuhaus,
jetzt ist sie 80 und arbeitet noch einmal pro Woche. Wie eh und je hat sie
die Vorlieben der Stammgäste im Kopf. Was anders ist als früher? „Früher
wollten die Leut net immer alles und gleich und sofort. Die hatten Zeit.“
## Früher ein Rotlichtviertel
Früher, bis in die Mitte der 1970er Jahre, stand in München das
Hofbräuhaus, diese Volkswirtschaft, mitten im damaligen Rotlichtviertel.
Verrufen war die Gegend und das Hofbräuhaus auch. Wir nennen es im
Folgenden platzsparend HB. Tischweise wurde damals zu Stoßzeiten gerauft,
K.-o.-Tropfen sollen auch im Spiel gewesen sein, und der Münchner ging
anderswohin, aber eher weniger ins HB. Die Zeiten sind vorbei, „es hat sehr
viele Stammgäste hier“, meint ein 82-Jähriger, der seinen Namen „net in so
am linken Bladdl lesen will“, aber dann mit Hingabe das Prinzip des
„Krugtresors“ erklärt.
Dutzende regelmäßige Stammtische gibt es im Haus, und verdiente Gäste –
Frauen sind auch darunter, „aber eher weniger“ –, bringen ihren Maßkrug …
einem zugewiesenen Fach mit Vorhängeschloss unter. Das „Kruggeld“ beträgt
75 Cent pro Quartal, „und einmal im Monat kocht mei Weibi die Maß aus“,
erklärt der Herr in blank geputzten Mokassins und Tracht, bevor er sich mit
Gott empfiehlt.
Unweit des zentralen Marienplatzes liegt das HB, gegenüber dem
verschnarcht kreischigen Hard Rock Café und einen Steinwurf von der immer
schon Chichi gewesenen Maximilianstraße. 1589 gegründet, damals nur als
Brauerei, zeigt das HB in seiner langen Geschichte exemplarisch das
Verhältnis von Volk und Herrschaft auf. Dem bayerischen Staat untersteht es
seit 1852, heute erwirtschaftet es dem Finanzministerium Zweistelliges in
Millionenhöhe.
Als Geschäftsführer fungieren die Gebrüder Wolfgang und Michael Sperger,
deren Familie schon seit 1980 die Geschicke der Bierburg lenkt. An
Wiesn-Tagen oder bei großen Fußballspielen im Olympiastadion wuseln bis zu
10.000 Menschen in dem wuchtig-steinernen Gewölbebau von 1897 herum.
Offiziell gibt es dort Sitzplätze für rund 3.500. Die verteilen sich unter
anderem auf einen lauschigen Arkadenbiergarten im Innenhof und auf die
Schwemme mit veritablen Brotzeitfresken an der Decke.
## Nachwuchssorgen der Stammtische
Viele Stammtische im HB kennen Nachwuchssorgen, denn „die jungen Leut, die
kommen zwar, aber wollen sich nicht festlegen“, berichtet Pensionär Leonard
Berger, 66, vom Stammtisch der Wolpertinger, der seit 1934 existiert. Es
geht die Legende, dass das HB um die Wolpertinger herumgebaut wurde, was
natürlich numerisch und historisch ein ganz großer Schmarrn ist, was auch
den aktuellen Wolpertingern völlig klar ist. Zehn Jahre war Berger „als
Kriminaler bei der Sitte“, und die Hirschlederne mit aufwendigen
Stickereien, die er heute trägt, hat schon 1988 gut Geld gekostet: 925
Mark, handgefertigt. „Mittlerweile meinens aber viele a bisserl zu gut mit
der Tracht.“ Darauf eine „Wibi“, eine Williamsbirne.
Heute findet im Obergeschoss im landsmannschaftlich beflaggten Festsaal,
den schon Adolf Hitler 1920 zur Gründung der NSDAP nutzte, außer dem
Seniorentanztee auch die tägliche Speisung von Touristenmassen statt.
Chinesen sind die Hauptabnehmer: „Wahrscheinlich waren alle schon mal da“,
witzelt Stefanie Prill, eine der neun ServiceleiterInnen, die rund 70
KellnerInnen im Dreischichtensystem anleiten.
Prill nippt am Wasser, bevor ihr per Handy gemeldet wird, dass in der
Schwemme der Zucker aus ist. Vor exakt je 900 Gramm Schweinshaxe inklusive
eines großen Spezi sitzen im Saal derweil 30 chinesische Grundschüler, die
zwei Wochen durch Europa touren. 4.000 US-Dollar kostet die Sause pro Kind,
inklusive Disneyland Paris. „Die Eltern sind nicht so besorgt um ihre
Kleinen. Aber Karriere sollen sie machen“, sagt einer der sieben Betreuer
im besten Deutsch und wischt einem Mädchen mit Tirolerhut energisch den
Mund ab.
## „War ja keine Zeitlage“
Am 22. Juli dieses Jahres hatte der Vizeküchenleiter des HB, Colin Matei,
die Gäste des an diesem frühen Abend vollbesetzten Saals temporär gebeten,
unter den Tischen Platz zu nehmen. Grund: Parterre in der Schwemme gab es,
wie der Sicherheitschef des HB, der pensionierte Kriminalbeamte Gerd Lutz
beschreibt, eine „Ad-hoc-Lage“. Von der Straße waren „junge Männer, bis
heute sind die nicht identifiziert“, schreiend hereingestürmt: „Draußen
wird geschossen!“
Daraufhin, die Nachrichtenlage in den sozialen Medien war wegen des kurz
zuvor passierten rechten Anschlags am Olympiazentrum unübersichtlich bis
kopflos, entstand eine Massenpanik – „bei so was ist jede Sicherheit
machtlos, da kannst du noch so viele Leut abstellen. War ja keine
Zeitlage.“ Englische Touristen zertrümmerten eine Scheibe, zwängten sich
durch, eine US-Amerikanerin sprang aus dem ersten Stock, „die Chefs haben
Blumen geschickt, jetzt geht’s ihr wieder gut“. Im Saal schaffte es Matei,
der so was „ungern noch mal erleben möchte“, die Leute nach zehn Minuten
unterm Tisch „geordnet nach draußen zu führen. Aber zwei wollten
drinbleiben – sie hätten ja schließlich gezahlt fürs Bier.“
Überwachungskameras wollen die Sperger-Brüder nicht im HB.
„Datenschutzgründe“ weiß Sicherheitschef Lutz – ein Hoch auf die
Liberalitas Bavariae beim Bier. Angesprochen auf die potenziellen
Anschlagsziele Oktoberfest und HB, sagt Lutz erst mal nur „Ja mei“. Er hat
2009 das Sicherheitskonzept des Hauses verändert. Wo vorher martialisch
anmutende Kräfte in Schwarz patrouillierten, schlendern heute bis zu 20 wie
Kellner wirkende Manns- und Frauenbilder in Tracht durch die
dichtgedrängten Reihen. Vorbei an der täglichen Volkslivemusik,
konzentrierter Blick nach rechts, nach links, nach oben und unten. Seitdem,
so Lutz, seien Aggressionen unter Gästen spürbar seltener geworden, die
„Deeskalationsstrategie“ zieht auch bei Alkoholisierten.
Lutz, 67, ein gemütlicher Typ mit buschigen Augenbrauen, weiß aber auch,
„dass wir um Taschenkontrollen zur Wiesnzeit nicht herumkommen. Es geht
halt immer ums subjektive Sicherheitsempfinden der Gäste.“ Sollte das
Oktoberfest dieses Mal eingezäunt werden? „Dazu sag ich nix. Nur: 100
Prozent Sicherheit, die gibt es nicht.“ 365 Tage im Jahr ist man geöffnet,
und „nein“, sagt Bedienung Claudia, „nein, auch nach dem 22. Juli kommen
die Touristen, nur die ersten zwei Tage war’s a bissel ruhiger“. Sie weiß,
dass „Haxe“ auf Russisch rulka heißt und dass ältere Inder meist
vegetarisch essen. „Denen empfehl ich Gemüsekuchen“, meint ihr Kollege
Divinder, der vor 26 Jahren aus dem Punjab einwanderte. „Aber bei den
jungen Indern, da geht fast alles.“
## Die Großküche ist ausgelagert
Im Bauch des HB, im weitverzweigten Keller, durch den Robert Bräunlich
führt, der Hausmeister im klassischen Blaumann, in jenem Bauch lagern große
Teile der Speisekarte – bis zu 7.000 Essen gehen durchschnittlich am
Wochenende raus. Diese Essen werden „regeneriert“, wie Vizeküchenleiter
Matei dort unten referiert – und futsch ist mal wieder die gastronomische
Unschuld. Trotzdem sieht oben auf den Tellern alles lecker deftig aus, kein
Witz. Die Großküche des HB ist längst in die Provinz ausgelagert, mehr
Gastraum hat man so gewonnen, und in der Systemküche am Platzl sind sie mit
dem ordnungsgemäßen Erhitzen und Dekorieren beschäftigt.
Hausmeister Bräunlich berichtet mit stiller Leidenschaft von dem täglich um
6.20 Uhr im Tanklastzug angelieferten Gerstensaft. Spätestens jetzt wird
das Motto der Schwemme klar: „Durst ist stärker als Heimweh.“ Das HB Hell
lagert immer mit rund 80.000 Litern im Haus, „und ständig fließt hier Bier,
die Leitungen sind überall“. Bräunlich ist sichtlich stolz, und Beuys, der
mal das Kunstwerk „Honey flows in all directions“ schuf, hätte der
konstante Bierfluss sicher auch gut gefallen.
Kurz vor Mitternacht ist Schicht im HB. Gerade hatte noch im Biergarten ein
Augenarzt namens Charles aus Idaho über einer Bratensülze gebeichtet, dass
er Trump wählen werde. „Das Establishment verdient es nicht anders.“ Prost.
Beim Rausgehen fällt auf, dass der Hubert aus Obergiesing immer noch und
jetzt ganz allein in der Schwemme sitzt. „Der Hubert ist Jeansträger“,
hatte der Sepp aus Sendling am Nachmittag erklärt, „und er spricht eher
wenig, ist dafür aber immer da.“ Der Hubert, der trotz seines schlohgrauen,
sehr langen und gepflegten Vollbarts alterslos aussieht, muss bei dem
Tohuwabohu am 22. Juli wie ein Fels in der Brandung sitzen geblieben sein.
„Der wär mit dem Hofbräuhaus gestorben, keine Frage“, so der Sepp. „Es …
ja nix!“, bellt der Hubert, jetzt um fünf vor zwölf. Dann verstummt er und
bricht in die Nacht auf, derweil das Leben weitergeht.
26 Aug 2016
## AUTOREN
Harriet Wolff
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