# taz.de -- Das Ende der Kneipe: Der letzte macht das Licht aus | |
> Die letzte Kneipe in Hamburg-Ochsenwerder öffnet nur noch Dienstags. Dann | |
> treffen sich ein paar Herren, die teilweise seit über 40 Jahren | |
> herkommen. | |
Bild: Der letzte Wirt von Ochsenwerder begrüßt seine Gäste per Handschlag | |
HAMBURG taz | Ein paar Gäste stehen schon vor der Tür, als die letzten | |
Sonnenstrahlen des Tages über die Wiesen der Marschlande fallen. Aber der | |
Wirt lässt noch auf sich warten. Alle fünf bis zehn Minuten kommt ein | |
Fußgänger vorbeigeschlendert, man grüßt sich, auch wenn sich nicht alle | |
NachbarInnen kennen in Billwerder-Moorfleet, im Südosten von Hamburg. | |
„Gasthof Neudorf“ steht in verblassten Buchstaben auf dem Schild über der | |
Tür des alten Backsteingebäudes, davor warten drei ältere Herren. Fred, | |
Hermann und Bernd sind in Topform, denn es ist Dienstag, kurz vor 18 Uhr, | |
und ihre Stammkneipe macht gleich auf. | |
„Hier, ich hab einen Youtube-Kanal“, sagt Fred und kramt einen Flyer aus | |
seiner Hosentasche. Fred trägt eine runde Brille und ein dunkelgraues Hemd, | |
seine Haare sind grau. Auf dem Flyer steht: „Youtube – Oktofred – Oma Erna | |
hat Geburtstag“. Fred singt vor: „Meine Oma hat Geburtstag / aber alle sind | |
schon tot / nun feiert sie alleine / und hat ihre Not“. Dazu gibt er mit | |
der Hand den Takt an. „Na, du bist aber heute wieder gut drauf“, murmelt | |
Hermann. | |
Immer dienstags treffen sich die drei und noch ein paar andere Herrschaften | |
von 18 bis circa 22 Uhr im Gasthof Neudorf. Es ist der einzige Tag der | |
Woche, an dem die letzte Kneipe Ochsenwerders überhaupt noch Gäste | |
empfängt. Die Kneipe liegt im Sterben: Dem Wirt geht es schlecht, die | |
Gesundheit macht nicht mehr mit. Mit 79 Jahren kann man auch mal an den | |
Ruhestand denken. | |
## Es gibt nicht mal Kaffee | |
„Bei mir gibt’s nicht mal Kaffee“, sagt Otto Garbs. Der letzte Wirt von | |
Ochsenwerder ist groß und hager, das Gesicht ein bisschen eingefallen, die | |
Haare und der Bart weiß, die Augen hell und wach. Früher, als der Gasthof | |
noch jeden Tag auf hatte, gab es gezapftes Bier. Jetzt, wo die Kneipe nur | |
noch dienstags öffnet, geht das nicht mehr – das Bier würde im Fass | |
schlecht werden. Der 79-Jährige schlurft mit einer Flasche Korn und ein | |
paar Buddel Holsten Edel unter dem Arm in den Raum, stellt sie hinter dem | |
Tresen ab und lässt sich auf einen Stuhl fallen. | |
Otto Garbs hat die Kneipe von seinem Vater übernommen, der sie von seinem | |
Vater geerbt hat – seit 1876 ist sie im Besitz der Familie. Dass es keinen | |
Kaffee gibt, interessiert hier niemanden. Die meisten trinken Herrengedeck: | |
Bier und Korn. Neun BesucherInnen haben sich um kurz nach sechs in der | |
Kneipe eingefunden. Auch drei Frauen sind da, obwohl sonst eigentlich nie | |
Frauen dabei sind. Sie sitzen an einem der vier nackten Holztische und | |
unterhalten sich. Fred sprüht sich Mundspray in den Mund. | |
Auf der Fensterbank stehen Tonkrüge, in denen früher Kautabak aufbewahrt | |
wurde. Heute dienen sie als Vasen für Plastikrosensträuße. Ansonsten ist | |
alles in dem Raum braun oder beige – die Bepolsterung der Stühle und Bänke, | |
die Gardinen, ein Kachelofen in der Ecke. Darüber hängen zwei Tafeln, eine | |
vom „Sparclub Vergissmeinnicht“, eine von der freiwilligen Feuerwehr | |
Neudorf. Hinter dem Tresen stehen Gläser und Tonkrüge, ordentlich in ein | |
Regal sortiert. Garbs holt ein Glas aus dem Regal, es ist aus den 1920ern. | |
## Marschmusik vom Plattenspieler | |
Bei vielen alten Kneipen kommt die Musik noch aus einer Jukebox. Hier, hat | |
man das Gefühl, liegen die Zeiten noch weiter zurück: Die Musik kommt vom | |
Plattenspieler, es läuft Marschmusik. Die Decke des höchstens 30 | |
Quadratmeter großen Raums ist mit Notenblättern beklebt. „Bleib bei mir“, | |
„Die lustigen Gespenster“ oder „Laura“ heißen die Titel. Eines der Lie… | |
hat Fred komponiert. | |
Über dem Tresen hängen zwei Trompeten, über den Tischen weitere | |
Blasinstrumente, einige sind zu Lampen umfunktioniert. Garbs war mal | |
Kapellmeister. Er steht auf und dreht an einer Glühbirne, die in einem Horn | |
steckt. Es wird hell. „Geht gleich wieder aus“, sagt der Wirt, „ist schon | |
seit Jahren kaputt.“ | |
Wie lange der Dienstagsbetrieb im Gasthof Neudorf noch läuft, weiß keiner | |
genau. Bedienen kann der Wirt schon lange nicht mehr selbst, das macht ein | |
jüngerer Stammgast. „Ich will jeden Tag aufhören, aber sie lassen mich | |
nicht“, sagt Garbs. Seit acht, neun Jahren existiert die Kneipe auf | |
Sparflamme. Garbs sagt, er findet es gut, dass wenigstens dienstags mal ein | |
bisschen was los ist im Dorf. | |
Wenn er sich mit den anderen unterhält, fallen sie zwischendurch immer | |
wieder ins Plattdeutsche. Ab und zu steht der ehrenamtliche Vertretungswirt | |
vom Nebentisch auf, wo er mit drei anderen knobelt, und stellt einem der | |
Gäste ein neues Bier oder einen neuen Korn hin, ohne dass ein Fremder ein | |
Zeichen einer Bestellung hätte wahrnehmen können. | |
## Wenn der Gasthof zumacht „ist alle“ | |
Was passiert mit den Leuten, wenn der Gasthof zumacht? „Dann ist alle“, | |
sagen Hermann und sein Tischnachbar Karl-Heinz gleichzeitig. Dann schweigen | |
sie. Dass den Laden keiner übernehmen kann, ist klar. Behördenauflagen, | |
Brandschutzbestimmungen, Anforderungen an Waschräume und Fluchtwege – was | |
das kosten würde, kann niemand überblicken. Selbst wenn es jemand | |
finanzieren würde, wäre es schwierig, denn man müsste alles komplett | |
erneuern und dann wäre es eben auch eine andere Kneipe. | |
Hermann kommt seit 46 Jahren in den Gasthof. „Es gibt noch ein Restaurant | |
am Norddeich, Richtung Dove-Elbe, da kann man auch Bier trinken“, sagt er. | |
Ist aber natürlich was anderes. Karl-Heinz schüttelt den Kopf: „Ich geh’ … | |
nicht hin“, sagt er. Hermann glaubt ihm nicht. „Jetzt gibt es keiner zu“, | |
sagt Hermann. „Aber später, wenn es gar keine Kneipe mehr in Ochsenwerder | |
gibt, dann werden sie wohl doch in das Restaurant gehen.“ Vielleicht will | |
es jetzt noch keiner wahrhaben. | |
Einmal ist Karl-Heinz auf Skiern in den Gasthof gekommen. „Das war, als wir | |
noch einen richtigen Winter hatten“, sagt er. Von Moorfleet aus sei er auf | |
Langlaufskiern über den Deich gefahren, eines Sonntagmorgens zum | |
Frühschoppen. „Ist schon ’ne Weile her.“ War der Rückweg nicht | |
problematisch? „Nö“, sagt Karl-Heinz. So richtig viel über den Durst | |
trinken sie ja nie. | |
Wobei, früher war das anders, lässt Hermann durchblicken. Garbs | |
verschwindet und kommt mit Fotos zurück und man bekommt eine Idee davon, | |
wie es in den Achtzigern hier abging. Auf einem Bild von 1985 erkennt man | |
Hermann mit glänzendem braunen Haar, sonnengebräunt und ganz in Weiß | |
gekleidet. Auf einem anderen tanzt eine Frau mit knöchellangem Kleid auf | |
dem Tresen. Auf einem dritten trinkt jemand aus einem Gummistiefel. | |
## Der „Korkenclub“ sammelt Geld | |
„Hest em bi di?“, fragt plötzlich einer der Herren seinen Sitznachbarn, | |
„Hast du ihn dabei?“ Hermann zieht schlagfertig einen halben Korken aus der | |
Tasche. Seit 40 Jahren ist er im Korkenclub, seitdem hat er immer einen | |
halben Korken in der Hosentasche. Die Initialen, die in den Korken gebrannt | |
waren, sind nicht mehr erkennbar. NKC stand da, Neudorfer Korkenclub. Die | |
Regeln sind einfach: Wer auf Nachfrage nicht seinen halben Korken vorzeigen | |
kann, zahlt 50 Cent Strafe. Egal, wo man sich trifft – bei Edeka, auf der | |
Straße, in der Kneipe. | |
Früher haben sie von dem Geld richtige Ausflüge gemacht, Barkassenfahrten | |
zum Beispiel. Jetzt machen sie einmal im Jahr eine Feier, gegen Ende | |
November meistens. Dann gibt es Grünkohl nebenan im Festsaal, der auch zu | |
Garbs' Gasthof gehört. Dort findet auch der Korkenball statt. Zu beiden | |
Veranstaltungen dürfen auch Damen kommen, davon abgesehen ist der | |
Korkenclub ein reiner Männerverein. „Ein sehr seriöser Unterhaltungsclub | |
für Männer“, sagt ein Herr im blau-weiß gestreiften Hemd. Er ist der | |
Vorsitzende des Korkenclubs. | |
Jeden ersten Freitag im Monat hält der Korkenclub eine Versammlung ab. Dann | |
ist die Kneipe zwar offen, aber öffentlich ist die Veranstaltung nicht, man | |
muss schon Klubmitglied sein. Der Vorsitzende klingelt im Laufe des Abends | |
eine Glocke, und alle müssen die Klappe halten, nur einer hat das Wort. Wer | |
ihn unterbricht, zahlt 50 Cent Strafe. | |
Fred erzählt, wie es war, als er dran war mit Reden: „Ich hab erst mal gar | |
nichts gesagt.“ Woraufhin ihn der Vorsitzende aufgefordert hätte, eine | |
möglichst provozierende Rede zu halten, damit er unterbrochen würde und | |
viel Geld zusammenkäme. „Nö“, habe Fred gesagt, „ich will ein einziges … | |
meine Ruhe vor euch haben.“ Daraufhin hätten alle empört und durcheinander | |
gerufen: „Das musst du gerade sagen!“ 70 Mark seien an dem Abend | |
zusammengekommen. | |
7 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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