| # taz.de -- Erstes Virtual-Reality-Kino in Deutschland: Schnitte mit dem Hula-H… | |
| > Ein Kino in Berlin hat sich auf 360-Grad-Filme spezialisiert. Das junge | |
| > Medium testet seine dramaturgischen Grenzen noch aus. | |
| Bild: Jeder schaut seinen eigenen Film: Besucher des Virtual-Reality-Kinos in A… | |
| Zum ersten Mal hat man den Eindruck, sich in einer virtuellen Wirklichkeit | |
| zu befinden, noch bevor man das Virtual-Reality-Kino in Berlin-Mitte | |
| betreten hat. Die ehemalige Geldfabrik, in der seit den 1930er Jahren | |
| Münzen geprägt wurden, entpuppt sich auch ganz ohne Virtual-Reality-Brille | |
| als die Art von historischem Gebäudeblock, in dem in den 1990er Jahren der | |
| Mythos von Berlin als Stadt des Nachtlebens, Untergrunds und billiger | |
| Freiräume für Kreativität seinen Ausgangspunkt nahm. | |
| Auf dem Hof stehen ein paar improvisierte Bretterbuden, die offenbar von | |
| einer Party übrig geblieben sind. Hinter ihnen künden staubblinde Fenster | |
| in historischen Fassaden von offenbar leer stehenden Gewerbeflächen, auf | |
| denen man seiner Kreativität freien Lauf lassen könnte. | |
| Die 1990er Jahre waren es auch, in denen die Idee der virtuellen Realität | |
| (VR) zum ersten Mal in großem Stil propagiert wurde. Medienkünstler und | |
| Computerspielfirmen entwickelten erste, mofahelmgroße Videobrillen, mit | |
| denen man in imaginäre, dreidimensionale Räume eintauchen sollte. Die | |
| notwendigen Sichtgeräte waren klobig und schwer, die Computer noch zu | |
| langsam, um glaubwürdige Raumdarstellungen möglich zu machen. Und wer die | |
| Dinger zu lange auf dem Kopf hatte, dem wurde schwummerig. Die Technologie | |
| verschwand in der Hightech-Mottenkiste, und stattdessen trat das Internet | |
| seinen Siegeszug an. | |
| Doch seit das Start-up-Unternehmen Oculus VR für seine Datenbrille erst | |
| beim Crowdfunding Rekordsummen einsammelte und dann für zwei Milliarden | |
| Dollar von Facebook gekauft wurde, glauben viele an eine zweite Chance für | |
| die Technologie. Die Oculus-Rift-Brille und die zahlreichen ähnlichen | |
| Produkte, an denen unter anderem Unternehmen wie Sony, Valve und HTC | |
| arbeiten, sind zwar in erster Linie für Computerspiele gedacht. Aber eine | |
| Reihe von Regisseuren hat begonnen, Filme für diese Plattformen zu machen, | |
| die die Eigenschaft des Medium ausnutzen, Zuschauer mit einem | |
| 360-Grad-Panorama zu umgeben. Seit Anfang März zeigt das VR-Kino in Berlin | |
| eine Auswahl davon. | |
| Für 12 Euro gibt es im ersten VR-Kino Deutschlands – nach Amsterdam dem | |
| zweiten in Europa – ein halbstündiges Programm. Mehr will man dem ungeübten | |
| Betrachter am Anfang nicht zumuten. Junge Helfer setzen einen in einen | |
| kugelförmigen Drehstuhl, erklären die Technik und platzieren eine | |
| Gear-VR-Datenbrille, in der ein Samsung-Galaxy-S6-Smartphone als Monitor | |
| steckt, sowie einen Kopfhörer auf den Kopf des Besuchers. | |
| ## Vorbei am klingelnden Hummertelefon | |
| Dann startet mit einem sanften Druck auf das Touchpad am Rand der Brille | |
| der erste Film. Der zeigt eine komplett digital animierte Wüstenlandschaft, | |
| die von den Gemälden Salvador Dalís inspiriert ist. In einer | |
| Nonstopkamerafahrt bewegen wir uns auf die zwei anthropomorphen Türme | |
| aus Dalís Gemälde „Archäologische Erinnerung an Millets Angelus“ zu, fah… | |
| durch ein kleines Tor am Fuß des einen Turms, vorbei an einem klingelnden | |
| Hummertelefon, während am Horizont Elefanten mit den endlos langen Beinen | |
| auftauchen. Man fliegt auf die Karawane zu, dreht dann elegant ab und | |
| zischt von unten in den zweiten Turm, an dessen Fuß ein Technicolor-bunter, | |
| durchsichtiger Hippie meditierend in der Luft schwebt, während wir im | |
| Inneren des Turms hochsausen und der Film schließlich mit dem Blick auf | |
| einen dramatischen Sternenhimmel über den Türmen endet. | |
| Das klingt nach Kitsch und ist es auch. Aber der Film zeigt auch gleich | |
| einige der Stärken und Schwächen von VR-Filmen paradigmatisch auf. Da | |
| stellt sich zunächst einmal die Frage, ob das überhaupt noch Film ist, wenn | |
| man als Betrachter absolute Wahlfreiheit hat, die eigene Blickrichtung zu | |
| bestimmen und zum Beispiel immer nur dahin zu gucken, wo nichts passiert. | |
| Die Kraft des traditionellen Kinos besteht ja auch gerade darin, dass | |
| der Regisseur den Zuschauer quasi an den Ohren nimmt und ihn zwingt, in | |
| bestimmten Abständen auf bestimmte Dinge zu sehen. | |
| Bei den VR-Filmen kann man die Aufmerksamkeit des Betrachters nur mithilfe | |
| der Kamerabewegung lenken. So blickt man automatisch auf das, worauf die | |
| Kamera zusteuert. Oder man dreht sich, zumindest am Anfang, wild auf seinem | |
| Stuhl herum und bewegt den Kopf nach oben und nach unten, um das ganze | |
| Rundumpanorama zu erfassen. Davon wird einem aber dann schnell ein bisschen | |
| blümerant. | |
| Schnell wird auch klar, dass – wie auch beim 3D-Kino – der Raumton wichtige | |
| Orientierungshilfen beim Sehen liefert: Geräusche aus dem Off können den | |
| Nutzer auch dazu bringen, in eine bestimmte Richtung zu schauen. | |
| Der nächste Film ist ein Musikvideo, das aus einer unveränderten Position | |
| und ohne stereoskopische Raumtiefe eine Band in selbst gebastelten Kostümen | |
| beim Musizieren zeigt. Hier wird das Problem der Montage in Angriff | |
| genommen. Die übrigen Filme bestehen vor allem aus Kamerafahrten, denn | |
| Schnitte eines Umfelds würden auf den Betrachter wohl desorientierend | |
| wirken. Bei dem Musikclip wird zwischen verschiedenen Sequenzen gewechselt, | |
| indem immer wieder ein Hula-Hoop-Reifen oder ein Spiegel an dem Betrachter | |
| vorbeigezogen werden, die die eine Szene weg- und die andere herschieben. | |
| ## Wo und wer ist der Betrachter? | |
| Gerade der Spiegel macht aber ein weiteres Problem des VR-Kinos deutlich: | |
| Wo ist der Betrachter in dem Film, als dessen Mittelpunkt er sich ja fühlen | |
| muss? Der Spiegel zeigt jedenfalls immer wieder an der Stelle, an der sich | |
| der Betrachter befinden müsste, einen Turm mit mehreren Objektiven: die | |
| Kamera, die die 360-Grad-Szene aufgenommen hat als ein offenbar bewusst | |
| eingesetzter Verfremdungseffekt, der den etwaigen Eindruck der | |
| unmittelbaren Wahrnehmung zerstört. | |
| Es folgt ein Flug durch eine digital animierte Höhlenlandschaft voller | |
| geometrischer Wände, bei denen ein weiteres Problem deutlich wird: Die | |
| Auflösung des als Monitor verwendeten Smartphones ist zu gering, und die | |
| detaillierte Zeichnung der Wandmuster zerlegt sich beim Näherkommen in | |
| Pixelklumpen. Da erlauben die Prototypen von Oculus Rift wesentlich | |
| detailgenauere Bilder. | |
| Witzig ist ein japanischer Film, der Emojis in einem Smartphone bei der | |
| Arbeit zeigt. In einer Art Amphitheater warten sie darauf, dass der Nutzer | |
| des Handys eines von ihnen auswählt, dann fliegen sie durch einen bunten | |
| Cyberspace voller Lichtblitze und dynamischer Linienlabyrinthe zum | |
| Empfänger. Wieder ist alles in einer einzigen, virtuellen Kamerafahrt | |
| gedreht. | |
| ## Ein Blick durch die „Vierte Wand“ | |
| Der letzte Film ist noch mal ein Realfilm, er stammt vom Niederländer Jip | |
| Samoud, der auch der Betreiber des Berliner VR-Kinos ist, nachdem er zuvor | |
| bereits ein solches in Amsterdam eröffnet hat. Zwei holländische | |
| Schauspieler werden von einem Reality-TV-Team in ihrem schicken Loft | |
| überrascht, und die Reporter haben ihnen einen syrischen Flüchtling als | |
| Untermieter mitgebracht. Die liberalen Gutmenschen lassen sich schnell eine | |
| Reihe von Ausreden einfallen, warum sie den Flüchtling leider nicht | |
| aufnehmen können. | |
| Am Schluss fragen die Schauspieler durch die „vierte Wand“ direkt den | |
| Zuschauer, was sie denn nun tun sollen – ein dramaturgischer Kunstgriff, | |
| der beim VR-Film natürlich besonders gut funktioniert, weil es hier die | |
| „vierte Wand“, die beim traditionellen Kino den Zuschauer vom Geschehen auf | |
| der Leinwand oder dem Monitor trennt, eigentlich nicht gibt. | |
| Hat man die Datenbrille abgesetzt, empfindet man erst mal einen leichten | |
| Schwindel und ist beim Aufstehen etwas wackelig auf den Beinen. Beim | |
| Verlassen des Gebäudes wirkt der Innenhof der Alten Münze dann noch etwas | |
| mehr als beim Betreten wie eine Virtual-Reality-Simulation des Berlins der | |
| 1990er Jahre. | |
| 30 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Tilman Baumgärtel | |
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