| # taz.de -- Debatte Teilhabegesetz: Spielräume für das Glück | |
| > Schwerstbehinderte brauchen die Hilfe anderer, um eigenständig zu sein. | |
| > Diesem Paradox muss sich der Sozialstaat stellen. | |
| Bild: Das Gesetz betrifft 750.000 Menschen, die „wesentliche“ Behinderungen… | |
| Der jüdische Psychiater Viktor Frankl, KZ-Überlebender, hat in seinem Leben | |
| zur Resilienz geforscht. Das ist die Widerstandskraft, die Menschen in fast | |
| ausweglosen Situationen entwickeln, um zu überleben. Ihn beschäftigte die | |
| Frage, warum von den KZ-Insassen, die nicht sofort ermordet wurden, manche | |
| den Aufenthalt im Konzentrationslager überstanden, andere aber rasch | |
| zugrunde gingen. | |
| Frankl kam zu dem Schluss, dass man auch in der eingeschränktesten | |
| Situation noch Handlungsmöglichkeiten haben muss, sei es für | |
| Freundschaftsdienste oder ein bisschen schwarzen Humor. Und dass man einen | |
| Sinn in der eigenen Existenz sehen muss, trotz des Leidens. Nur dann spürt | |
| man innere Autonomie und Kraft, die wichtig sind für das Überleben. | |
| Frankl wird in der Behindertenszene verehrt, denn die Frage der | |
| Selbstbestimmung ist zentral auch für Menschen mit Handicaps, die kein | |
| Mitleid brauchen, sondern ein Recht auf Handlung und Lebenssinn wie andere | |
| auch. Doch wer körperlich sehr behindert ist, lebt in einem Paradoxon: Er | |
| braucht andere, um selbst handeln und entscheiden zu können. | |
| Dieses Paradox, angewiesen zu sein auf andere, um eigene Handlungsfreiheit | |
| zu erlangen, stellt unsere gängigen Werte von Selbstverantwortung auf den | |
| Kopf. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum Nichtbehinderte das Thema | |
| meiden. In diesem Spannungsfeld steht das Bundesteilhabegesetz für | |
| Behinderte, dessen Entwurf im Juni im Bundeskabinett beschlossen werden | |
| soll. | |
| ## Eingliederungshilfe kostet 15 Milliarden im Jahr | |
| Das Gesetz betrifft vor allem 750.000 Menschen, die „wesentliche“ | |
| Behinderungen haben und in ihrer Teilhabe schwer eingeschränkt sind. Sie | |
| bekommen die sogenannte Eingliederungshilfe, das sind Assistenzleistungen | |
| bei der Arbeit und in der Freizeit. Viele der stark eingeschränkten | |
| Rollstuhlfahrer sind außerdem auf Hilfe zur Pflege in der Wohnung | |
| angewiesen. | |
| Der Deutsche Landkreistag rechnet vor, dass die Eingliederungshilfe die | |
| Kommunen jetzt schon rund 15 Milliarden Euro im Jahr kostet und das Gesetz | |
| diese Kosten in die Höhe treiben könnte, weil es Ansprüche ausweite. Die | |
| Behindertenverbände befürchten einigen Verbesserungen zum Trotz neue | |
| Verschlechterungen. | |
| Dabei geht es um Paragrafen, die den Kommunen erlauben, die | |
| „Angemessenheit“ der Kosten für Assistenzleistungen infrage zu stellen und | |
| Assistenzleistungen zu „poolen“, also zusammenzulegen, um etwa von einem | |
| Helfer mehrere Behinderte betreuen zu lassen. Durch das „Poolen“ stünde bei | |
| ambulant Betreuten nicht immer ein Assistent für einen Rollstuhlfahrer | |
| allein zu Verfügung. Eine finanziell klamme Gemeinde könnte zudem fordern, | |
| dass Schwerstbehinderte in Wohngemeinschaften zusammenziehen, um | |
| Personalkosten bei der Betreuung zu sparen, argumentieren die | |
| Betroffenenverbände. Die ambulante Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines allein | |
| lebenden schwerst eingeschränkten Rollstuhlfahrers mit mehreren Assistenten | |
| im Schichtdienst kann 10.000 Euro im Monat und mehr kosten. | |
| ## Existenzielle Ängste | |
| Einkommen und Vermögen auch eines Ehe- und Lebenspartners sollen weiterhin | |
| auf Sozialleistungen angerechnet werden, wenn die Betroffenen im häuslichen | |
| Bereich Hilfe zur Pflege bekommen, auch das rügen die Sozialverbände. In | |
| den sozialen Netzwerken melden sich aber Hartz-IV-Empfänger kritisch zu | |
| Wort: Auch bei ihnen werde Einkommen und Vermögen auf die Sozialleistung | |
| angerechnet. Man ahnt, dass es Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) | |
| niemandem wird recht machen können. | |
| Der Protest ist erheblich. Einige Dutzend Rollifahrer ließen sich unlängst | |
| von ihren AssistentInnen demonstrativ [1][eine Nacht vor dem Reichstag | |
| anketten]. Eine Tagung der SPD wurde von massiven Pfeifkonzerten und | |
| Buhrufen begleitet. Zu einer Veranstaltung der Grünen kamen hunderte | |
| Betroffene mit ihren AssistentInnen oder Angehörigen. Man konnte die Wut | |
| und Angst im Raum spüren. Für Schwerstbehinderte, die teilweise weder Beine | |
| noch Arme bewegen können, und für ihre Familienangehörigen weckt jede | |
| Aussicht auf einen Verlust an Assistenzleistungen existenzielle Ängste. | |
| Denn sie haben keine Alternative, die Angehörigen sind am Ende ihrer Kraft. | |
| Ein solcher Verlust bedeutete, wieder gefangen zu sein im eigenen Körper, | |
| nicht selbständig zu leben, nicht studieren, nicht arbeiten, sich nicht in | |
| der Öffentlichkeit bewegen zu können. Nur so kann man den bitteren Ton | |
| vieler Betroffener verstehen, wenn über die Schwächen des Gesetzes | |
| öffentlich diskutiert wird. | |
| ## Zugeständnisse von allen | |
| Oft wird dabei auf die UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen, 2009 auch | |
| von der Bundesregierung ratifiziert. Danach soll die Gesellschaft | |
| Behinderten eine „gleichberechtigte“ Teilnahme am beruflichen und | |
| kulturellen Leben ermöglichen. Als Ziel ist das richtig, die Wahrheit aber | |
| lautet auch: Niemals können soziale Dienstleistungen durch andere die | |
| Nachteile, die existenzielle Besonderheit einer schweren, meist | |
| schicksalsbedingten Behinderung wirklich ausgleichen. | |
| Die Solidargesellschaft kann nur einen größtmöglichen Spielraum für Lernen, | |
| Arbeiten, für Freundschaft, Liebe und Glück herstellen. Dabei muss es | |
| Zugeständnisse geben, von allen Seiten. Der Versuch des „Poolens“ von | |
| Assistenzleistungen, das Koordinieren von Hilfen, sollte nicht von | |
| vornherein verdammt werden. Die Betroffenen müssen dabei aber ein | |
| Mitentscheidungsrecht haben. Dies sieht das Gesetz bis jetzt nicht vor. | |
| Es ist auch in Ordnung, dass Einkommen und Vermögen der Betroffenen nicht | |
| vollständig freigestellt werden von jeglicher Anrechnung auf die Hilfen. | |
| Aber Partner, die oft schon sehr viel unbezahlt tun für ihre behinderten | |
| Lebensgefährten, sollten mit ihrem Vermögen oder ihrem Erbe nicht mehr in | |
| Mithaftung genommen werden für die Kosten der Hilfe zur Pflege. Das ist | |
| eine Beziehungsblockade. | |
| Eine Behinderung kann jeden treffen, und tief im Innern wissen das auch | |
| Nichtbehinderte. Die Ermöglichungspolitik für Menschen mit schweren | |
| Einschränkungen ist deshalb ein Band für alle. Und vielleicht eins der | |
| höchsten Güter, die wir im Sozialstaat haben. | |
| 7 Jun 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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