| # taz.de -- Sprechen lernen nach einem Unfall: Raue, schmatzende, ploppende Tö… | |
| > Ein schwerer Autounfall nimmt Michael Bergen die Fähigkeit zu sprechen. | |
| > Das Beatboxen hilft ihm, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. | |
| Bild: Michael Bergen nahe der Stelle, an der er frontal überfahren wurde. Dass… | |
| Oyten taz | Unfall. Tod. Schwerbehindert. Döner. Es sind erste Worte, die | |
| Michael Bergen in den Sinn kommen, wenn er vom Anfang spricht – von der | |
| Nacht mit dem Autounfall. Als er volltrunken allein von einer Party nach | |
| Hause geht. Im Schneidersitz sitzt der schlaksige 22-Jährige auf dem Boden | |
| eines Schotterweges. Das Ortsschild des niedersächsischen Oyten nahe Bremen | |
| ist in Sichtweite. | |
| Sechs Jahre nach dem Unfall ist er wieder hier und nur 50 Meter von der | |
| Straße entfernt, auf der ihn 2010 ein Autofahrer frontal überfährt. Dass er | |
| mal mehr als vier Worte reden können wird, scheint da noch nicht möglich. | |
| „Im Krankenhaus dachten alle um mich herum, dass ich behindert bleiben | |
| werde. Es stand auch im Raum, dass ich sterben könnte, aufgrund meiner | |
| verdammt schweren Verletzungen. Genau das dachte ich im Krankenhausbett: | |
| Jetzt sterbe ich.“ | |
| Lange Zeit findet Michael Bergen diese Worte nicht. Statt Worten hat er bei | |
| seiner Einlieferung im Krankenhaus nur Bilder im Kopf, träumt in Bildern. | |
| Sein Sprachgedächtnis liegt irgendwo im grauen Nebel – unerreichbar für den | |
| jungen Mann, der zur Zeit seines Unfalls gerade fürs Abitur lernte. Es ist | |
| das Fahrradfahren, aber auch die Musik, die das Chaos in seinem Kopf ordnen | |
| und ihn entspannen. | |
| ## Schmatzende, brummende, ploppende Töne | |
| HipHop hat er früher schon gehört, nun fängt er an, selbst Musik zu machen: | |
| Beatboxen, für das er seine Mundmuskulatur wie ein Schlagzeug einsetzt. | |
| Dabei fühlt er sich frei. Plötzlich erinnert er sich an Momente, die vorher | |
| im Graubereich lagen: „Allein mit Worten kann ich nicht alles beschreiben“, | |
| sagt er. Dieser Einfluss macht ihm schließlich Mut, auch seine Sprache zu | |
| trainieren. Es gelingt. | |
| Heute, nahe der Landstraße, lärmen Vogelgezwitscher und Autos um die Wette, | |
| so als sei nie etwas gewesen. Michaels Blick ist, während er erzählt, die | |
| meiste Zeit auf die vorbeifahrenden Autos gerichtet, sein Rennrad liegt | |
| neben ihm. | |
| Beatboxen beginnt der 22-Jährige immer dann, wenn er gute Laune hat. Auch | |
| in der Öffentlichkeit; wenn andere irritiert gucken, macht ihm das nichts | |
| aus. Gerade ist wieder einer dieser Beatboxmomente. Er fängt mit einem | |
| leisen, lang gezogenen Summen an und schnalzt dann gleichzeitig, um einen | |
| ersten Takt zu formen. Dann verlässt seine vibrierenden Lippen ein | |
| brummender Bass, und irgendwie schafft er es, noch einen hohen Ton aus | |
| seiner Kehle dazwischenzupressen. | |
| Es kommen raue, schmatzende, brummende und ploppende Töne, alles ist frei | |
| improvisiert. Durch die Nase zieht Michael Bergen in Abständen von zehn | |
| Sekunden neue Luft, ohne dabei das Beatboxen zu unterbrechen. | |
| ## Erinnerungen in Dunkelgrau | |
| In der Vergangenheit hat er es benutzt, um sein Mundwerk beweglicher zu | |
| machen. Wollte er Worte formen, fühlte sich Michael Bergen beim Sprechen | |
| wie in einer Zeitlupe gefangen. Das Beatboxen lockerte nach und nach seinen | |
| Mund. Aus vier gestotterten Wörtern wurden ganze Sätze. Und irgendwann | |
| lockerte sich schließlich seine Zunge. | |
| Heute spricht Michael sehr präzise. Aussprache ist ihm wichtig. Wenn ihm | |
| Wörter nicht einfallen, umschreibt er sie. Als wäre er ein Künstler, der | |
| Worte malt. Nur dass ihm hin und wieder die Farben ausgehen. | |
| Einige Erinnerungen beschreibt Michael Bergen in Dunkelgrau: „Geh in die | |
| Werkstatt. Gehe zum Schraubstock. Hole deine Eier raus und schraube sie im | |
| Schraubstock zu.“ Kurz hält er an. Schweigt. Denkt nach. Und dann schießt | |
| es aus seinem Mund: „Dann hast du ein ähnliches Gefühl in der Bauchgegend, | |
| wie ich es gehabt habe.“ | |
| Der frühe Mittag verwandelt sich in einen Nachmittag. Erster | |
| Feierabendverkehr rollt über die Landstraße. Im Licht der Sonne schimmert | |
| Michael Bergens braunes Haar. Darunter sind seine Unfallnarben am Kopf | |
| verborgen. Noch im Klinikum Bremen-Mitte wird seine Schädelplatte operativ | |
| geöffnet, um dem angeschwollenen Gehirn Platz zu geben. Er überlebt den | |
| Eingriff, diverse Knochenbrüche und das Schädelhirntrauma; lernt in der | |
| Reha, sich mühsam wieder ohne Rollstuhl oder Rollator zu bewegen. Sich mit | |
| Worten auszudrücken fällt ihm da noch schwer. | |
| ## Volltrunken von der Party nach Hause | |
| „Mein erstes Wort war ‚Döner‘ “, erinnert sich Michael Bergen belustig… | |
| Das war, als seine Tante ihn im Krankenhaus besuchen kam. „Ich hatte keine | |
| Lust mehr auf den Brei. Jeden Tag nur Brei.“ Er zieht seine Mundwinkel | |
| zusammen, als hätte er gerade noch mal davon kosten müssen. „Ich will | |
| Döner!“, wiederholt Michael und spricht den Satz so aus, als sei er | |
| behindert – stotternd und langsam. Michael ist behindert. Und irgendwie | |
| doch nicht. Er weiß es nicht so richtig. Eine kleine Plastikkarte weist ihn | |
| als schwerbehindert aus. Zu 70 Prozent. | |
| Sein ehemals bester Kumpel Dimitri Skripkin besucht ihn damals als einer | |
| der ersten Freunde am Krankenbett. Der 23-jährige Berufskraftfahrer erzählt | |
| in seinem Wohnzimmer im Bremer Stadtteil Göppingen, was ihn nach jener | |
| Oktobernacht lange Zeit nicht loslässt. Krampfhaft entspannt sitzt Dimitri | |
| dabei auf seiner Couch und schlägt mit seiner Klatsche Fliegen tot. Auf | |
| einem seiner beiden großen Flatscreens hält er eine Serie an, die er gleich | |
| weitergucken will. Seine Erinnerung spult er ab, als wäre sie ein oft | |
| gesehener Film – ohne Happy End. | |
| Dimitri Skripin kennt Michael noch aus der Schule als den eher | |
| introvertierten Nerd, der in seiner Freizeit programmiert und zockt. Die | |
| Freunde zischen zusammen ihre ersten Biere, Michael trinkt auch mal allein | |
| eine ganze Wodkaflasche. Am Wochenende fahren sie mit Dimitris Roller zu | |
| Partys in der Umgebung von Bremen. Und so ist es auch in der Unfallnacht. | |
| Dimitri versucht noch, Michael davon abzuhalten, allein und volltrunken von | |
| der Party nach Hause zu gehen; läuft ihm hinterher. Doch der Freund reißt | |
| sich los. | |
| Als der 16-jährige Dimitri seinen besten Freund das erste Mal im | |
| Krankenhaus sieht, können sie sich nur per Zeichen verständigen. Wenn | |
| Michael zum Beispiel die Zehen bewegt. Dimitri hat Angst, dass Michael | |
| stirbt. „Er konnte nicht reden, er konnte gar nichts. Er konnte nur die | |
| Augen aufmachen, gähnen und sonst nichts.“ | |
| ## 15 Minuten vor dem Kühlschrank | |
| Heute sehen sich die beiden eher selten. Das ist okay für Michael. Er geht | |
| seinen eigenen Weg; ist viel unterwegs und deshalb trotz des durchwachsenen | |
| Sommers ganz braun im Gesicht. Gerne spricht er Leute auf der Straße an. | |
| Manchmal hat er dann sein selbst gebasteltes Didgeridoo dabei, dem | |
| Instrument der Aborigines nachempfunden, das einem Regenrohr ähnelt. Über | |
| seine Musik kommt er schnell mit Fremden ins Gespräch. Wenn ihm ein Mädchen | |
| gefällt und er sich gut fühlt, spricht er es an. Der neue Michael fühlt | |
| sich freier als der alte. | |
| Nach fast einem Jahr aufeinanderfolgender Diagnosen und Operationen geht es | |
| Michael Bergen 2011 nur langsam besser. Er verfährt sich nicht mehr so oft | |
| mit dem Bus, spricht klare Sätze und hat schließlich einen Job im | |
| Martinshof, einer Behindertenwerkstatt. Dort baut er Kisten für das | |
| Mercedes-Benz-Werk in Bremen zusammen. Oder wäscht Autos. Er findet es | |
| überhaupt nicht komisch, schließlich war es ein Auto, das ihm fast das | |
| Leben genommen hat. Und die Sprache. | |
| „Ich wollte genesen“, erinnert sich der 22-Jährige. Einfach war das nicht | |
| immer, gerade in der Zeit direkt nach dem Krankenhaus. Zum ersten Mal wohnt | |
| er allein. Oft hängt er vor dem Computer. Zwei Jahre nach dem Autounfall | |
| trinkt er wieder regelmäßig Alkohol, heute spricht er von Sucht. Michael | |
| Bergen will mithalten, er versucht, jemand zu sein, den er gar nicht mehr | |
| kennt – er selbst, der alte Michael. | |
| 2012 ist auch die Zeit, in der Michael anfängt, neben dem Alkohol zu | |
| kiffen. Exzessiv. Er hat falsche Freunde und gibt sich fast auf. „Ich bin | |
| nicht stolz drauf“, sagt er heute. Sein Wortschatz schrumpft rapide. Als er | |
| einmal für Freunde eine Cola aus der Küche holen soll, steht er 15 Minuten | |
| lang vor dem Kühlschrank. Er hat vergessen, was er eigentlich wollte. | |
| Vieles kann Michael Bergen heute nicht mehr rekonstruieren. | |
| ## Im Flow sein | |
| Ein entscheidender Moment fällt ihm trotzdem ein: „Als ich dachte, es wird | |
| nicht besser, hab ich mich zu Hause aufs Dach gesetzt – im siebten Stock. | |
| Dann habe ich über den Rand nach unten geschaut und überlegt, ob das jetzt | |
| sein soll oder nicht.“ Nach einigem Schweigen fährt Michael fort. „Ich | |
| glaube es ist ganz gut, dass ich damals nicht gesprungen bin.“ Sofort | |
| korrigiert er sich mit entschiedenem Ton: „Ich weiß, dass das gut war!“ | |
| Michael Bergen zieht kurz darauf aus seiner ersten eigenen Wohnung zurück | |
| zu seinem alleinerziehenden Vater und seinen zwei Brüdern. Als er mit dem | |
| Kiffen aufhört, lichtet sich auch wieder der Nebel über seinem | |
| Sprachzentrum. | |
| Michael ist wichtig, dass er mehr ist als das Unfallopfer. Noch wichtiger | |
| ist ihm aber das Beatboxen, im Flow zu sein: „Hallo, ich bin Michael. Ich | |
| bin 22 Jahre alt, komme aus Bremen und bin Beatboxer. Das könnte meine | |
| Anrede sein“, fängt er an. Er findet Spaß daran und fährt fort: „Zweiten… | |
| Hallo, ich bin Michael, 22, und komme aus Bremen. Ich hatte vor sechs | |
| Jahren einen schweren Unfall. Bitte hör mir zu und hör dir meine Geschichte | |
| an. Und dann fange ich an zu erzählen.“ | |
| Inzwischen kann er sich darauf verlassen, dass Worte in ihm hochkommen, | |
| wenn er einen Satz anfängt. Wenn er im Flow ist, werden seine Augen wach | |
| und starren nicht mehr auf die Landstraße. „Ich bin diesem Ort nicht böse. | |
| Und dem Fahrer von damals auch nicht“, sagt er, als sei dies | |
| selbstverständlich. „Natürlich würde ich ihn fragen, wieso er nicht auf die | |
| Straße geschaut hat. Aber im Endeffekt ist er auch nur ein Mensch.“ Kurz | |
| blickt Michael zur Seite: „Menschen machen Fehler.“ | |
| 3 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| André Beinke | |
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