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# taz.de -- Italien und EU-Flüchtlingspolitik: Erinnerung an Lampedusa
> Die Balkanroute ist dicht. Italien fürchtet, wieder stärker zum
> Transitland zu werden. Vor Lampedusa starben vor einem Jahr 1.000
> Menschen.
Bild: Flüchtlinge stehen im Hafen des sizilianischen Küstenortes Pozzallo in …
ROM taz | Trocken lesen sich die Kommuniqués der italienischen Küstenwache
vom letzten Montag und Dienstag. In der Straße von Sizilien wurden binnen
48 Stunden 4.004 Menschen gerettet, die mit Schlauchbooten und alten Kähnen
von Libyen aus in See gestochen waren.
Zahlen wie gehabt. Zahlen, die zur Nachrichtenroutine geworden sind, knapp
gemeldet irgendwo auf den hinteren Seiten der Zeitungen. Zahlen
schließlich, von denen es im italienischen Fernsehen – anders als noch vor
wenigen Monaten – keine Bilder mehr gibt: Kein Sender schickt noch Reporter
nach Lampedusa oder nach Trapani auf Sizilien, um die Flüchtlinge zu
filmen, während sie von Bord gehen.
Die Bilder dagegen kommen in diesen Tagen aus dem hohen Norden Italiens,
vom Brenner, gut 1.800 Kilometer von Lampedusa entfernt, und sie zeigen
schweres Baugerät, aufgefahren von den Österreichern, um wieder Barrieren
an der seit 1998 offenen Grenze zu errichten. Mit einer Mischung aus
Ungläubigkeit und Empörung schaut Italiens Öffentlichkeit auf die
Bauarbeiten, während Staatspräsident Sergio Mattarella am Mittwoch bei
einem gemeinsamen Auftritt mit Bundespräsident Joachim Gauck wetterte,
„Mauern und Barrieren“ seien der falsche Weg, „um uns zu schützen“.
Mehrere Jahre lang hatte Italien im Fokus der Fluchtbewegungen Richtung
Europa gestanden, und nun fürchtet es, nach der Abrieglung der Balkanroute
nicht nur erneut diese Rolle zugewiesen zu bekommen, sondern auch erneut
„alleingelassen“ zu werden, wie schon vor dem April 2015. Damals zwangen
[1][die beiden Schiffskatastrophen vom 14. und 18. April] mit mehr als
1.000 Toten die EU zum Umdenken, so dass sich endlich eine Europäisierung
nicht nur der Rettungs-, sondern auch der Aufnahmepolitik für Flüchtlinge
abzuzeichnen schien.
## Lampedusa
Schon zuvor hatte eine Doppelkatastrophe eine Wende in der
Flüchtlingspolitik nach sich gezogen – allerdings nur der Italiens, nicht
Europas. Am 3. Oktober 2013 ertranken direkt vor Lampedusa 368 Menschen vor
allem aus Eritrea bei Kentern ihres Schiffs, und nur acht Tage später
starben vor Malta Hunderte Syrer. Die Regierung in Rom reagierte mit der
Seenotrettungsmission „Mare Nostrum“; vom November 2013 an kamen zahlreiche
Schiffe, Flugzeuge, Hubschrauber der Küstenwache und der Marine zum
Einsatz, leisteten Beistand auch unmittelbar vor der libyschen Küste.
Gar nicht zufrieden mit diesem humanitären Einsatz war vorneweg
Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière. Er geißelte „Mare Nostrum“
als indirekte Unterstützung für Schleuser. Die Mission war, so de Maizière,
„als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“. In der
Tat schnellte die Zahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge 2014 auf
170.000 hoch, etwa 80.000 von ihnen Syrer und Eritreer. Deutschland
jedenfalls wollte von der in Rom eingeklagten „Europäisierung der
Flüchtlingspolitik“ nichts wissen, im Gegenteil: Es drängte darauf, dass
„Mare Nostrum“ wieder eingestellt würde.
Und die Bundesregierung, unterstützt durch die EU-Kommission, hatte Erfolg.
Am 31. Oktober 2014 war Schluss mit dem Rettungseinsatz, stattdessen gab es
jetzt die europäische Frontex-Mission „Triton“, gedacht zum Schutz der
EU-Außengrenzen, nicht zur Rettung. Deshalb patrouillierten ihre Schiffe
nur noch innerhalb der 30-Meilen-Zone vor Sizilien und Süditalien.
An den Flüchtlingszahlen änderte dies nicht viel; auch 2015 kamen 154.000
Menschen vor allem von Libyen aus nach Italien. Während die Zahl der Syrer
auf 7.500 zurückging, stellten die Eritreer mit knapp 40.000 allein ein
Viertel davon. Italien hatte in den Jahren 2014/2015 derweil die
Aufnahmepolitik de facto zu einer europäischen Angelegenheit gemacht. Nur
ein Drittel der im Jahr 2014 Eingetroffenen stellten in Italien einen
Antrag auf Asyl oder humanitären Schutz. Gut 100.000 – vorneweg Syrer und
Eritreer, die sich fast geschlossen einer Identifizierung durch die
italienischen Behörden verweigerten – zogen nach Norden weiter, über die
Alpen, vor allem über den Brenner.
## Grenzschließung zum G-7-Gipfel
Was die Schließung dieser Route bedeutet, ließ sich schon im Juni 2015
besichtigen, als Deutschland anlässlich des G-7-Gipfels für einige Wochen
Schengen aussetzte und Grenzkontrollen vornahm. Binnen weniger Tage
strandeten mehrere tausend Flüchtlinge an den Bahnhöfen von Rom und
Mailand, gehindert an der Weiterreise.
So alleingelassen Italien sich von Europa fühlte, so allein ließ es
allerdings auch oft genug die Flüchtlinge im eigenen Land. Gerade einmal
gut 100.000 Aufnahmeplätze stehen zur Verfügung, die meisten von ihnen in
improvisierten Einrichtungen, die ihren Betreibern gute Geschäfte, den
Untergebrachten oft genug miserable hygienische Standards bescheren.
„Mehr Geld als mit Drogen“ lasse sich an den Flüchtlingen verdienen,
erzählte etwa der Boss eines zerschlagenen kriminellen Kartells, das in Rom
ein großes Rad mit Flüchtlingsheimen drehte. Doch es geht noch schlechter;
Ärzte ohne Grenzen spricht von etwa 10.000 Flüchtlingen, die trotz eines
legalen Aufenthaltsstatus ganz auf der Straße oder in Abbruchhäusern leben.
Ihre Zahl könnte in den nächsten Monaten weiter steigen. Schon sind alle
zur Verfügung stehenden Unterkünfte fast vollständig belegt, doch in den
ersten Monaten dieses Jahres trafen deutlich mehr Menschen ein als im
Vergleichszeitraum 2015. Knapp 20.000 Flüchtlinge zählte die International
Organisation for Migration bis 31. März, fast das doppelte gegenüber dem
Vorjahr.
## Mögliche Ausweichroute
Mit der Schließung der Balkanroute hat diese Zunahme wenigstens bisher
nichts zu tun, meint der Migrationsexperte Ugo Melchionda, Chef des
Forschungsinstituts Idos: „Die in Italien Eintreffenden kommen aus anderen
Ländern, vor allem aus Schwarzafrika. Syrer zu Beispiel sind kaum noch
vertreten.“ Nigeria, Gambia, Senegal, Mali, Guinea sind 2016 die
Hauptherkunftsländer. Dennoch ist da die Angst, Italien könne zur
Ausweichroute werden, zum Beispiel von Griechenland nach Albanien und dann
über die Adria.
So sehen das auch die Österreicher, glaubt Melchionda, „Griechenland ist
gefallen, jetzt ist Italien dran.“ Präventiv gedacht sei die Aufrüstung der
Brennergrenze, nicht so sehr auf die gegenwärtigen Flüchtlingsströme
kalkuliert als auf die Zukunft. Die Aufrechterhaltung des Schengenraums,
zugleich die Abkehr vom Dublin-Regime – wonach jedes EU-Land für „seine“
zuerst bei ihm eingetroffenen Flüchtlinge zuständig bleibt – hat Italien
immer gefordert. Und es hatte sich Hoffnung gemacht, an der Seite
Deutschlands eben dieses Ziel jetzt endlich zu erreichen.
Doch während die in der EU schon vereinbarte Flüchtlingsumverteilung von
160.000 Menschen aus Griechenland und Italien in andere Staaten einfach
nicht in Gang kommen will, macht Italien bei der im Gegenzug geforderten
Registrierung der Flüchtlinge seine „Hausaufgaben“. Mittlerweile „100
Prozent der Ankommenden“ würden mit Fingerabdrücken und Fotos erfasst,
behauptet Innenminister Angelino Alfano.
Es könnte sein, dass Italien nur eines davon hat: dass es nun wirklich auf
„seinen“ Flüchtlingen sitzen bleibt, stärker als je zuvor. Ob die
Grenzkontrollen im Mai oder im Juni beginnen, lässt Österreich noch offen.
Ein tiefer Einschnitt wäre es auf jeden Fall, meint Melchionda: „Italien
glaubte, es werde am Ende auch zu einem ‚kleinen Schengen‘ gehören, zum
Schengen Kerneuropas. Am Ende könnte es sich, genauso wie Griechenland,
draußen finden, herabgestuft zur Peripherie.“ Gegen diese Perspektive
laufen Roms Politiker Sturm – mit einer Ausnahme. Matteo Salvini, Chef der
fremdenfeindlichen Lega Nord, gratulierte den Österreichern. Die hätten, so
Salvini, wenigstens Politiker, „die die Interessen ihrer Bürger
verteidigen“.
15 Apr 2016
## LINKS
[1] /Schiffsunglueck-vor-Libyen/!5011994/
## AUTOREN
Michael Braun
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