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# taz.de -- TV-Serien und Marvel-Figuren: Zweifelnde HeldInnen
> „Daredevil“ und „Jessica Jones“ sind im Serienkosmos angekommen. Deren
> Charaktere sind so kaputt, dass sie auch Erwachsene interessieren.
Bild: Die „Daredevil“-Darsteller bei der Premiere der zweiten Staffel in Ne…
Man nennt ihn „Kingpin“, und das passt in der Tat besser zu ihm als sein
wirklicher Name Wilson Fisk. Überdimensional in der Statur ist der Mann und
unnachgiebig im Verhalten. Kingpins Plan: Er will Hell’s Kitchen, ein raues
Viertel zwischen der 34. und 57. Straße Manhattans, komplett sanieren.
Gentrifizierung galore – raus mit den Armen und Alten, rein mit den Reichen
und Neuen. Denn, so begründet es der Superschurke und Immobilienhai, das
Viertel würde schließlich „aufgewertet“, wenn seine Diversität zugunsten
einer gehobenen Mieter- und Käuferklasse verschwände.
Unrealistisch ist ein solcher Plot nicht. Auch wenn der Kingpin, sensibel
gespielt von Vincent D’Onofrio, seine Wünsche mit erbarmungsloser Gewalt
durchsetzt. Einer Gewalt, deren lustvolle Darstellung unter anderem der
Grund dafür ist, „Daredevil“ (die zweite Staffel läuft ab 18. März auf
Netflix) als Erwachsenenserie zu identifizieren.
Das Marveluniversum, aus dem die Figuren des Kingpin und seines
namensgebenden Widersachers, des blinden Anwalts Matt Murdock alias
Daredevil stammen, entfernt sich mit dieser Serie weit von seinem üblichen
Zielpublikum in den Formaten Comic und Blockbusterkino – den Jugendlichen,
ComicliebhaberInnen und -nerds. Sogar die „guten“ HeldInnen (die Villains
erst recht) sind düsterer als der zweifelnde Batman und kaputter als der
saufende Wolverine. Und haben alle Zeit der Welt (rund 13 x 50 Minuten pro
Staffel), um sich danebenzubenehmen.
„Das ist doch das Beste an Serien“, sagt der britische Schauspieler Charlie
Cox, der den Daredevil seit der ersten Staffel 2015 verkörpert, beim
Interview in Paris: „Man darf das Publikum auch mal verlieren und muss es
erst ein paar Folgen später wieder von sich überzeugen.“ Die Charaktere
seien vielschichtiger als in der Zwei-Stunden-Kino-Dramaturgie: „Man kann
sie langsamer und detaillierter entwickeln.“
## Rasant gefilmt
Langsam ist die visuell herausragende Serie, in der überzeugend
choreografierte, schnittfreie, pompöse Actionsequenzen über sechs Minuten
keine Seltenheit sind, jedoch nicht – auch wenn Kameramann Matthew J. Loyd
nach der ersten Staffel ausstieg. Daredevils neue Erlebnisse sind ebenfalls
rasant gefilmt und grenzen sich auch im Look von harmlosen und
kinderprogrammtauglichen TV-Serien à la „The Flash“ oder „Superman“ ab.
„Daredevil ist ja auch keine Superheldenserie“, meint Cox. „Sondern ein v…
den Charakteren angetriebener Krimi – mit Extras.“ Dass Daredevil und
Jessica Jones die in vielen anderen Reihen gängige Fallstruktur zugunsten
einer horizontal aufgebauten Dramaturgie hinter sich lassen, unterscheidet
das Werk ebenfalls. Ein weiteres Novum sind die Feinde des von Drew Goddard
adaptierten Helden: Nach dem Kampf gegen Gentrifizierung bekämpft man jetzt
Kiez-Bandenkriege – die im echten Hell’s Kitchen tatsächlich bis Mitte der
80er Jahre geführt wurden. „Man muss dran denken, dass die Fans, die früher
Marvelcomics lasen, inzwischen erwachsen sind. Und die sind die
Zielgruppe“, sagt Cox.
Menschen in der Mitte ihres Lebens haben eben eher Erfahrungen mit
Immobilienheuschrecken als Angst vor einem grimassierenden Gangster mit
Weltherrschaftsambition. Und sie mögen gut geschriebene Geschichten: Die
moralischen Dilemmata, in denen der katholische Murdock/Daredevil beim
Ausüben von Selbstjustiz steckt, die Fragen nach Vertrauen, Wahrheit und
Freundschaft, sind in der Serie tiefer vergraben als in Arthousedramen.
Doch man kann sie finden – und ernst nehmen.
Jedenfalls wenn man das mit dem Kostüm akzeptiert. Auch Daredevil trägt
sexy Catsuit – im Serienkontext wird das mit seiner Blindheit (die die
restlichen Sinne schärfte) und der Schutzfunktion des Anzugs erklärt.
„Dabei war es vor allem verdammt heiß“, sagt Charlie Cox und erzählt von
einer Diaologszene mit Jon Bernthal, der in Staffel 2 den Rachemörder „The
Punisher“ spielt: „Ich wurde gelobt, wie toll ich das mit der Träne
hingekriegt hätte, die genau richtig unter der Maske hervorquillt. Dabei
war das Schweiß …“
## Feministische Heldin
Komplett kostümfrei kommt dagegen die ebenfalls in Hell’s Kitchen
angesiedelte feministische (Super-)Heldin Jessica Jones aus, die fast
zeitgleich mit der ersten Daredevil-Staffel von Marvel und Netflix aus der
Comic- in die Fernsehwelt gekickt wurde (und demnächst mit
Marvel-KollegInnen in einer neuen Serie namens „The Defenders“ Gutes tun
wird).
Schöpferin und „Showrunner“ ist Melissa Rosenberg, die als Autorin der
Kinoadaptionen der „Twilight“-Saga ihren Job unterschiedlich gut erfüllte …
die beißenden Stars funktionierten, doch Spannung wie Handlung kamen
spätestens am Ende des zweiten Films zum Stillstand. Auch Jessica Jones,
gespielt von Krysten Ritter, ist als Figur grandios – sie ist vielleicht
die ungewöhnlichste, bitterste und einsamste aller Supergirls, ihre
Fähigkeiten (enorme Stärke, flugähnliche Sprünge) werden lange Zeit nur
angedeutet. Stattdessen erlebt man eine weiße, traumatisierte,
schnapstrinkende Querulantin, die von einer Crew interessanter, namentlich
benannter (!) Frauenfiguren flankiert wird und sich sexuell an einem
schwarzen Barbesitzer gütlich tut.
Dass ihre Auftragsgeberin in lesbischer Scheidung begriffen und ihre
Freundin kampfwütig ist, passt zum Plot um einen bösen Manipulator, der
sich der Gedanken der Umgebenden bemächtigt. Somit wartet Jessica Jones mit
einem ähnlich hübschen Figurenkarussell auf wie Daredevil, bleibt jedoch in
der Dramaturgie zurück. Marvels Idee ist dennoch ein Triumph. Auch wenn
nicht bekannt ist, wie viele ZuschauerInnen die neuen Serien goutieren,
weil Netflix die Zahlen nicht herausrückt. Charlie Cox findet das gut:
„Zahlen beeinflussen das Publikum, manche Menschen schauen etwa nur wegen
der Quote. Die neuen Anbieter funktionieren aber darüber, dass sich jeder
selbst überlegen muss, was er gucken will. Man traut dem Zuschauer viel
mehr zu.“
In Bezug auf Sex behandeln Netflix und Marvel ihre Fans allerdings wie
Chorknaben und Klosterschülerinnen: Sowohl Daredevil als auch Jessica Jones
ergötzen sich in realistischen, ausgespielten Blut-und-Knochen-Details.
Könnte eineR der HeldInnen jedoch einmal seine/ihre Superkräfte im Bett
vorführen (Supersex?), weichen die Bilder dem prüden US-Fernsehmuster mit
nippel- und schrittfreien Close-ups, und Affären bleiben unglücklich. So
sophisticated und mutig wie Alan Ball, der in „True Blood“ politische und
gesellschafskritische Inhalte in radikaler Mystery-Unterhaltung inklusive
„full frontal nudity“ versteckte, sind die Comicnerds bei Marvel eben doch
noch nicht.
14 Mar 2016
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
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