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# taz.de -- Deutsch-Lehrbücher für Flüchtlinge: Sprache wie Mathematik
> Hunderttausende Geflüchtete lernen Deutsch. Doch Alltagssprache üben sie
> nur selten. Zu Gast in einem Sprachkurs.
Bild: Wenn es heißt: Ergänzen Sie, ordnen Sie zu, kreuzen Sie an, ist das vie…
Berlin taz | Faouzi El-Jassem ist gelernter Laborant. Damit er auch in
Deutschland einen Job bekommt, muss er die Sprachprüfung bestehen. Seit
fünf Monaten paukt der 48-jährige Libanese täglich für den bevorstehenden
„Deutschtest für Zuwanderer“. Für das geforderte Niveau B1 brauchen
El-Jassem und die anderen 16 KursteilnehmerInnen vor allem
Grammatiktraining. Es geht um sämtliche Regeln und Ausnahmen der deutschen
Grammatik: Konjunktiv, Passiv, lokale Präpositionen. Wer die Prüfung
besteht, hat erfolgreich am Integrationskurs teilgenommen. Und das heißt:
unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, Zugang zum Arbeitsmarkt.
Faouzi El-Jassem kommt gut mit im Unterricht. Im Test erzielt er 28 von 30
Punkten. „Deutsch ist für mich nicht schwer. Ich kann es mit Spanisch
vergleichen.“ Über seine Fehler ärgert sich der Schüler dennoch: „Ich ka…
die Regeln“, sagt er und zeigt auf einen Fehler im Lückentext. „Ich habe
die Präposition ‚mit‘ nicht gesehen“.
„70 Prozent der Prüfung besteht aus Grammatikaufgaben“, sagt Gülcan Eren.
Die Deutschlehrerin nimmt an diesem Tag Adjektivdeklinationen mit dem
bestimmten Artikel durch. An die Tafel hat Eren farbige Beispielsätze
gemalt. Sie lässt wiederholen: „Beim Akkusativ heißen die Artikel den, die,
das. Das müsst ihr lernen.“ In Erens Integrationskurs sitzen die, die es
fast geschafft haben, die motiviert sind.
Doch nicht jeder im Kurs bringt Fremdsprachenkenntnisse mit wie Laborant
El-Jassem. In manchen Kursen seien die Unterschiede zwischen den
KursteilnehmerInnen so gravierend, dass sie mehrere Kleingruppen bilden
müsse. Dann könne sie die Lernziele aus dem Buch kaum erreichen. „Die
Anwendung kommt viel zu kurz“, sagt Eren.
## Bil|dungs|stan|dard, der
Die Berliner dtz-bildung & qualifizierung GmbH, die den Integrationskurs
anbietet, arbeitet mit dem Buch „Schritte Plus“ vom Hueber-Verlag. Das
Lehrwerk ist für „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) konzipiert. Es richtet
sich nicht an Flüchtlinge mit heterogenem Bildungsstandard, die in
Deutschland sind, sondern an die rund 16 Millionen Deutschlernenden mit
hohem Bildungsniveau im Ausland. Bei dieser Zielgruppe steht nicht die
schnelle Sprechfähigkeit im Vordergrund, sondern der systematische Erwerb
der deutschen Sprache. Ein Konzept, das Deutschlerner Faouzi El-Jassem
nicht versteht: „Sprache lernt man mit Gefühl, im Kontakt mit Deutschen. In
unserem Buch ist Sprache wie Mathematik.“
Für die Hunderttausenden Flüchtlinge, die derzeit in Deutschland sind, wäre
ein anderes Konzept geeigneter: „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ). Es zielt
darauf ab, dass sich Lernende in einem deutschsprachigen Land zurechtfinden
müssen. Umgangssprache und Alltagswortschatz sind für sie dringender als
die Ausnahmen bei der Konjunktivbildung. Doch die meisten Flüchtlinge in
Deutschland arbeiten mit Deutschbüchern für Fremdsprachenlernende. Also mit
Büchern, die voll mit Grammatik und alltagsfremden Beispielen sind.
Ausgebildete Lehrkräfte mögen darauf vorbereitet sein, bei heterogenen
Lerngruppen „binnendifferenziert“ zu unterrichten. Doch wie gut kommen die
Laien in den vielen ehrenamtlichen Sprachkursen mit Büchern zurecht, die
ausschließlich für Lerner mit hohem Bildungsniveau konzipiert wurden? Mit
SchülerInnen, die zum Teil gar nicht, zum Teil nur arabisch alphabetisiert
sind?
„Viele Deutschbücher sind zu komplex“, sagt Moses Fendel. „Sie setzen
voraus, dass die Schüler wissen, wie Fremdsprachenlernen funktioniert.“ Der
28-Jährige ist einer von den Tausenden ehrenamtlichen Deutschlehrern im
Land, die derzeit bei der Integration der Asylsuchenden mithelfen.
Didaktische Vorkenntnisse bringt der Geschichtsstudent zwar nicht mit, aber
Sprachtalent. Fendel spricht Russisch und Spanisch.
Seit einem Jahr geben Fendel und andere Ehrenamtliche jungen afrikanischen
Männern, die in Berlin Kirchenasyl genießen, Deutschunterricht. Dass der
Kurs kostenlos ist und auch Personen ohne Papiere offensteht, hat sich
herumgesprochen. Zwischen 10 und 15 Kursteilnehmer aus ganz Berlin kommen
viermal die Woche zum Unterricht in die Gemeinde der Kreuzberger
Passionskirche. Wer regelmäßig kommt, muss auch keine Deutschbücher
bezahlen. Gemeindemitglieder haben das Geld für die Bücher gespendet.
Fendel erinnert sich, dass ihnen jemand das Buch „Berliner Platz neu“ vom
Klett-Verlag empfohlen hatte. Der Einstiegskurs „A0“ sei geeignet,
Lernenden ohne Vorkenntnisse Alltagssprache beizubringen. „Ein guter Start
– für Flüchtlinge und Asylbewerber“, wirbt der Verlag auf seiner Website.
Dem kann sich Fendel nicht vollends anschließen: „Die Komplexität ist stark
reduziert, das schon.“ So würden etwa Possessivpronomen nur in der ersten
und zweiten Deklination – mein, dein – gebraucht.
Die Aufgabenstellungen würden die Schüler jedoch überfordern. Wenn es
heißt: Ergänzen Sie, ordnen Sie zu, kreuzen Sie an, sei das vielen zu
abstrakt. „Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, wissen, wie
Lernen funktioniert“, sagt Fendel. Dass das nicht überall so ist, müsse man
sich bewusst machen.
## Le|bens|wirk|lich|keit, die
Ehrenamtliche Sprachlehrer wie Moses Fendel haben es schwer, das komplette
Angebot an DaF- und DaZ-Büchern zu überblicken. Auf der Bildungsmesse
Didacta, die vor zwei Wochen in Köln zu Ende ging, präsentierten die
Verlage ihre Angebote, die speziell auf Flüchtlinge zugeschnitten sein
sollen. Für die Branche ist das ein riesiger Absatzmarkt. Allein für die
schulische Sprachförderung in den sogenannten Willkommens- und
Übergangsklassen bieten die Verlage nach eigenen Angaben weit mehr als
1.000 verschiedene Bücher an. Und mittlerweile sogar eine Vielzahl
kostenloser Materialien zu einzelnen Unterrichtsstunden.
Aber es gibt auch Alternativen zu den Verlagsangeboten. Sehr beliebt ist
das „Thannhauser Modell“, benannt nach der schwäbischen Kleinstadt
Thannhausen, in der das Buch entwickelt wurde. Als sich im vergangenen Jahr
herumsprach, dass zwei pensionierte Schulleiter die selbst erstellten
Unterrichtsblätter zum Selbstkostenpreis verschickten, waren die ersten
tausend Exemplare schnell vergriffen. Mittlerweile gibt es das Büchlein
schon in der 9. Auflage. Denn es ist günstig. Mit 6,50 Euro kostet ein Buch
nur halb so viel wie viele Standardwerke.
Einer der beiden Autoren, Karl Landherr, erklärt sich die Beliebtheit nicht
allein mit dem Preis. Das dünne Büchlein verzichte fast gänzlich auf
Grammatik: „In unserem Buch müssen die Schüler nicht deklinieren und nicht
konjugieren“, sagt Landherr. „Die Neuankömmlinge sollen einfache mündliche
Sprachkenntnisse erwerben“. Und zwar in den Bereichen, wo sie sie wirklich
brauchen. Smartphones als lebenswichtige Brücke zu ihren Familien kommen in
den Kapiteln genauso vor wie Sparangebote der Deutschen Bahn oder ein
Schema zum Asylverfahren. „In anderen Büchern heißen Kapitel ‚Meine
Wohnung‘ oder ‚Im Urlaub‘“, sagt Landherr. „Aber welcher Asylbewerber…
schon eine eigene Wohnung oder fährt in den Urlaub?“
Der Hauptunterschied zu anderen Werken ist aber, dass das Thannhauser
Modell deutsche Wörter im Buch übersetzt. Neben Englisch und Französisch
gibt es die Bücher seit Kurzem auch in arabischer, persischer oder
tigrinischer Übersetzung. Damit kämen die Flüchtlinge viel schneller mit,
behauptet Landherr.
## Sprach|di|dak|tik, die
Das Büchlein solle aber die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
zugelassenen Bücher nicht ersetzen, sondern ergänzen. Manche Anbieter von
Integrationskursen wie das Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer
Frauen in Köln oder die Deutsche Angestellten-Akademie (DAA) setzen das
Thannhauser Modell bereits für Vorkurse ein. Die DAA hat nach eigenen
Schätzungen bundesweit mehrere tausend Bücher bestellt. Das Buch hat jedoch
auch Kritiker.
Einer von ihnen ist Hermann Funk, Professor für Didaktik Deutsch als Fremd-
und Zweitsprache an der Universität Jena. „Ich schätze das ehrenamtliche
Engagement“, sagt er. „Aber niemand sollte so auftreten, als hätte er ein
passgenaues Schulbuch für Flüchtlinge.“ Das sei unseriös. Sprachdidaktisch
sei das Thannhauser Buch nicht gerade auf dem neuesten Stand. Die Übungen
würden nicht aufeinander aufbauen, und nicht alle Alltagsgespräche im Buch
seien wirklich praxisnah: „Wer sagt denn ‚Ich kaufe Tomaten‘ oder ‚Das
Nashorn ist am größten‘?“
An der Arbeitsstelle für Lehrwerkforschung und Materialentwicklung
untersucht Funk Daz- und Daf-Bücher. Welches Lehrbuch er empfehlen könne?
Ehrenamtlichen Sprachlehrern rät er, wenn überhaupt, auf vom Bundesamt für
Migration zugelassene Lehrwerke zurückzugreifen. „Versuchen Sie, kein neues
Lehrbuch zu schreiben, es wird nicht besser“, warnt Funk. Doch genau
genommen sollten in heterogenen Klassen ausschließlich ausgebildete
Lehrkräfte unterrichten. Ehrenamtliche sollten sich lieber als
„Sprachhelfer“ verstehen. Sie könnten beispielsweise beim Vokabeltraining
helfen.
Die hätte zumindest Faouzi El-Jassem aus dem Integrationskurs nicht nötig.
Neben der Grammatik paukt er zu Hause auch den Wortschatz aus den Kapiteln.
Als einer von wenigen hat El-Jessem im Unterricht erklären können, was
„Beratungspflicht“ heißt. El-Jessem lernt aber nicht nur, um die alles
entscheidende Grammatikprüfung zu bestehen: „Viele Ausländer haben in
Deutschland ein Problem“, sagt er: „Sie verstehen nicht, dass Lernen hier
ein Teil der Mentalität ist.“
4 Mar 2016
## AUTOREN
Ralf Pauli
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