# taz.de -- Soziologin will Integration für Deutsche: „Ich bekomme viele Has… | |
> Die Karlsruher Soziologin Annette Treibel fordert Integrationskurse auch | |
> für alteingesessene Deutsche. Der taz erklärt sie, warum. | |
Bild: Die Kinder der Migranten aus den 70ern werden heute noch immer gefragt, w… | |
taz: Frau Treibel, was macht mich zu einer guten Deutschen? | |
Anette Treibel: Eine gute Deutsche wäre eine Person, die realisiert hat, | |
dass wir längst ein Einwanderungsland sind. Und für die klar ist, dass | |
Integration nur dann funktioniert, wenn alle sie zu ihrem Projekt machen. | |
Auf einer Fachtagung in Rostock haben Sie kürzlich gefordert, dass es | |
Integrationskurse für alte und neue Deutsche – also für Biodeutsche und | |
jene mit Migrationshintergrund – geben sollte. Wie kommen Sie auf die Idee? | |
Das Wissen darüber, wie sich die deutsche Gesellschaft verändert hat, ist | |
in den Köpfen und Herzen vieler Menschen noch nicht angekommen – und damit | |
meine ich keineswegs nur Pegida-DemonstrantInnen und AfD-WählerInnen. Was | |
stellt man mit dieser gesellschaftlichen Übergangsphase an? Viele | |
AkteurInnen, etwa in Verbänden, Organisationen oder Firmen, suchen neue | |
Integrationsinstrumente, weil sie mit den alten Konzepten nicht | |
weiterkommen. | |
Wie könnte so ein Kurs aussehen? | |
Ich will die Ideen weiterentwickeln, die in den sogenannten | |
interkulturellen Trainings praktiziert werden. In solchen Workshops sollen | |
alte Deutsche lernen, wie AfghanInnen, SyrerInnen oder IrakerInnen ticken. | |
Genau das soll in meinen Kursen nicht passieren. Neue Deutsche sollen in | |
diesen Veranstaltungen selbst AkteurInnen sein, weil sie selbst längst | |
Einheimische sind. Keine Frage allerdings, dass das keine kuschelige | |
Veranstaltung wird. | |
Im landläufigen Verständnis meint Integration die Einbeziehung von Menschen | |
oder Gruppen, die bis dato aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren. | |
Welche Definition von Integration legen Sie Ihrer Forderung zugrunde? | |
Im Grunde erinnere ich mit meiner Idee an die Uraltdefinition von | |
Integration aus der Soziologie, die etwas in Vergessenheit geraten ist: | |
Dass Integration nicht nur Teilhabe und Eingliederung, sondern auch | |
Zusammenhalt meint. Und, so widersprüchlich es klingt: Zusammenhalt in | |
einer modernen Gesellschaft heißt auch, dass es in Ordnung ist, wenn man | |
nebeneinanderher lebt. Nicht alle müssen sich lieben. Und nicht alle | |
EinwanderInnen müssen mit allen Biodeutschen einverstanden sein und | |
umgekehrt. Ich denke, viele AkteurInnen in der Integrationsarbeit sind | |
überfordert, weil sie eben das erwarten. Es wird immer Punkte geben, an | |
denen ich sage: Hier gelange ich mit meinem Verständnis an eine Grenze. | |
Aber das ist okay. Sich unbedingt in den anderen hineinversetzen zu wollen, | |
hilft bei der täglichen Interaktion nicht zwingend weiter. | |
Manchmal werden diese persönlichen Grenzen aber auch überschritten. Was | |
sagen Sie Menschen, die etwa fordern, ein Muslim, der einer Frau nicht die | |
Hand geben möchte, habe sich anzupassen oder das Land zu verlassen? | |
Ich würde fragen: Was an der Geste ist euch so wichtig? Der Handschlag ist | |
ein Symbol des Kontakts, deshalb verstehe ich die Irritation, wenn er | |
verweigert wird. Aber wenn ich alle, die sich nicht so verhalten, wie ich | |
es für richtig halte, des Landes verweisen würde, hätte ich viel zu tun. | |
Und da wären auch viele Biodeutsche dabei. | |
Wen würden Sie zuerst zum Integrationskurs schicken? | |
Zunächst mal soll der Kurs ein Vorschlag zur Wissensvermittlung und kein | |
Sanktionsinstrument sein. Ich würde die sogenannten | |
IntegrationsverweigerInnen ohne Migrationshintergrund einladen und | |
ermuntern, nicht aber verdonnern. | |
Wer sich jetzt schon „fremd im eigenen Land“ fühlt, den wird die Idee, | |
einen Integrationskurs zu besuchen, wütend machen. Wie wollen Sie diese | |
Menschen überzeugen? | |
Seit ich auf der Tagung den Vorschlag geäußert habe, bekomme ich viele | |
Hassmails. Die VerfasserInnen dieser Mails – übrigens zu 95 Prozent | |
männlich – oder hartgesottene RassistInnen kann ich mir in einem | |
Integrationskurs nicht vorstellen. Die Ablehnung und die wütenden | |
Reaktionen habe ich erwartet, aber nicht in diesem Ausmaß. Mir ist auch | |
klar, dass PolitikerInnen wie Alexander Gauland oder Frauke Petry | |
vermutlich nicht kommen würden, und wenn doch, dann nur, um Munition für | |
ihre Tiraden zu sammeln. HauptadressatInnen der Kurse sind alle, die | |
Informationsbedarf verspüren. Ich will niemanden bevormunden, sondern | |
aufklären und dazu einladen, sich gemeinsam das veränderte Deutschland | |
anzuschauen. | |
Wo mangelt es den Biodeutschen an Integrationsfähigkeit? | |
Wenn Menschen, die seit Jahren hier leben – teilweise in dritter oder | |
vierter Generation – wegen ihrer Hautfarbe gefragt werden, woher sie kommen | |
und wann sie in „ihr Land“ zurückkehren. | |
Was sollten Menschen, die heute nach Deutschland kommen, über das Land und | |
seine Gesellschaft wissen? | |
Eine Idee, Wissen über Deutschland zu vermitteln, ist ja etwa, Grundgesetze | |
auf Arabisch oder in anderen Sprachen zu verteilen. Kann man machen, aber | |
das reicht nicht. Der Blick der Neuankömmlinge auf Deutschland wird durch | |
Kontakte erleichtert – zu HelferInnen, zu MitschülerInnen, zu KollegInnen. | |
Für Neuankömmlinge könnte ein solcher Integrationskurs auch eine | |
Kontaktbörse sein, ein Ort, an dem man beginnt, die Widersprüchlichkeiten | |
der Gesellschaft kennenzulernen. Denn moderne Gesellschaften sind ja schon | |
ohne Zuwanderer extrem divers. Ich kann mir vorstellen, dass das für | |
traditioneller geprägte Menschen irritierend sein kann. Dem kann man nur | |
mit Interaktion begegnen. Das Grundgesetz kann eine wichtige Quelle sein, | |
um das Zusammenleben hier zu verstehen. Aber ich würde es auf keinen Fall | |
einfach verteilen und sagen: Friss oder stirb! | |
In Einbürgerungstest wird viel Faktenwissen abgefragt. Ist das noch | |
zeitgemäß? | |
Die Frage ist nahezu rhetorisch, bekanntermaßen scheitern ja auch alte | |
Deutsche regelmäßig an diesen Tests. Das könnte zum Beispiel ein | |
spielerisches Element in einem Integrationskurs für alle sein: über solche | |
Testfragen zu debattieren und Vorschläge zu erarbeiten, welches Wissen über | |
Deutschland zeitgemäß ist. | |
Im Moment sind es in erster Linie die neuen Rechten, die den Diskurs in der | |
Migrationsdebatte bestimmen. Geflüchtete, der Islam – alles ist böse und | |
bedrohlich. Die Linke läuft in der Debatte hinterher. | |
Ich finde, dass die liberalen Stimmen sich stärker in den Diskurs | |
einmischen sollten. Stramme Linke haben ja oft ein Problem damit, | |
anzuerkennen, dass in Deutschland nicht alles schlimm ist. Und dass es okay | |
ist, über Deutschsein und Deutschwerden zu sprechen. Diese Hemmungen | |
erklären, dass sich die Linke oft nur in Reaktion auf rechte Provokationen | |
zu Wort meldet. | |
Haben Sie eine Idee, wie wir die Diskussion über Einwanderung und | |
Integration wieder weniger angstbelastet führen können? | |
Indem wir nicht nur reaktiv, sondern auch offensiv mit den Potenzialen des | |
Zusammenlebens, aber auch mit Problemen umgehen. Wir dürfen nicht nur in | |
Diskurse um Rassismus einsteigen, sondern sollten uns angewöhnen, auch | |
Normalität zu thematisieren. Bio- und neue Deutsche schlagen sich ja nicht | |
ständig die Köpfe ein, das gute Zusammenleben findet an vielen Stellen | |
längst statt. Ich hätte mir in den letzten Jahren mehr langweilige | |
Geschichten über Integrationserfolge gewünscht, als nur Berichte über | |
„Ehrenmorde“. Es gibt einfach zu viel oberflächliches und skandalisiertes | |
Wissen. | |
16 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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