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# taz.de -- Sexuelle Gewalt auf der Flucht: Das Trauma reist mit
> Oft haben Frauen auf der Flucht Gewalt und sexuelle Übergriffe erfahren.
> Sie brauchen geschützte Räume – gerade in Notunterkünften.
Bild: Mehr als 1.000 Geflüchtete leben im Alten Rathaus Wilmersdorf in Berlin.
Berlin taz | Die Zehenspitzen ihrer nackten Füße tippen auf den grauen
Industrieteppich unter dem Stuhl, die Schlappen hat Ilmira vor dem
Frauenraum zwischen den Badelatschen und Puschen der anderen stehen lassen.
Sie stammt aus Afghanistan, so wie die zwölf Frauen, die sich mit ihr in
den früheren Fraktionsraum der CDU im Alten Rathaus von Berlin-Wilmersdorf
zurückgezogen haben.
1.300 Menschen leben im alten Rathaus, das seit Herbst 2015 eine der
Landeserstaufnahmestellen Berlins ist. Sie teilen sich dort Flure für das
öffentliche Leben, Büros als Schlafzimmer, das WLAN im Vestibül und die
Toilettencontainer auf dem Grünstreifen zwischen Hauswand und Zaun zu einer
Siedlung mit Stadtvillen.
Ilmira stützt die Arme auf die Tischplatte und hört zu, dann und wann
steckt sie einen Zuckerwürfel aus der Glasdose auf dem Tisch in den Mund
und lässt schluckweise Tee darüberlaufen. Ihre Haare hat sie unter einem
weinroten Tuch verborgen. Mariam, Yheizzi und die anderen Frauen rund um
die beiden zu einem L gestellten Schreibtische reden, unterstreichen mit
Gesten, was sie quer durch den Raum rufen.
Die Frauen sind bereit, über ein heikles Thema zu sprechen. Was ist dran an
den Gerüchten über sexuelle Belästigung von Frauen in
Flüchtlingsunterkünften, die seit Wochen kursieren?
## Die Vorfälle in Köln
Derzeit geht die Kölner Polizei Vorwürfen von Frauen nach, wonach
Wachpersonal in einer Flüchtlingsunterkunft Frauen in der Dusche, nachts
beim Schlafen und sogar Mütter beim Stillen gefilmt habe. Die Wachfirma
weist die Vorwürfe zurück, die Polizei konnte die Vorwürfe bislang nicht
bestätigen. Der Brief ist anonym geschrieben, einige Frauen aus dem Heim
haben Anzeige wegen sexueller Belästigung erstattet. Sie werden von der
Kölner Beratungsstelle agisra für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen
betreut - aus Scham würden die Betroffenen nichts sagen wollen, heißt es
dort.
In Berlin-Wilmersdorf kann die ehrenamtliche Übersetzerin Heidi gar nicht
so schnell alle Geschichten und Erinnerungen auf Deutsch wiedergeben, die
Ilmira, Mariam, Yheizzi und die anderen erzählen, trotzdem versucht sie
kein Wort auszulassen.
„Nachts schieben sie einen Keil unter die Tür“, übersetzt Heidi, was ein
paar Frauen durcheinander gerufen haben. Sie bekommen keinen Schlüssel für
die Zimmertüren, die Vorschriften zum Brandschutz verbieten das. Aber wer
schläft schon gern in einem offenen Raum, wenn 1.300 Menschen im Gebäude
wohnen?
„Wir fühlen uns sicher“, sagt Heidi als Sprachrohr der 13 Afghaninnen, von
denen elf so freimütig schauen, dass ihr klarer Blick ihre Aussagen
glaubwürdig klingen lässt. Auf die Frage, ob sie in dieser Unterkunft oder
in einem anderen Flüchtlingsheim in Deutschland von Vergewaltigungen gehört
hätten, rufen sie sehr bestimmt nein, schütteln den Kopf. Ilmira, Mariam
und einige andere suchen den Blickkontakt.
## Wie auf dem Dorf
„Zum Glück kommen die Frauen auf uns zu, wenn etwas ist“, sagt Iklima
Polat, die als Sozialarbeiterin des Arbeiter-Samariter-Bunds für die
Geflüchteten im früheren Rathaus Wilmersdorf arbeitet. „Die Frauen würden
jede Kleinigkeit melden“, sagt sie mit Nachdruck und ist überzeugt, dass
sie und ihre Kolleginnen das Vertrauen der Frauen, Männer und Kinder in der
Unterkunft genießen.
Dort leben so viele Menschen wie in einem Dorf zusammen, doch geht es
weniger familiär als intim zu. Eine Frau habe sich neulich Rat geholt, weil
ihr Mann nicht mehr mit ihr schlafen wolle, seitdem sie in Deutschland
sind, erzählt Polat. Ein Mann wird dabei ertappt, dass er ein gebrauchtes
Kondom im Wäschekorb entsorgt hat. Es wurde ihm öffentlich zurückgegeben.
Sex ist im Alten Rathaus kein Tabu. In der Kleiderkammer steht ein Karton
mit Kondomen auf dem Tresen, an denen sich Frauen und Männer bedienen. „Wir
können gar nicht so schnell Nachschub beschaffen, wie die weggehen“, sagt
Thomas de Vachroi, der die Unterkunft bis Ende Februar für die Diakonie
geleitet hat.
## „Sie müssen Gewalt nicht dulden“
Iklima Polat und ihre KollegInnen haben eine Struktur für die Frauen
geschaffen, in der ein soziales Netz entstanden ist. Wie in einem Dorf hat
sich dadurch soziale Kontrolle entwickelt. Zur Struktur gehört der
Frauenraum, in dem die Geflüchteten Deutsch lernen, Yoga machen, stricken,
Tee trinken.
Polat und ihre Kollegin Shilan Ali sprechen dort mit den Frauen über
Binden, Hygiene und Kindererziehung ohne Gewalt. Hebammen und
Frauenärztinnen arbeiten in der Unterkunft, Psychotherapeutinnen bieten
Gespräche bei Schlafstörungen und Angstzuständen an.
„Manche Frauen sind sehr verunsichert“, sagt Polat, die die Frauen über
ihre Rechte aufklärt. „Wir sagen ihnen, dass sie Gewalt nicht dulden
müssen.“ Wer schlägt, den klären die MitarbeiterInnen über die Strafbarke…
von Gewalt auf, geben ihm eine Chance das umzusetzen und bringen ihn beim
nächsten Gewaltausbruch in eine andere Unterkunft.
Kürzlich habe es Streit zwischen Eheleuten wegen Geld gegeben, da sei die
Frau mal eine Woche in ein anderes Zimmer gezogen, bis sie mit den Kindern
wieder zu ihrem Mann gezogen sei. „Je länger die Frauen hier sind und
erfahren, welche Rechte sie haben, desto mehr werden sich scheiden lassen“,
glaubt Polat.
## Sexuelle Gewalt
„Man kann nicht in Worte fassen, was die Frauen unterwegs erlebt haben“,
sagt Heidi, die vor 35 Jahren aus Teheran nach Berlin kam und als gebürtige
Iranerin so wie die Afghaninnen Farsi spricht. Sie übersetzt, geht mit zum
Arzt, vermittelt. Bei dem Gespräch in der Frauengruppe über sexuelle Gewalt
kann Heidi gar nicht so schnell übersetzen, wie Ilmira, Mariam, Yheizzi und
alle anderen erzählen, ach was, erzählen, durcheinanderrufen, was sie
gesehen und gehört haben und durchaus in Worte fassen, was sie erlebt
haben, wenn vielleicht auch nicht persönlich.
„Manche Frauen wurden unterwegs von Schleppern vergewaltigt“, berichtet
eine. „Tote lagen an der Straße“, sagt eine andere. „Schlepper haben das
Geld genommen, kein Essen gegeben, und wir mussten hungern“, erzählt eine
und lässt aus, was Frauen an anderen Orten erzählt haben, was das dann
bedeutet: Dass sie mit Sex für Flucht und Essen bezahlen mussten.
## Familiäre Gewalt
„Ein großer Teil der Frauen hat auf der Flucht und in verschiedenen Lagern
sexuelle Gewalt erfahren“, bestätigt Carola Klein, Traumatherapeutin beim
Beratungszentrum Lara in Berlin. Sie therapiert seit vielen Jahren
Migrantinnen, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Im Dezember kam eine junge
Frau zu Klein, die auf der Flucht von Familienmitgliedern vergewaltigt
wurde.
Die Therapeutin bestätigt auf traurige Weise die generelle Erkenntnis, dass
75 Prozent der Sexualstraftäter aus dem sozialen Umfeld der Opfer kommen.
Auch die Muster der familiären Gewalt in Deutschland gleichen den
Erlebnissen der Geflüchteten. Eine Syrerin floh vor ihrem gewalttätigen
Ehemann in einer Unterkunft und wollte dennoch nicht getrennt von ihm
untergebracht werden.
Manchmal befördern die deutschen Behörden die häusliche Gewalt in den
Flüchtlingsunterkünften unwissentlich. Beratungsstellen berichten von
Frauen, die mit ihren Kindern vor dem gewalttätigen Ehemann nach
Deutschland geflohen sind. Die Männer sind ihren Frauen gefolgt, bis in die
Flüchtlingsunterkunft. Da der Mann zur Familie gehört, wird er im Zimmer
der Frau untergebracht – und der häusliche Terror setzt sich in Deutschland
fort. Aus Angst, ihr Asylverfahren zu gefährden, erträgt die Frau Prügel
und Vergewaltigungen und zeigt ihren Mann nicht an. „Aus manchen
Kulturkreisen kennen Frauen es nicht, dass sie ohne ihren Mann mit den
Kindern leben könnten“, sagt Klein.
Die Geschichten der geflüchteten Frauen gleichen sich, fragt man
Therapeutinnen und Psychologinnen in den Beratungsstellen für die Opfer
sexueller Gewalt in Berlin, München oder Köln. In den Unterkünften betritt
man eine Grauzone, denn Zahlen über sexuelle Straftaten dort gibt es nicht.
Für Deutschland gehen ExpertInnen davon aus, dass jede fünfte bis siebte
Frau hierzulande sexuelle Gewalt erlebt hat, die auch strafrechtlich
verfolgt wird. „Ich vermute, dass die Zahl bei Migrantinnen noch höher
liegt“, sagt Carola Klein und spricht stellvertretend für Kolleginnen in
anderen Bundesländern.
## Schummriges Licht, dunkle Flure
Die sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern in Asyleinrichtungen wird
statistisch nicht erfasst. Laut Bundeskriminalamt (BKA) sind zwei Prozent
der angezeigten Delikte in Sammelunterkünften Sexualstraftaten. Aber die
reale Zahl sexualisierter und häuslicher Gewalt, die geflüchtete Frauen
hier erfahren, dürfte höher sein.
„Die familiäre Gewalt in den Zimmern ist häufig nicht so offensichtlich“,
sagt Heike Rabe vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Auch die Polizei
erfahre davon nichts, weil sie vor allem bei offensichtlichen Straftaten
wie Drogendelikten oder Gewalt auf den Heimfluren gerufen werde. Mitunter
sei den Frauen gar nicht bewusst, dass Gewalt in jeglicher Form in
Deutschland ein Straftatbestand ist.
„Die Frauen trauen sich nachts nicht auf die Toilette, weil zu viele Männer
auf dem Weg dorthin sind“, sagt Maike Bublitz vom Frauennotruf München.
Selbst wenn die Männer nur im Gang herumlungern und gar nichts machen,
würden traumatisierte Frauen durch solche Situationen „angetriggert“ und
retraumatisiert. Mit Trigger bezeichnen PsychologInnen den Knopf im Hirn,
der den Film der Gewalterfahrung noch mal abspulen lässt. Schummriges
Licht, dunkle Gestalten, Stimmen knipsen die Flashbacks an und lassen die
Frauen die Vergewaltigungen noch mal durchleben.
Sie bleiben im Trauma gefangen. Um überhaupt eine Chance zu haben, aus dem
Horrorfilm im Kopf auszusteigen, brauchen die Frauen geschützte Räume.
Sichere Räume schützen vor Gefahren und beruhigen die Ängste.
5 Mar 2016
## AUTOREN
Ulrike Fokken
Simone Schmollack
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Sexuelle Gewalt
Notunterkunft
Frauenrechtlerin
Geflüchtete
Mord
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Johannes-Wilhelm Rörig
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