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# taz.de -- Abhängig vom Leihauto: Car to Hell
> Wie mir eines Tages beinahe der Entzug von den „Free Floating“-Autos des
> Carsharing-Anbieters Car2Go gelungen wäre.
Bild: Auf durch Hamburg
Der blaue Kreis auf der Karte pulsiert und verbindet sich in seinem
Rhythmus gedanklich mit meinem nervösen Herzschlag. „Komm schon“, denke
ich, „komm schon!“ „Hoheluft-West“ steht da in Grau, 350 Meter in meinem
Umkreis in Hamburg-Eppendorf werden abgesucht, so habe ich es eingestellt.
Ungeduldig starre ich auf den Bildschirm meines Handys. Wenn in den
nächsten paar Minuten kein Auto auftaucht, müssen wir Bus fahren. Das
Thermometer zeigt 0 Grad. Bus? Bei der Kälte? Nur das nicht.
Es ist Mitte Januar, an diesem Samstagabend findet in der Bar Golem eine
„Gala“ zur Feier des fünfjährigen Bestehens statt. Für Google ein
Geheimtipp, für Hamburgs linke Intelligenzija ein Szene-Treff. Heinz Strunk
soll an dem Abend da sein, aber das ist nicht so wichtig, weil ich ohnehin
nicht lange bleiben will. Mein Freund Frederik hingegen schon. Wir hatten
uns lange nicht gesehen, wollen noch ein bisschen miteinander quatschen.
Dass ich ihn hinfahre, habe ich versprochen – vorschnell, wie sich später
herausstellt.
Ich habe kein eigenes Auto, ich fahre Car2Go. Die weiß-blauen Smarts stehen
in Hamburg überall rum, 700 seien es, wirbt die Firma. Es ist Carsharing
nach dem „Free Floating“-Prinzip. „Free Floating“, übersetzt so viel w…
„frei schwebend“, heißt, dass die Autos nicht an festen Stationen bleiben,
sondern in der ganzen Stadt verteilt „umherschwimmen“. Das Prinzip ist
einfach: Nach der Anmeldung kann man auf dem Smartphone ein Auto in der
Nähe suchen, per App mieten, reinsetzen, losfahren. Am Ziel stellt man den
Wagen ab – auch auf gebührenpflichtigen Parkplätzen, ohne zu zahlen. Dort
wartet der Smart auf den nächsten Nutzer. Und meistens wechseln die sehr
schnell.
An diesem Abend aber schwimmt nur wenig, in Eppendorf sind die Autos knapp.
Den nächsten freien Wagen markiert ein kleiner blauer Tropfen auf der Karte
in einem Bereich so weit weg, dass ich auf dem Handy scrollen muss. Es
macht keinen Spaß, wenn wir noch eine Ewigkeit laufen müssen. Deshalb der
eingestellte „Radar“. Ich will wissen, wann ein Auto in der Nähe auftaucht.
Frederik ruft irgendwas aus der Küche. „Ja, ja“, sage ich und beobachte
weiter die Karte auf dem Handy.
Klar könnten wir zu der Party auch den Bus nehmen: fünf Minuten bis zur
Haltestelle, mit der 25 in einer Viertelstunde zum Bahnhof Altona, fünf
Minuten fürs Umsteigen, 111 in Richtung Shanghaiallee, zehn Minuten bis
Ausstieg Fischauktionshalle, noch einmal fünf Minuten Fußweg bis zur Tür.
Grummeliger Busfahrer, Sitznachbar mit Mundgeruch, Ruckeln, Wackeln, Stoßen
– insgesamt fast eine Dreiviertelstunde.
Günstiger wäre das auf jeden Fall, zwei Mal 2,20 Euro für uns beide im
„Nahbereich“. Während ich rechne und Frederik sich schon den Schal umwirft,
schlägt mein Radar endlich aus: Irgendjemand hat einen Wagen in der Nähe
abgestellt. 150 Meter – super! – ich reserviere.
Die Karte zeigt den Wagen direkt gegenüber an, an der Bundesstraße 5, die
von Dänemark bis Polen einmal durch die Republik führt und auf der man,
ohne sie zu verlassen, in etwas mehr als fünf Stunden von Hamburg-Eppendorf
bis nach Berlin-Mitte fahren könnte, wo sie dann „Straße des 17. Juni“
heißt. Fünf Stunden, Abrechnung im Minutentakt, das wären locker 150 Euro
mit dem Car2Go allein in die eine Richtung. Ergibt keinen Sinn, Autobahn
wäre schneller, Zug noch schneller, aber man könnte.
Es ist dieser Schein von grenzenloser Flexibilität, der mich in seinen Bann
zieht. Seit ich mich Anfang Januar bei Car2Go angemeldet habe, bin ich in
Hamburg nicht mehr mit dem öffentlichen Nahverkehr gefahren. Die
Verlockung, beim Weg zur Haltestelle nur mal eben kurz auf dem Smartphone
nach einem Auto zu suchen, ist groß – und wenn man an einem vorbeikommt
noch größer. Immer triumphiert die Bequemlichkeit.
Selbst der Hamburger Verkehrsverbund HVV verweist bei jeder Suche nach
einer Bus- oder Bahn-Verbindung mit der HVV-App alternativ auf Car2Go – was
daherkommt, als empfehle eine Discount-Kette ihren Kunden ein
Delikatess-Geschäft. Mein Beispiel zeigt: Grüner wird es dadurch nicht.
Zunächst finden wir den Wagen nicht. Vor der Gärtnerstraße 2 müsste er
parken, wir stolpern in einen Hinterhof, die Fassaden sind bröckelig und an
einer Wand rosten alte Fahrräder auf einem Haufen Sperrmüll. Der Hof
erinnert an Berlin, aber Smarts stehen hier keine. Eine Ecke weiter
entdecken wir an der Hoheluftchaussee das „Motel Hamburg“, das ernsthaft
aussieht wie eine Absteige aus einem Hollywood-Road-Movie. Auch hier gibt
es Autos, nur nicht das unsrige.
Schließlich, in einem Hinterhof-Ensemble aus Bars und Lounges, vor deren
Eingängen sich das Parfüm der Gäste zu einer abstoßenden Wolke vermengt,
werden wir fündig: Ganz hinten an einer Mauer keilen zwei andere Autos
unseren Wagen ein. Irgendjemand will ihn für sich freihalten, aber nicht
bezahlen. Scheiße, was für Arschlöcher! Sollen wir doch Bus fahren? Die
Polizei rufen? Ich schalte meinen Radar wieder an.
Autohersteller sehen eine Veränderung in der Mobilität – und damit auch auf
den Absatzmärkten. Immer weniger junge Menschen streben nach dem eigenen
Auto, mehr Flexibilität, weniger Verantwortung ist die Devise. Seit 2011
setzt BMW deshalb mit Drive Now ebenso auf Carsharing in der „Free
Floating“-Variante. Car2Go selbst gehört der Mietwagenfirma Europcar und
Daimler: Sie bieten Autos für Singles mit Bindungsängsten.
Bevor es durch digitale Technologie massentauglich wurde, war Carsharing
mehr etwas für Idealisten, die gern in Karteikästen wühlten. Heute könnte
es als visionär gelten, auf den ersten Blick fast kommunistisch: Ein Auto
nicht in Privateigentum, sondern in Benutzung, wenn man es braucht. Werden
nicht all jene durch den Erfolg des Carsharings Lügen gestraft, die gegen
die marxistische Idee von der Abschaffung des Privateigentums einwandten,
dass ihr Auto ihnen heilig sei? Leider nein. Spätestens der Blick auf die
Rechnung beweist: Carsharing muss man sich leisten können und das Kapital
verdient kräftig – fast 100 Euro in meinem ersten Monat.
Carsharing, zumindest in der Car2Go-Variante ist die Antwort auf
Mobilitätsansprüche im Spätkapitalismus und das Produkt für die
flexibilisierte, verdichtete Arbeitswelt, in der selbst
Mittelgutverdienende wie ich anstelle eines Bustickets lieber ein paar Euro
mehr ausgeben, um eine Viertelstunde zu sparen. Zeit ist Geld, Freizeit
Gold wert.
Gegenüber Drive Now und Car2Go wirkt der Bremer Carsharing-Anbieter Cambio
fast familiär. Klopft man samstags in der Geschäftsstelle ans Fenster,
sitzt da eine nette Frau, die einen empfängt, obwohl für Kunden eigentlich
geschlossen ist. Bei Car2Go muss man zur „Validierung“ seines Führerscheins
in ein Geschäft eines Vertragspartners, etwa des Handyanbieters
Mobilcom-Debitel. Die haben mit Carsharing nichts am Hut, aber
Führerscheine können sie lesen. Car2Go spart sich ein Netz eigener
Geschäftsstellen, das ist schlanker – aber anonymer.
Bei aller Wut über das eingeparkte Auto finde ich nur wenige Hundert Meter
weiter ein anderes, dass wir mieten könnten. Also los, rein in den
Eppendorfer Weg. Obwohl das sonst nicht meine Art ist, entscheide ich mich,
die Service-Hotline anzurufen, um mich über den Vornutzer zu beschweren,
vielleicht bringt es ja was, denke ich. Außerdem bin ich mir mit Frederik
einig, dass es ein schlimmer Schnösel sein muss.
Die Frau aus dem Callcenter klingt jung und ist sehr freundlich: „Da muss
jemand Car2Go aber wirklich hassen“, sagt sie noch, bevor das Telefonat
abbricht. Mein Handy-Akku ist alle – und wir haben ein Problem: Am anderen
Wagen weiß ich nicht, wie ich ihn nun ausleihen soll. „Smartphone only“
steht auf einem Aufkleber hinter der Windschutzscheibe. „Nur mit dem
Smartphone“ – na, danke. Auf meiner Stirn fließen die ersten Schweißtropf…
herunter.
Ich schließe das Telefon an meinen Laptop an, um es zu laden. Ein Trick,
auf den ich gekommen bin, als ich mit leerem Akku in einem Zug saß und mein
Ticket auf dem Handy gespeichert war. Es dauert, bis ich es wieder
anschalten kann. Als ich auf die Anzeige schaue, ist der Wagen, neben dem
wir stehen, bereits vergeben. Aus der Ferne ist uns in der Zwischenzeit
jemand zuvorgekommen und hat ihn reserviert. Es wäre ein guter Zeitpunkt,
um aufzugeben. Aber mittlerweile ist fast eine halbe Stunde vergangen, seit
wir aus dem Haus sind, und es soll nicht alles umsonst gewesen sein. Ich
erinnere mich, dass die Karte einen weiteren Wagen in einer Parallelstraße
angezeigt hatte.
Meine Freundin sagt, ich bin süchtig nach den Karren. Dass Smarts keine
Autos sind, ich zu viel Geld dafür ausgebe und es völlig unnötig sei. Aber
ganz sicher: Im Sommer werde ich wieder nur noch Fahrrad fahren. Vielleicht
im Frühjahr schon, sobald es wärmer wird. Womöglich ab Februar.
Frederik und ich laufen durch Eimsbüttel. Zum Glück bleibt er gelassen. Die
Straßen wirken extrem aufgeräumt, romantische Beleuchtung rückt die
sanierten Altbaufassaden ins rechte Licht, Blumenkästen dekorieren Eingänge
und Fenster. Es könnte München sein oder Wien, der Wohlstand ist fast
aufdringlich, viele Fahrräder, aber noch mehr SUVs. Eines dieser
Riesenautos reiht sich an das andere.
Vor allem der Parkdruck in den Städten ist es, der die Behörden mit
Carsharing-Anbietern kooperieren lässt. Verkehrsplaner erhoffen sich, die
ungenutzten Blechlawinen an den Straßenrändern reduzieren zu können. Sollte
sich irgendwann die Akzeptanz für computergesteuerte selbstfahrende Autos
erhöhen, wäre Carsharing das Modell der Zukunft. Denn wer hat schon Spaß
daran, einen Smart selbst zu lenken? Ich zumindest nicht.
Als wir endlich vor dem nächsten blau-weißen Wagen stehen, hat mein Handy
gerade wieder so viel Saft, dass ich wage, es zu benutzen. Frederik und ich
quetschen uns auf die beiden Sitze, mit meiner Tasche auf dem Schoß kann er
sich kaum noch bewegen. Hinter dem Lenkrad fühlt sich der Smart an wie ein
Autoscooter aus Lego. Heizung hoch und los.
45 Minuten haben wir mit der Suche verschwendet, per Bus wären wir schon
da. War es das wert? Ich drücke aufs Gaspedal. Ab jetzt tickt die Uhr, ich
zahle 29 Cent pro Minute. Auch bei anderen Fahrten merke ich, dass dieser
Abrechnungsmodus die Verkehrssicherheit nicht erhöht. Gelb-rote Ampeln sind
vor mir nicht sicher, Zebrastreifen kenne ich nicht mehr. Die totale
Hetzerei.
Als vor ein paar Jahren in Bremen ein linksradikaler Zusammenschluss namens
„Klimaplenum“ sich lokalpolitisch engagierte und in den Bussen und Bahnen
der Bremer Straßenbahn AG das Umsonstfahren propagierte, zogen die
Aktivisten die Verbindung zur Rastlosigkeit kapitaler Mehrwertproduktion:
Ökologisch mobil zu sein, koste Zeit, so das Argument, eine wirkliche Wende
sei nur möglich mit radikaler Entschleunigung, ergo: weniger Lohnarbeit.
Ich weiß nun, was sie meinten.
Als wir endlich am Fischmarkt vor dem Golem ankommen, hat die Party längst
angefangen. Doch als hätten wir nicht schon genug Ärger gehabt, lässt sich
die Miete des Wagens nicht beenden. Es darf nicht wahr sein. Auf dem Handy
erscheint der Hinweis, dass ich das Auto „im Geschäftsgebiet“ abstellen
müsse. Die Große Elbstraße gehört nicht dazu – Hochwasserrisiko-Gebiet. D…
Smarts wären hier nicht sicher – zumindest, wenn sich niemand für sie
verantwortlich fühlt. Tatsächlich steht nur zwei Wochen später der
Fischmarkt unter Wasser, aber wer ahnt das schon.
Eigentlich wollte ich auf ein Getränk mit hineingehen, das fällt jetzt aus.
Ich verabschiede mich, fluche noch einmal und rase nach Hause. 19 Euro und
70 Cent wird mich die Fahrt am Ende kosten, fast ein halbes Monatsticket
für den HVV. Eine Lehre? Theoretisch: ja.
20 Feb 2016
## AUTOREN
Jean-Philipp Baeck
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