Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Wider die neue Unübersichtlichkeit
> Endlich eine Lösung für unsere politischen Probleme: Der Zehn-Punkte-Plan
> der Wahrheit zur Wiederherstellung der alten Übersichtlichkeit.
Vor dreißig Jahren rief der Trendsetter und It-Boy Jürgen Habermas „die
neue Unübersichtlichkeit“ aus. So jedenfalls hieß sein damals bei Suhrkamp
erschienenes Diskursflaggschiff der zeitgenössischen Philosophie. Dabei war
zu dieser Zeit noch alles wohlgeordnet. Die Deutschen waren entweder
katholisch oder evangelisch, CDU oder SPD, hatten Geha- oder
Pelikan-Füller. Die anderen Deutschen waren in der DDR. Alles war also gut
eingerichtet und ordentlich an seinem Platz. Telefone waren noch zum
Telefonieren da, Veganer noch Außerirdische von einem anderen Stern und der
Euro war noch sagenhafte zwei Deutsche Mark!
Und heute? Unübersichtlichkeit total! Das Land wird von ehemaligen
DDR-Bürgern regiert (Angela Merkel, Joachim Gauck, Bernd das Brot), wogegen
andere DDR-Bürger Sturm laufen (Pegida, Vera Lengsfeld, Kraftklub). Die
Kanzlerin wird von der New York Times zum Rücktritt aufgefordert und von
der taz unter Naturschutz gestellt. Die Rechten beschweren sich, dass man
immer gleich in die rechte Ecke gestellt wird, nur weil man was Rechtes
sagt.
Die Antisemiten wollen partout nichts mehr gegen Juden haben (sondern nur
Israel kritisieren dürfen) und die alten Nazis nur noch Tierschützer sein
(weshalb sie gegen das Schächten zu Felde ziehen). Die Linke nimmt die Bild
vor dem Lügenpresse-Vorwurf in Schutz, die Bild Flüchtlinge vor den
besorgten Bürgern, Sarah Wagenknecht die besorgten Bürger vor der Linken,
der Lügenpresse und den Flüchtlingen gleichzeitig.
Der am häufigsten gesagte Satz in diesem Land lautet „Man darf in diesem
Land ja nichts mehr sagen“, und schuld an allem ist am Ende immer Amerika,
wie der darob aber ganz schön aufgewachte „deutsche Michel“ am liebsten in
seiner Eigenschaft als Kunde der amerikanischen Firma Facebook in die Welt
posaunt.
Bei den für traditionelle Rollenbilder und Familienwerte kämpfenden
Rechtsradikalen zicken zwei wild gewordene Weiber um die Rolle des Führers,
von denen die eine geschieden ist und die andere gerade ihren Mann und die
Kinder sitzen gelassen hat, und der einzige männliche Anwärter auf die
Führerposition dort schimpft gegen „r-strategische“ Afrikaner, die
angeblich möglichst viele Nachkommen zeugen, obschon er selbst Kinder in
einer Anzahl in die Welt gesetzt hat, die sogar rammelerprobten Karnickeln
oder Ursula von der Leyen ein respektvolles Schnalzen abnötigte. Und dann
auch noch dieses: Ein „Polizeiruf“ mit Matthias Brandt holt eine bessere
Quote als ein „Tatort“ mit Til Schweiger!
Offenbar also herrscht im ganzen Land vollständige Verwirrung, der
Habermas-Band hat sich als Selffulfilling Prophecy erwiesen. So aber kann
das nicht weitergehen, sonst weiß bald niemand mehr, was lechts ist und was
rinks, wie schon Habermas’ alter Buddy Ernst Jandl einst unkte. Und hier
ist er, der große Zehn-Punkte-Plan der Wahrheit zur Wiederherstellung der
alten Übersichtlichkeit:
1. Für menschenfreundliche Positionen und Empathie gegenüber Ausländern
aller Art sind ab sofort wieder linke NGOs, zottelige Studierende,
Kirchentagsträumer und waschechte Intellektuelle zuständig, keinesfalls
aber die Bundeskanzlerin. Das führt sonst zur völligen
Orientierungslosigkeit weiter Bevölkerungsschichten, und am Ende kommt die
fremdenfeindliche Propaganda noch vom halben P.E.N.-Club (Monika Marion,
Botho Strauß, Rüdiger Safranski).
2. Ohnehin muss Angela Merkel auf der Stelle wieder zu ihren
Kernkompetenzen zurückkehren. Jahrelang waren sich alle Journalisten einig,
dass ihr Wesen einzig darin bestehe, niemals klar Position zu beziehen,
schon mal gar nicht, wenn sie sich damit unbeliebt machen könnte (Stichwort
Raute). Wie stehen die Publizisten denn jetzt alle da? Also: Die
Bundeskanzlerin wird wieder vage, gefälligst!
3. Die SPD tritt bitte ab sofort wieder in Erscheinung. Was sie dabei
vertritt, ist eigentlich egal, das war früher ja nicht anders. Das hatte
noch nie Auswirkungen auf ihr späteres Regierungshandeln. Aber zumindest
irgendwo in der Medienlandschaft herumstehen müsste sie schon, damit das
alte Ritual „CDU- gegen SPD-geführte Regierung“ wieder funktioniert. Alles
andere ist viel zu unübersichtlich.
4. Einzig die CSU macht alles richtig. Die deutsche Gesellschaft braucht
die institutionalisierte Arschlochhaftigkeit für ihr seelisches
Gleichgewicht. Der Rest von Deutschland ist zudem angewiesen auf das gute
Überlegenheitsgefühl, dass die Bayern halt schratige und nicht ganz
zurechnungsfähige Hinterwäldler aus dem Süden sind, um zu verschmerzen,
dass in ihren eigenen Bundesländern so gar nichts richtig funktioniert. Das
können die Sachsen allein sonst nicht auffangen.
## Keine Hetze mit Pirinçci
5. Fremdenfeindliche Hetze wird zukünftig wieder von Biodeutschen gemacht.
Erst nehmen die Ausländer uns die Arbeitsplätze weg, dann die Frauen und
jetzt sogar noch die Nazis. So geht das nicht! Ein Vorfall wie Akif
Pirinçcis Dresdner „KZ-Rede“ darf sich nicht wiederholen!
6. Dasselbe gilt für sexualisierte Gewalt. Da lassen wir uns von
dahergeflüchteten Moslems nicht einfach die Butter vom Brot nehmen! Wir
haben in jahrhundertealter abendländischer Tradition gut funktionierende
Institutionen für sexuelle Übergriffe aller Art eingerichtet (Karneval,
Reformschulen, Schützenfeste, die Ehe), da brauchen wir jetzt ganz sicher
nicht irgendwelche antanzenden Busengrapscher auf der Kölner Domplatte.
Missbrauch findet hier bitte schön immer noch in den Kirchen statt, nicht
einfach im Freien davor.
7. Wir brauchen keinen mit Flüchtlingen importierten Antisemitismus, wir
haben einen sehr gut funktionierenden eigenen (Linkspartei, Martin Walser,
Jakob Augstein)! Antisemitismus ist schließlich deutsche Kernkompetenz, da
sind wir traditionell Weltmarktführer und Exportweltmeister.
## Kein Gekuschel mit Putin
8. Das Gekuschel der Reaktionäre mit Wladimir Putin ist unverzüglich
einzustellen. Wenn man etwas an Deutschland kritisiert, hat es aus diesen
Kreisen traditionsgemäß zu heißen: „Geht doch nach drüben!“ Aber doch
nicht: „Kommt doch von drüben!“ Da geht ja wirklich alles durcheinander!
9. Alles, was Til Schweiger macht, ist ab sofort wieder extrem erfolgreich.
Alle strömen deshalb bitte ab Februar wie blöd in diesen
Kino-Tschiller-„Tatort“, so wie es Sitte und Brauch ist bei
Schweiger-Kinofilmen.
10. Die Presse achtet zukünftig wieder sorgfältig darauf, dass jedes noch
so absurde Jubiläum rechtzeitig Berücksichtigung findet. 25 Jahre Deutsche
Einheit, 50 Jahre Welttag der Katze, 70. Jahrestag der Aufnahme eines nie
veröffentlichten Songs irgendeines kauzigen Künstlers – das alles muss
unbedingt termingenau als Aufhänger für Mumpitz-Artikel aller Art genommen
werden.
Sonst kommt es noch so weit, dass die Würdigung eines prophetischen
Schwergewichtswerks wie der „neuen Unübersichtlichkeit“ von Jürgen Haberm…
nicht etwa pünktlich 30 Jahre nach dessen Erscheinen erfolgt – sondern
glatt zu spät, denn jetzt ist ja schon wieder 2016, und der Schinken ist
1985 rausgekommen! Und wurde also prompt verpasst. Und warum? Wegen der
brandneuen Unübersichtlichkeit!
23 Jan 2016
## AUTOREN
Heiko Werning
## TAGS
Politik
Jürgen Habermas
Red Bull
US-Wahl 2024
Dallas
Joachim Gauck
Sexualisierte Gewalt
Schwerpunkt „Lügenpresse“
Niedersachsen
Sexualisierte Gewalt
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Amazon
Buch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Blubbernde Bullenpisse für Berlin
Vom Erfolg seines Fußballclubs RB Leipzig beflügelt, dehnt
Red-Bull-Besitzer Mateschitz sein Imperium vom Extremsport in die
Extrempolitik aus.
Die Wahrheit: The bad day after
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Und der Albtraum beginnt von Neuem. Mit
Wahlkampf. Mit Trump. Mit Clinton. Mit dem ganzen Dreck …
Die Wahrheit: Robocop in Bombenstimmung
Seit den Schüssen von Dallas wird der Einsatz von Robotern gegen
verdächtige Subjekte in der ganzen Welt mächtig diskutiert.
Bundespräsident Joachim Gauck: Alle sagen: I Love You
Am besten ist er, wenn er gar nichts sagt. Trotzdem soll Joachim Gauck 2017
erneut zum Bundespräsidenten gewählt werden.
Kommentar Übergriffe beim Karneval: Bleibt mal auf dem Teppich
Die Debatte nach Köln hat zu einer höheren Sensibilität für sexualisierte
Gewalt geführt. Dennoch sollte nicht jedes „Bützchen“ angezeigt werden.
Wolfgang Herles und die Lügenpresse: Was heißt hier Ansage?
Auch der Ex-ZDF-Journalist Wolfgang Herles sagt, es gebe Anweisungen von
oben für die Öffentlich-Rechtlichen. Das befeuert die Lügenpresse-Debatte.
Studie zu Sexualdelikten in Niedersachsen: Wenige Opfer zeigen an
Sexualdelikte sind häufig, werden aber selten angezeigt, heißt es in einer
neuen Studie des LKA Niedersachsen. Nur etwa 6 Prozent aller Opfer gehen
zur Polizei.
Populismus bei den Grünen: Folgen der Verbürgerlichung
Selbst Freiburgs grüner Oberbürgermeister Dieter Salomon fordert in der
Zuwanderungsdebatte „hartes Durchgreifen“. Verkehrte Welt?
Die Wahrheit: Die Eibe zum Weibe
Ändert ein Baum sein Geschlecht, dreht die Welt durch. Denn die
Genderdebatte hat jetzt auch die Arboristik erreicht.
Die Wahrheit: Erweckung beim Shopping 4.0
Der Onlinehändler Amazon hat jetzt einen waschechten Offline-Buchladen
eröffnet und bringt damit etwas ganz Neues auf den Zukunftsmarkt.
Die Wahrheit: Knoblauch gegen Katzenkrimi
Hilfe! Meine Bücher sind infiziert! Ein Band von Akif Pirinçci streut
Bösartiges ins Regal! Da hilft nur eins: Burgmauern aus guten Werken.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.