# taz.de -- Die Wahrheit: Erweckung beim Shopping 4.0 | |
> Der Onlinehändler Amazon hat jetzt einen waschechten Offline-Buchladen | |
> eröffnet und bringt damit etwas ganz Neues auf den Zukunftsmarkt. | |
Dienstag, 3. November 2015. Ein Tag für die Wirtschaftsgeschichtsbücher. An | |
diesem unscheinbaren Herbstmorgen wird ein neues Kapitel der globalen | |
Digitalisierung aufgeschlagen. Eine rund 250 Meter lange Schlange | |
fröstelnder Menschen verharrt im pazifischen Nieselregen. Seit gestern | |
Abend stehen sie sich hier die Beine in den Bauch, um als Allererste live | |
dabei sein zu dürfen, wenn sich gleich um Punkt neun Uhr die Türen öffnen | |
für den weltweit ersten Offline-Shop von Amazon in Seattle. | |
Ein unauffälliger Herr im Anzug nähert sich von innen, er führt eine Hand | |
mit einem metallischen Gegenstand darin Richtung Tür. Ein aufgeregtes | |
Wispern ertönt unter den Digital Natives, die hier auf ein | |
Erweckungserlebnis der besonderen Art warten. „Wahnsinn, das muss der Admin | |
sein!“, und „Hat der da das Passwort in der Hand?“, hört man es tuscheln. | |
Dann klackert und knirscht es, die Menge schweigt ehrfürchtig, schon | |
schwingen die Türen auf. | |
„Lädt aber ganz schön langsam! #AmazonStore“, twittert ein skeptischer | |
Laden-User. Aber das hindert die Menge nicht, sich schleunigst in das neue | |
Portal einzuloggen. Wie vom Donner gerührt bleiben einige Kunden vor einem | |
Stapel mit organgefarbenen Plastikkörben stehen: „Warenkörbe!“, flüstern | |
sie ehrfurchtsvoll und betasten vorsichtig das heiße Gadget. | |
## Es gibt echte Warenkörbe | |
Es ist zweifellos ein revolutionäres Konzept, das Amazon der staunenden | |
Weltöffentlichkeit präsentiert. Auf 500 Quadratmetern bietet das | |
Internet-Kaufhaus Bücher in einer „Buchhandlung“ an, wo auf Regalreihen aus | |
Holz Bücher zum Mitnehmen stehen. Crazy shit! Die User wirken noch etwas | |
verunsichert, während Mitarbeiter des Geschäfts (#Buchhändler) | |
redaktionelle Empfehlungen abgeben und auf Bücher verweisen, „die Sie auch | |
interessieren könnten. Und nehmen Sie sie ruhig in die Hand!“ – „Der bla… | |
Wahnsinn, die neue Blick-ins-Buch-Funktion“, raunt ein begeisterter Kunde, | |
während er in einem Bildband blättert, „man kann sich das einfach so alles | |
angucken, ohne Sperrfunktion nach zwanzig Seiten, irre!“ | |
Terry Brooks, der Filialleiter, schaut zufrieden zu. Natürlich habe es | |
umfangreicher Vorarbeiten bedurft. So habe man sich eigens einen Standort | |
im University Village gewählt, einem Einkaufszentrum in der Nähe der | |
Hochschule. „Der Gedanke dahinter ist“, erläutert er lächelnd, „dem Kun… | |
so nahe wie möglich zu kommen. Die Analyse unserer Algorithmen hat gezeigt, | |
dass Studierende oft zu den High Intensive Users für Bücher zählen, als | |
Early Adaptors für neue Technologien sind bei ihnen auch weniger Vorbehalte | |
gegenüber der neuartigen Benutzerführung zu erwarten. Generell ist unsere | |
Überlegung, dem Kunden so nahe wie möglich zu kommen, um ihm ein ganz neues | |
Shopping-Erlebnis zu ermöglichen. Man kann die Bücher hier ja nicht nur | |
anschauen, sondern mit dem Warenkorb dann auch direkt zur Kasse gehen, ganz | |
genauso wie im Netz.“ | |
Aber das Irre ist: Beim sogenannten Kein-Klick-Kauf bezahlt man direkt am | |
Ausgang des Ladens. Als völlig neue Zahlvariante experimentiert Amazon nun | |
in einer Testphase mit echtem Bargeld. „Natürlich können Sie auch weiterhin | |
alles mit Karte oder Paypal bezahlen, keine Sorge“, versichert Brooks | |
eilig, aber man habe Apparaturen installiert, in denen man Geldscheine und | |
Münzen aufbewahrt und passend herausgeben kann. | |
Der Clou aber ist, so Brooks, dass man die Bücher direkt mitnehmen kann. | |
„Stellen Sie sich vor: Sie haben die Ware noch am selben Tag zu Hause, | |
liegen abends schon gemütlich mit ihrem neuen Buch auf dem Sofa. Sie müssen | |
nicht mehr Tage später bei irgendeinem übergewichtigen Nachbarn im | |
Hinterhaus-Parterre anklingeln und mühsam etwas Smalltalk mit ihm treiben, | |
um ihre Pakete da auszulösen, nur weil der dauernd zu Hause rumhängt und | |
deshalb immer aufmacht, wenn der Bote kommt. Oder Sie müssen nicht mehr | |
durch die halbe Stadt fahren und stundenlang in einem Postamt Schlange | |
stehen, um an die Bücher zu kommen!“ | |
Brooks ist überzeugt davon, dass das neue Konzept sich durchsetzen wird. | |
„Alle werden es lieben! Und wir haben 15 Angestellte allein in diesem | |
Laden! Stellen Sie sich nur mal vor, es gäbe bald in jeder Stadt solche | |
Bookstores! Es wäre der reinste Jobmotor!“ Es könnte der Anfang einer ganz | |
neuen Entwicklung sein: „Wir spielen mit dem Gedanken, weitere | |
Produktsparten in Offline-Stores anzubieten. Man könnte über | |
Elektrofachgeschäfte nachdenken. Über Lebensmittelmärkte. Über ganze | |
Kaufhäuser, in denen man alles unter einem Dach finden könnte!“, schwärmt | |
Brooks. | |
Auch andere Internetkonzerne haben den Trend erkannt. Apple erwägt, Musik | |
demnächst nicht nur via Streaming oder zum Download anzubieten, sondern in | |
einer festen Reihenfolge und nach Interpreten und Erscheinungsjahr sortiert | |
auf diverse Datenträger zu brennen. | |
## Es gibt künftig Musik auf Schallplatten | |
„Solche Einheiten würden ganz neue künstlerische Konzepte ermöglichen, man | |
könnte sie viel hübscher präsentieren, mit Verpackungen, auf denen | |
künstlerisch gestaltete Bilder oder Grafiken drauf sind“, erläutert ein | |
Firmensprecher die ersten Planspiele für eine Umwälzung des Musikmarktes. | |
AOL testet derweil, ob man E-Mails nicht auch ausdrucken kann und statt | |
über das Internet durch Boten zustellt. So könnte man beispielsweise den | |
Empfang eines Briefes quittieren lassen, sodass der Sender wüsste, dass | |
sein Schreiben angekommen ist. Schluss wäre dann mit einer Ausrede wie: | |
„Ist im Spam-Ordner hängen geblieben.“ | |
Eventuell wäre das Konzept noch ausweitbar und die Sender könnten ihre | |
Botschaften sogar mit der Hand aufs Papier schreiben. Das würde die Zahl | |
der verfügbaren Emoticons schlagartig ins Unermessliche steigern. Ganz | |
normale Nachrichten könnten so plötzlich absolut individuell gestaltet | |
werden. | |
## Es gibt bald Klamottenläden | |
„Noch kann niemand vorhersagen, wie sich die Dinge entwickeln“, sagt Terry | |
Brooks, „aber stellen Sie sich vor, wie sich das auf unser aller Alltag | |
auswirken könnte: Innenstädte mit spezialisierten Fachgeschäften und | |
persönlicher Beratung, persönliche Empfehlungen kompetenter Mitarbeiter | |
statt hysterischer Bewertungen irgendwelcher Wichtigtuer oder gekaufte | |
Kommentare, passende Klamotten gleich im Laden anprobieren, statt alles | |
dauernd hin und her zu schicken, weil man doch schon wieder fetter geworden | |
ist, als man gedacht hat!“ | |
Brooks bekommt glänzende Augen. Zum Abschied wird er glatt ein wenig | |
pathetisch: „Den technischen Fortschritt kann man nicht vorhersagen, aber | |
ich bin sicher: Wir stehen unmittelbar vor einer neuen digitalen | |
Revolution! Wir stehen vor dem Web 4.0!“ | |
7 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Heiko Werning | |
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