# taz.de -- Hilfe für Intensivtäter in Bremen: „Er wollte sein Kopfkino abs… | |
> Die Sozialarbeiterin Claudia Fisbeck kümmert sich um jugendliche | |
> Flüchtlingstäter in Bremen. „Nachbeeltern“ nennt sie, was sie den | |
> Jugendlichen bieten kann. | |
Bild: Einsperren - so wie es Hamburg hier 2003 mit dem Heim Feuerbergstraße ve… | |
BREMEN taz | Wenn Claudia Fisbeck liest, dass in Bremen nachts ein junger | |
Mann „angetanzt“ und ausgeraubt wurde, dann denkt sie: „Hoffentlich war d… | |
keiner von meinen Jungs.“ Sie meint die Täter, nicht das Opfer. | |
Seit einem Jahr sorgen in Bremen, aber auch in anderen Städten, Berichte | |
über „schwerkriminelle Problemflüchtlinge“ für Aufregung. Vor allem | |
Diebstahl und Raub, aber auch Körperverletzung werden ihnen vorgeworfen. | |
Eine Masche ist das sogenannte Antanzen. Dabei umtanzen die Täter ihr Opfer | |
und ziehen ihm bemerkt oder unbemerkt Geld und Smartphone aus der Tasche. | |
Und das in Serie: rund 1.000 Straftaten hat die Bremer Polizei in diesem | |
Jahr gezählt, begangen von immer denselben jungen Männern, die alleine nach | |
Deutschland geflohen sind. 30 bis 50 solcher Intensivtäter sollen sich nach | |
Einschätzung der Polizei in Bremen aufhalten. Sehr viele kommen aus | |
Marokko. | |
Claudia Fisbeck kennt sechs, vielleicht sieben von ihnen sehr gut, viele | |
andere flüchtig. Auch Fremde grüßen die Sozialarbeiterin, wenn sie mit | |
ihrem Kollegen Samuel Perkins am Hauptbahnhof unterwegs ist, erzählt der. | |
„Alle wissen, wer Claudia ist.“ | |
Sie ist leicht zu erkennen. Sehr groß, schlank, blond gefärbte lange Haare. | |
Ihr Begleiter ein schwarzer Amerikaner mit Basecap. „Mama und Papa nennen | |
sie uns“, sagt Perkins. Das Alter passt: Sie ist 52, er 59. | |
Anfang Dezember sitzt Fisbeck mit Perkins in einem Café im Bremer | |
Ostertorviertel und erzählt von ihrer Arbeit. „Mobile Betreuung“ heißt da… | |
was sie macht, seit 25 Jahren schon, ohne Ermüdungserscheinungen. „Super | |
Job, super Kids“, sagt sie mit einer tiefen rauen Stimme. Zu 80 Prozent, | |
schätzt sie, habe sie noch Kontakt zu ehemaligen KlientInnen. Etwas mehr | |
als die Hälfte hat ihr Leben auf die Reihe gekriegt. Das heißt manchmal: | |
Sie sind nicht im Gefängnis. Oder trotz extremer Drogenabhängigkeit noch am | |
Leben. „Es gibt immer Fortschritte, aber die sind so klein, das muss man | |
sehen können.“ | |
Mobile Betreuung ist ein Minimum an Sozialarbeit. Keine Vorschriften, viel | |
Beziehung. „Nachbeeltern“ nennt Claudia Fisbeck das, was sie den | |
Jugendlichen bieten kann. Wer Scheiße baut, muss mit den Konsequenzen | |
klarkommen. 18 Kollegen und Kolleginnen sind in ihrem Team, ihr Arbeitgeber | |
ist die Diakonische Jugendhilfe. Jede und jeder kümmert sich um nur drei | |
Jugendliche. Die sind zwischen 16 und 21, in seltenen Fällen etwas jünger | |
oder älter. Fast die Hälfte, rechnet Fisbeck nach, sind Mädchen. Diese | |
haben meistens Missbrauchserfahrungen, sind „uferlos“, wie sie es nennt, | |
„viel mit Männern“. Die Jungen sind oft aggressiv. Alle sind abhängig in | |
der einen oder anderen Form. | |
Wenn sie in der mobilen Betreuung landen, haben sie schon einiges an | |
Hilfsversuchen hinter sich. Wohngruppen, Heime. Sie fliegen raus oder hauen | |
dort ab. Jetzt geht es nur noch darum, Obdachlosigkeit zu vermeiden. Die | |
Jugendlichen leben zunächst in Übergangswohnungen, die der Träger stellt, | |
danach in eigenen Wohnungen. Wenn sie Hilfe brauchen, können sie anrufen. | |
Die Rufbereitschaft oder das Handy ihrer – mobilen – Bezugsperson. Fisbeck | |
hat ihres immer an, auch nachts. In Notfällen dürfen ihre Schützlinge | |
anrufen. Zwei, drei Mal die Woche wird sie rausgeklingelt. | |
Entwickelt wurde das Konzept ursprünglich für obdachlose Punks. Die | |
Flüchtlinge sind ganz neu, erst vor vier Monaten kamen sie dazu. Nicht, | |
weil das Jugendamt darum bat, sondern weil Fisbeck einige durch Zufall | |
kennenlernte. „Da sind ganz liebe Jungs drunter“, sagt sie. Das sehen | |
manche ihrer Kolleginnen anders. Es gibt welche, die sich geweigert haben, | |
weiter mit den jungen Männern zu arbeiten. Auch, weil sie als Frauen übel | |
angemacht wurden. Claudia Fisbeck hat nichts davon erlebt. Warum, weiß sie | |
auch nicht. Die Chemie stimme wohl irgendwie. Respektvoll seien sie ihr | |
gegenüber, freundlich und aufgeschlossen. Jedenfalls solange sie nicht zu | |
viele Drogen genommen haben. Die ihr Smartphone zücken, wenn sie mal auf | |
Facebook von ihren Familien hören. „Das zeigen die mir immer sofort.“ | |
Fisbeck holt ihr Tablet hervor und zeigt Bilder aus einer Internetsuche: | |
Blauer Himmel, Palmen, Straßen- und Marktszenen. „Das haben die Jungs | |
gegoogelt“, erzählt sie, „um mir zu zeigen, wo sie herkommen.“ Es sind | |
Slums, häufig Vororte von Casablanca. Einige, die sich jetzt in Bremen | |
wieder getroffen haben, kennen sich von dort. In Europa, besonders in | |
Deutschland – und dort ganz besonders in Bremen – soll es viel besser sein | |
als in Marokko, haben sie gehört. | |
„Die meisten wurden als Kinder zu Hause rausgeschmissen“, hat Fisbeck | |
erfahren. Wie im Fall von A., den sie besonders mag. Seit einem Jahr sei er | |
in Deutschland, davor hat er in Spanien gelebt, zwei Jahre etwa. Jetzt ist | |
er gerade 18 geworden. Er hat ihr von seiner Kindheit erzählt. „Den haben | |
seine Eltern als Ältesten mit zehn Jahren auf die Straße gesetzt, weil kein | |
Geld da war.“ Ihr Kollege unterbricht die Erzählung. „Mit zehn“, sagt er, | |
„stellen Sie sich das mal vor!“ Er macht den Job noch nicht so lange wie | |
Fisbeck. | |
Wie üblich sei der Junge dann in ein Heim gekommen, berichtet sie weiter. | |
Mit Unterbrechungen zwei Jahre Gewalt, auch sexualisierte. „Seine Familie | |
wollte keinen Kontakt mehr mit ihm, aber er hat immer Geld vorbeigebracht.“ | |
Woher er das hatte? „Geklaut und gearbeitet.“ | |
Eigentlich wollten A. und ein Freund selbst der taz ihre Geschichte | |
erzählen, aber sie sitzen seit Kurzem in Untersuchungshaft. Mit einem | |
Dritten hatten sie Ende November erst einen 41-Jährigen „angetanzt“ und | |
bestohlen. Danach musste ein Zeitungsausträger dran glauben, der ihren Weg | |
kreuzte. „Auch er wurde um eine Zigarette gebeten“, heißt es in der | |
Pressemitteilung der Polizei. „Als der 45-Jährige nicht reagierte, nahm ihn | |
einer der Räuber in den Schwitzkasten und drückte ihn auf die Knie | |
herunter.“ Und: „Der 45-Jährige blieb leicht verletzt zurück.“ | |
Wahrscheinlich ist es gut, dass das Treffen mit der taz nicht vor diesem | |
Ereignis stattgefunden hat. Es wäre so leicht gewesen, mit dem Verweis auf | |
die Tat und den Umstand, das sie in Untersuchungshaft sitzen, alles | |
wegzuwischen, was sie über sich erzählt hätten. | |
So sind es jetzt wieder andere, die über A. und die anderen reden. Mit | |
Fisbeck zur Abwechslung mal eine, die parteiisch für sie ist. Und die nicht | |
sieht, wie ausgerechnet die Unterbringung in einem geschlossenen Heim ihnen | |
helfen soll. „Versuchen Sie mal, ein Straßenkind mit solchen Erfahrungen | |
einzusperren, das dreht durch.“ | |
Doch das Heim soll kommen, so wollen es die rot-grünen Landesregierungen in | |
Bremen und Hamburg. Dabei sagt selbst der Polizeipräsident, dass seine | |
Leute längst nicht mehr die Probleme wie Anfang des Jahres hätten. Als sich | |
die Jungs nach Festnahmen wie wilde Tiere gebärdeten, keinen Respekt für | |
nichts und niemand zu haben schienen. | |
Wahrscheinlich haben sie verstanden, dass ihre wehrlose Situation im | |
Polizeigewahrsam nicht ausgenutzt wird. Dass sie sich nicht einkoten | |
müssen, um einer Vergewaltigung durch Polizisten zu entgehen. Auch die | |
Verständigung klappt besser: Ihr Deutsch hat sich gebessert und es werden | |
öfter Dolmetscher zu Rate gezogen. | |
Vielleicht sind auch einfach die größten „Knalltüten“, wie sie selbst von | |
Wohlmeinenden genannt werden, weitergezogen. Oder in Haft, denn auch wenn | |
sie mit unter 18 und oft auch noch mit unter 21 Jahren unter das mildere | |
Jugendstrafrecht fallen, ist das Maß irgendwann voll. So wie bei A., der | |
eigentlich „drei gute Monate“ hinter sich hatte, wie Claudia Fisbeck sagt. | |
Dann kam der Anruf vor drei Wochen, nach dem Überfall auf den | |
Zeitungsausträger und den anderen Mann. Sofort sind sie zum | |
Polizeigewahrsam gefahren. „Wir wollten wissen, warum er das gemacht hat“, | |
erzählt Fisbeck. A., sagt sie, weinte so sehr, dass sie ihn kaum verstehen | |
konnten. Fünf Stunden blieben sie. Am Ende wussten sie so viel: Nach acht | |
Jahren Funkstille hatte er endlich wieder von seiner Familie gehört. Der | |
Vater hat sich nach Algerien abgesetzt, sein 17-jähriger Bruder sitzt im | |
Gefängnis, weil er sich als Stricher verkauft hat. | |
Aber das, was ihn dazu gebracht hat, acht Tabletten des Epilepsie-Mittels | |
Rivotril einzuwerfen und loszuziehen, war die Nachricht, dass seine Mutter | |
neu heiraten will und seine zehnjährige Schwester rausgeschmissen hat. Sie | |
soll jetzt in dem Heim leben, aus dem er selbst geflohen ist. | |
„Er wollte sein Kopfkino abstellen“, sagt Fisbeck. Sie entschuldigt die Tat | |
nicht. Und sie verspricht nicht, dass A. und die anderen nie wieder | |
straffällig werden. Aber sie ist überzeugt, dass man einigen dabei helfen | |
kann, ein anderes Leben zu versuchen. Sie ist nicht die einzige, die erlebt | |
hat, dass längst nicht alles verloren ist. Auch Sozialarbeiterinnen aus der | |
Justizvollzugsanstalt sagen, sie hätten durchaus bemerkt, wie Beziehungen | |
entstehen können. | |
Aber alle sagen: Es ist mühsam, es gibt Rückschläge. Und, das sagt Claudia | |
Fisbeck, es geht nur extrem niedrigschwellig. Sehr viel mehr Streetwork als | |
jetzt bräuchte es und eine Notschlafstelle in Bahnhofsnähe. „Da darf es | |
keinen Zwang geben, keine festen Essenszeiten.“ Freiwillige Angebote | |
hingegen würden nach ihrer Erfahrung angenommen. Zum Beispiel Fitness oder, | |
ganz neu, ein Deutschkurs, freitags. „Da kommen alle.“ | |
Ganz wichtig sei, sie nicht aufeinander hocken zu lassen. „Die sind einfach | |
nicht gruppenfähig“, hat Fisbeck beobachtet. Sobald die Jungs in einer | |
Gruppe auftreten würden, gebe es Stress. Untereinander, oder mit anderen | |
Gruppen. Im September 2014 starb ein 20-Jähriger nach einer Messerstecherei | |
in einem Zug im Bremer Hauptbahnhof. A. selbst wurde Mitte November bei | |
einer Prügelei am Busbahnhof schwer verletzt und lag im Krankenhaus. | |
Claudia Fisbeck hat erst spät davon gehört. A. war am Boden zerstört. | |
„Warum seid ihr nicht früher gekommen?“, wollte er immer wieder wissen. | |
„Ihr habt mich vergessen.“ Es dauerte, bis er Fisbeck geglaubt hat, dass | |
sie das niemals tun wird. | |
Den ganzen taz.nord-Schwerpunkt zu jugendlichen Flüchtlingstätern lesen Sie | |
in der taz.am Wochenende oder [1][hier.] | |
19 Dec 2015 | |
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## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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