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# taz.de -- Unsicheres Afghanistan: Die Flucht des Dolmetschers
> Najib hat einst als Englischlehrer und Übersetzer gearbeitet – auch für
> unseren Autor. Eine Arbeit, die ihm Todesdrohungen eintrug.
Bild: „Es fühlt sich an, als seien wir auf der Flucht mehrmals gestorben“,…
München taz/CORRECT!V | Najib hat mich um Hilfe gebeten. Er hat andere um
Hilfe gebeten. Niemand hat ihn gehört. Auch ich nicht. Also ist er am 29.
September 2015 mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter aus
Afghanistan aufgebrochen, nach Deutschland.
Heute sitze ich Najib in München gegenüber und höre mir die Geschichte
seiner Flucht an. Einer Flucht, für die ich mich mitverantwortlich fühle.
Aber der Reihe nach.
## Begegnung im Basar
Als ich Najib in Afghanistan das erste Mal sah, war er 17 Jahre alt und
ging aufs College. Wir begegneten uns in einem Teppichladen in der Stadt
Masar-i-Scharif. Er sprach passabel Englisch, ich suchte einen Dolmetscher.
Er war geschickt im Verhandeln, und ich bekam schnell die Gespräche mit dem
Imam, den Menschen auf dem Basar, den Warlords der Stadt. Ich wollte damals
wissen, welche Auswirkungen der Bundeswehreinsatz in Nordafghanistan auf
die Bevölkerung hatte. Das war im Februar 2006. Die Geschichte wurde in der
„taz“ veröffentlicht.
Es sollte meine letzte Reise nach Afghanistan sein. Ich vergaß Najib. Bis
er sich vor einem Jahr über Facebook bei mir meldete. Er brauche Hilfe. Die
Taliban bedrohten ihn, da er mit Ausländern wie mir zusammengearbeitet habe
sowie Jungen und Mädchen in Englisch unterrichte. Die internationalen
Truppen zögen sich zurück, die Lage verschlechtere sich immer mehr. Ich
riet ihm, zum UN-Flüchtlingswerk zu gehen. Ich vergaß Najib erneut.
Der nächste Hilferuf kam im Mai 2015. Najib schrieb, er müsse das Land
verlassen. Bewaffnete hätten das Gehöft der Familie in der nordafghanischen
Stadt Ankhoi gestürmt. Sein Vater sei entführt und getötet worden, der
Leichnam vor dem Haus mit einem Drohbrief abgelegt worden. Najib hatte die
Todesdrohung eingescannt und mir gemailt: Sie trug den schwarzen Briefkopf
des Islamischen Emirats Afghanistan. In dem Brief stand: „Du warst ein
Diener und Übersetzer für Ungläubige und Ausländer. Wir werden dich nicht
am Leben lassen.“ Ich leitete die Mail an Reporterohne Grenzen weiter. Und
dachte erneut, ich hätte meine Pflicht getan. Ich hörte nichts mehr von
Najib. Bis vor einem Monat.
## „Guess where I am“
Ende Oktober klingelt mein Handy. „This is Najib“, höre ich eine Stimme.
„Najib from Afghanistan. Guess where I am. In Munich.“ Er ist in
Deutschland! Er hat sich tatsächlich auf den Weg gemacht. Am nächsten Tag
fahre ich hin, um ihn zu besuchen.
Wir treffen uns in einemMcDonald’s, in einem Gewerbegebiet nördlich von
München, nicht weit von der Flüchtlingsunterkunft, in der er und seine
Familie untergebracht sind. Najib ist kein Junge mehr, seine Ehefrau Zaujan
ist blass unter ihrem Kopftuch, ihre dreijährige Tochter Mogadas trägt
Zöpfe wie haarige Hörner und lacht. Wir bestellen Gebäck und Tee. Najib ist
charmant wie eh und je, aber als er von seiner Reise zu erzählen beginnt,
ist sein erster Satz: „Es fühlt sich an, als seien wir auf der Flucht
mehrmals gestorben.“
## Najibs Geschichte
Nach der Ermordung des Vaters flieht Najib mit Frau und Tochter zuerst nach
Masar-i-Scharif, dann weiter nach Kundus, wo von 2001 bis 2013 die
Bundeswehr stationiert war. Im September 2015 stürmen Taliban die Stadt –
Najib und seine Familie fliehen weiter nach Kabul. Ein Onkel seiner Frau
hatte als Wachmann bei der Bundeswehr gearbeitet und war nach Deutschland
ausgereist. Najib will auch weg.
Er hat 3.000 US-Dollar gespart, seine Frau besitzt Schmuck. Najibs Vater
war Goldschmied und hatte sie zur Hochzeit reich beschenkt. Sie verkaufen
den Schmuck auf dem Basar in Kabul für 3.000 Dollar. Jetzt haben sie 6.000
Dollar. Das Kapital für ihre Flucht.
Najib muss in der afghanischen Hauptstadt nicht lange suchen, um den Mann
zu finden, der Menschen heimlich in den benachbarten Iran bringt. Der
Schlepper unterhält ein Büro. Er verlangt je 800 Dollar für Najib und seine
Frau und 400 Dollar für das Kind. Najib verhandelt. Ob das Kind umsonst
mitdürfe? Der Schlepper willigt ein. Er verspricht ihnen, sie seien in drei
Tagen im Iran. Sie sollen sich keine Sorgen machen, er bringe jeden Tag
Leute über die Grenze.
## Das Hawala-System
In Afghanistan, wie in der gesamten islamischen Welt, gibt es seit je ein
ausgeklügeltes informelles Bankensystem, genannt Hawala. Man zahlt Bargeld
bei einem Geldverleiher ein und erhält einen Code. Und kann das Geld, das
man in Kabul eingezahlt hat, in Teheran, Istanbul oder Berlin auslösen. Für
heimliche Reisen ist dieses Netzwerk perfekt. Weil es Sicherheit bietet in
einer Situation, in der man ständig übers Ohr gehauen wird.
Najib zahlt bei einem Geldverleiher 5.000 Dollar ein. Tausend nehmen sie in
bar mit. Schon am nächsten Tag geht es los. Najib kauft zwei Flaschen
Wasser und Kekse, die Reise dauert ja nur drei Tage. Ein Taxi bringt sie
zur Grenze. Dort pfercht man sie mit anderen Flüchtlingen in einen
fensterlosen Raum. Später marschieren sie durch die Wüste bis zum nächsten
verlassenen Haus. So geht es immer weiter. Anfangs gibt es noch etwas zu
essen, altes Brot und Tomaten. Dann hungern sie, bald ist auch das Wasser
aufgebraucht. Die Schlepper sind bewaffnet. So geht es über die Grenze.
Eine Woche sind sie unterwegs, bis sie in die ostiranische Stadt Iranschahr
kommen. Dort nennen sie den Schleppern den Code. Die vereinbarte Summe von
1.600 Dollar wird aus der Ferne bezahlt.
Stundenlang erzählt Najib. Wir bestellen Pommes und Hamburger. Frittierte
Kartoffeln mag Najibs Frau gern. Die erinnern sie an Afghanistan.
## Strenge Bewachung
In Teheran leben sie anfangs in einem Hotel der Schlepper. Dort bietet
ihnen ein Afghane mit iranischem Pass an, sie in die Türkei zu bringen.
Wieder verhandelt Najib. Sie einigen sich auf 2.000 Dollar. Die Bezahlung:
wieder per Code über den Mann in Kabul. Schon am nächsten Morgen werden sie
gemeinsam mit einem Dutzend anderer Flüchtlinge an die türkische Grenze
gefahren. Sie werden streng bewacht. Ihre Aufpasser wechseln, es sind
Afghanen, Kurden, Türken, wenn sie die Gruppe übergeben, nennen sie ein
Codewort.
Es kommt die schlimmste Nacht. In der sie fast aufgegeben hätten. Es regnet
in Strömen. Seit Stunden marschieren sie durch das Niemandsland an der
türkisch-iranischen Grenze. Najib ist bepackt mit zwei Rucksäcken, er zieht
die kleine Mogadas und seine Frau. Die anderen sind weit voraus. Die
Schlepper machen Druck. Najibs Schuhe schlittern im Schlamm. Er stürzt.
Jedes Mal, wenn er ausrutscht, stürzen Frau und Kind hinterher. Er wirft
die Rucksäcke weg. Ihm wird klar, auf Dauer hält er das nicht durch. Er
kann nicht beide ziehen. Mogadas klammert sich heulend an seine
lehmverschmierten Beine. Auch seine Frau weint.
Plötzlich nähern sich aus dem Dunkel hinter ihnen drei Männer. Sie haben
Erbarmen. Sie schieben die Familie die Steigung hinauf. Nun geht es zur
Grenze, die Lichter der Wachtposten sind schon zu sehen. Doch plötzlich
sind die Schlepper verschwunden und Räuber kommen, bewaffnete Kerle. Sie
trennen die Gruppe, hier die Frauen, dort die Männer, und durchsuchen sie.
Bei Najib finden sie 400 Dollar. Er hatte sie in seinen Gürtel eingenäht.
Zaujan gibt freiwillig ihre 400 Dollar ab. Und rettet so iPhone und zwei
Ringe. Das ist alles, was sie nun noch besitzen. Und das Hawala-Guthaben,
in Kabul.
Die Räuber verschwinden im Regen. Die Ausgeraubten überqueren die Grenze.
Dort warten die Schlepper. Najib ist sich sicher: Sie stecken mit den
Banditen unter eine Decke. Die Flüchtlinge sind nass bis auf die Haut.
Zaujans Schuhe sind unterwegs kaputt gegangen, Najib hat ihr seine gegeben
und ist auf Strümpfen in die Türkei gekommen. Sie sind am Ende ihrer
Kräfte. Aber sie leben. Im nächsten Ort telefoniert Najib mit dem
Geldverleiher in Kabul und gibt den Code frei. Die Schlepper erhalten ihr
Geld.
## Die Schlepper hauen ab
Najibs Blick geht durchs Restaurant. Die kleine Mogadas hat einen
Luftballon ergattert und läuft zwischen den Tischen umher. Najib schaut ihr
zu. Er sagt, deshalb sei er hier. Um seiner Tochter ein sicheres Leben zu
ermöglichen.
Es geht nach Istanbul. Dort bietet ihnen wieder ein Afghane Hilfe an. Es
gibt zwei Routen für die Fahrt übers Meer nach Griechenland. Die kürzere,
eine Stunde, kostet 800 Dollar pro Person. Die längere dauert vier Stunden
und kostet 600 Dollar. Najib hat noch ein Guthaben von 1.340 Dollar. Er
wählt die lange, die gefährliche Route.
In Izmir, am Mittelmeer, müssen sie wieder in einem Haus warten. Die Zimmer
stinken. Abends ist ein Schlauchboot fertig, doch es platzt beim Aufblasen.
Am nächsten Tag kommt das nächste Boot. Am Strand gibt Najib die Codes
frei. Alle Flüchtlinge müssen hinaus ins Wasser waten, um dort ins Boot zu
klettern. Zaujan weigert sich. Najib sagt ihr, dass die Wächter sie
erschießen werden. Vor lauter Angst klettert Zaujan ins Boot. Nach kurzer
Zeit springen die Schlepper ins Wasser und schwimmen zurück zum Strand. Sie
hatten den Flüchtlingen davon nichts gesagt. Die sind nun auf sich
gestellt. Einer bedient den Motor. Sie fahren Stunde um Stunde. Dann sehen
sie Land. Kurz bevor sie den Strand von Lesbos erreichen, kippt das Boot
um. Retter kommen ihnen zu Hilfe.
## Nicht noch einmal
Es ist der 14. Oktober 2015. Sie sind in Griechenland. Die Balkanroute ist
nun nur noch ein kurzes Wegstück. Zwei Wochen später ist die Familie in
Deutschland.
Najibs Frau ist gezeichnet von den Strapazen der Reise. „Selbst wenn ich
wüsste, dass mich die Taliban töten, würde ich sie nicht noch einmal
machen“, sagt sie. An ihrer rechten Hand schimmern rotgolden zwei Ringe,
der Rest ihres Schatzes. Bald muss die Familie in eine andere Unterkunft
umziehen. Najib hat von der Ankündigung von Innenminister Thomas de
Maizière gehört, alle Afghanen müssten zurückkehren. Er hofft, er betet,
dass seine Flucht nicht umsonst war.
10 Dec 2015
## AUTOREN
Marcus Bensmann
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