# taz.de -- Flüchtlinge auf der Balkanroute: Misshandelt in Bulgarien | |
> Prügel, Fußtritte, Schüsse: Menschenrechtler aus Belgrad erheben schwere | |
> Vorwürfe gegen die bulgarischen Behörden. | |
Bild: Flüchtlinge im „Dschungel“, einer mit Müll übersäten Brache vor d… | |
SOFIA taz | „Nach Bulgarien kommt man schwer hinein – und genauso schwer | |
wieder raus“, sagt der junge Mann, der Rash genannt werden will. Man werde | |
mit Prügeln empfangen und mit Prügeln verabschiedet. | |
Rash tritt als Sprecher einer Gruppe von Afghanen auf, weil er am besten | |
Englisch kann. Sein amerikanischer Akzent verrät, dass er für die | |
US-Truppen tätig war. Grund genug für die Taliban, den Mann aus der | |
ostafghanischen Provinz Laghman zu verfolgen. „Wenn du für die Koalition | |
gearbeitet hast, bist du für sie ein Ungläubiger – und damit ein toter | |
Mann“, sagt Rash. | |
Die Flüchtlinge lagern auf einer Wiese gegenüber dem Aufnahmezentrum Ovcha | |
Kupel im Westen der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Die paar entlaubten | |
Büsche bieten kaum Schutz vor Wind und Kälte. Mit einem „Dschungel“, wie | |
die Flüchtlinge diese unwirtliche, mit Müll übersäte Stätte nennen, hat das | |
Gelände wenig gemeinsam. Zwischen 100 und 150 Menschen schlafen hier – die | |
meisten afghanische Männer. | |
Ovcha Kupel ist mit 860 Plätzen das größte Aufnahmezentrum in Sofia und | |
derzeit nicht einmal zur Hälfte ausgelastet. Dennoch bleiben die Tore für | |
viele Flüchtlinge geschlossen. Das ehemalige Wohnheim für Parteigenossen | |
ist ein düsterer Bau aus der kommunistischen Ära, der den Charme einer | |
Kaserne versprüht. Die Flüchtlinge werden in Sechsbettzimmern | |
untergebracht. | |
## Ohne Fingerabdruck keine Aufnahme | |
„Wenn sie einen negativen Bescheid bekommen, haben sie zwei Wochen, um das | |
Lager zu verlassen“, sagt Albena Ignatova von der staatlichen | |
Flüchtlingsagentur. Wer sich der Abnahme von Fingerabdrücken entziehen | |
will, wird auch nicht aufgenommen. Die Registrierung geht sehr zügig. „In | |
zehn Minuten sind die Daten in Straßburg“, versichert der Beamte, der hier | |
Fingerabdrücke abnimmt. | |
Rajah aus Aliabad in der afghanischen Provinz Kundus versucht seit zwei | |
Monaten, Bulgarien zu verlassen. Wie die meisten Flüchtlinge will er nach | |
Deutschland. Er krempelt den Ärmel hoch und zeigt eine Verletzung über dem | |
Handgelenk. Die grob vernarbte kreisrunde Wunde soll von einem bulgarischen | |
Polizeiprügel stammen. | |
Ein Flüchtling nach dem anderen legt ähnliche Narben frei: am Ellenbogen, | |
am Unterarm oder – verursacht durch Fußtritte – über den Knöcheln. Der | |
18-jährige Najib erzählt, er habe drei Monate in einem bulgarischen | |
Gefängnis gesessen. Dann sei er ohne Dokumente wieder freigelassen worden. | |
Die Arrestzellen an der Grenze seien die Hölle, versichert Rash: „Völlig | |
verdreckt! Du bekommst zwei Tage nichts zu essen. Sie lassen dich nicht | |
einmal pissen.“ | |
## „Syrer müsste man sein“ | |
Fünfmal habe er bereits versucht, die serbische Grenze zu überqueren. Immer | |
sei er gescheitert. „Syrer müsste man sein, die werden nach wenigen Tagen | |
durchgewunken.“ Tatsächlich liegt die Quote von Syrern, die entweder Asyl | |
oder humanitären Aufenthalt bekommen, nahe 100 Prozent. Für Afghanen weist | |
die Statistik 94 Prozent Ablehnungen aus. Pakistaner und Afrikaner haben | |
null Chance auf Bleiberecht. | |
Die Klagen der Afghanen decken sich mit den Ergebnissen eines Berichts, den | |
das Belgrader Zentrum für Menschenrechte Mitte November veröffentlicht hat. | |
Er beruht auf Befragungen von mehr als 100 Flüchtlingen, die über Bulgarien | |
nach Serbien eingereist sind. | |
Alle geschilderten Fälle sollen sich in den vergangenen fünf Monaten | |
ereignet haben. Es geht etwa um einen bulgarischen Polizeibeamten, der eine | |
Schusswaffe an die Stirn eines Flüchtlings gepresst habe; andere seien von | |
Polizisten geschlagen worden, weil sie sich verstecken wollten. „Sie nahmen | |
ihnen ihre Wertsachen, Essen und Trinken ab“, heißt es in dem Bericht, | |
„später, an der Grenze zu Serbien, hetzten Polizisten Hunde auf sie, und | |
einige der Flüchtlinge berichteten, dass sie Schüsse gehört hätten. Sieben | |
aus der Gruppe seien verschwunden, die anderen hätten seither nichts mehr | |
von ihnen gehört“. | |
## Die Überlebenden wurden festgenommen | |
Zwei Afghanen seien durch Polizeischüsse verletzt worden. Am 15. Oktober | |
wurde ein weiterer durch eine Polizeikugel getötet. Ein Querschläger, so | |
die Darstellung der Beamten, die eine Gruppe von etwa 50 Afghanen unter | |
einer Brücke 30 Kilometer vor der türkischen Grenze gestellt hatten. Die | |
Überlebenden wurden festgenommen und in das Gefängnis Elhovo gebracht. | |
Bulgariens Gesetze erlauben den Schusswaffengebrauch nur in äußersten | |
Notsituationen. Amnesty International bezweifelt, dass eine solche | |
vorgelegen habe und ruft die Behörden auf, den Festgenommenen ein faires | |
Asylverfahren zu gewähren. Das Innenministerium untersucht noch. Es ist | |
jedenfalls der erste Fall seit Beginn des jüngsten Exodus, dass ein | |
Flüchtling durch eine Polizeiwaffe auf EU-Territorium zu Tode kam. | |
Bulgariens Innenministerin Rumiana Bachvarova lässt nach Anfrage | |
ausrichten, alle Hinweise „auf strafrechtlichen Gebrauch von körperlicher | |
Gewalt, Hilfsmitteln, Waffen und Signalen zur Missachtung von | |
Menschenrechten durch Beamte, die am Schutz der Staatsgrenze beteiligt | |
sind“, würden überprüft. Bei einer Feststellung von Verstößen würden die | |
Strafverfolgungsbehörden der Staatsanwaltschaft unverzüglich benachrichtigt | |
und angemessene Disziplinarmaßnahmen verhängt. | |
## Licht auf die ungeheuerlichen Vorgänge in Bulgarien werfen | |
Der Landweg über Bulgarien wird im Gegensatz zu den Meeresrouten nach | |
Griechenland und Italien kaum von Medien und Öffentlichkeit in der EU | |
beachtet. Das will der Belgrader Bericht ändern und „Licht auf die | |
ungeheuerlichen Vorgänge in Bulgarien werfen“. | |
Die Schwere und Häufigkeit der Misshandlungen von Menschen, die auf der | |
Flucht vor Krieg und Armut sind, seien schockierend und für einen | |
EU-Mitgliedsstaat völlig inakzeptabel: „Wir verlangen eine unabhängige | |
Untersuchung der Vorgänge in Bulgarien und fordern die Regierung auf, die | |
Übergriffe uneingeschränkt zu verurteilen.“ Doch im EU-Land Bulgarien | |
selbst habe der Bericht aus Belgrad bisher wenig Staub aufgewirbelt, sagt | |
der bulgarische Journalist Georgi Minev. Nachfragen kämen praktisch nur aus | |
dem Ausland. | |
Die Löwenbrücke trennt den historischen Teil von Sofia von den hässlichen | |
Außenbezirken. Sie führt über den Vladaya-Fluss, der im Dezember eher als | |
Bächlein daherkommt. Wo am Abend Pärchen händchenhaltend auf den Bänken | |
sitzen, halten sich tagsüber auch gerne Flüchtlinge auf. Die Moschee ist | |
ebenso in Gehweite wie der Busbahnhof, von wo der Transport nach Serbien | |
geht. | |
## Gefahr droht nicht nur an der Grenze | |
„Das Schlimmste ist, dass dir die Polizei das Handy wegnimmt“, erzählt der | |
Afghane Sahil. Er versichert, Polizisten hätten ihm sein Geld gestohlen: | |
350 Euro an der türkisch-bulgarischen Grenze und die letzten 150 an der | |
serbischen Grenze. Jetzt habe er nichts mehr. | |
Gefahr droht Flüchtlingen nicht nur an der Grenze. Auch im Landesinneren | |
treiben sich entlang der Flüchtlingsrouten selbsternannte Jäger und Banden | |
herum, die gestrandete Ausländer überfallen, ausrauben und an die Polizei | |
übergeben. Manche Flüchtlinge berichten, sie seien tagelang von | |
Kriminellen, die sich als Schlepper andienen, festgehalten und erst gegen | |
Lösegeld wieder freigelassen worden. | |
Schon 2013 sah sich Bulgarien mit steigenden Flüchtlingszahlen | |
konfrontiert. Man zählte mehr als 9.000 Asylsuchende. Das kurzlebige | |
Expertenkabinett unter Premier Plamen Wassilew Orescharski entschloss sich, | |
entlang der türkischen Grenze einen Zaun zu errichten. Die niederländische | |
Regierung lieferte Wärmebildkameras, die das Entdecken von Flüchtlingen | |
schon auf türkischem Territorium ermöglichen. | |
## Der Zaun hielt die Flüchtlinge nicht ab | |
Die Rechnung ging auf: 2014 wurden nur noch etwas mehr als 4.000 | |
Flüchtlinge registriert. Doch in diesem Jahr war es mit dem Abwärtstrend | |
vorbei. Allein in den ersten neun Monaten 2015 wurden über 12.000 | |
Asylanträge abgegeben. Trotz Zauns. Es wird gemunkelt, dass die | |
Wärmebildkameras nicht mehr eingeschaltet werden, weil der Strom zu viel | |
kostet. Bulgarien ist mit rund 46 Prozent des BIP pro Kopf das ärmste | |
EU-Land. | |
Die meisten Flüchtlinge versuchen der Registrierung zu entgehen weil sie | |
fürchten, auf Basis des Dublin-Abkommens nach Bulgarien zurückgeschoben zu | |
werden, wenn sie es einmal nach Deutschland oder Schweden geschafft haben. | |
Die Befürchtung besteht nicht zu unrecht. In den ersten zehn Monaten dieses | |
Jahres wurden 260 Asylwerber aus anderen EU-Ländern zurückgeschickt, die | |
meisten davon aus Deutschland und Österreich. | |
Im „Dschungel“ vor den Toren von Ovcha Kupel haben die Männer andere | |
Sorgen. Sie klagen über Hunger und schmutziges Wasser. Notdürftig versorgt | |
werden sie nur von Freiwilligenorganisationen. „Wir werden alle krank“, | |
schimpft Rajah aus Aliabad. Und der milde Herbst ist vorbei. Der raue | |
bulgarische Winter kündigt sich mit kaltem Regen an. | |
16 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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