# taz.de -- „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Die meisten wissen nic… | |
> Ich kam mit dem Flugzeug von Syrien nach Deutschland, nicht illegal über | |
> das Meer. Bin ich Auswanderer oder Flüchtling? Was wisst ihr über mich? | |
Bild: Ich trieb irgendwie bodenlos dahin, seit ich Syrien verließ: Aleppo im S… | |
Werden wir Teil der deutschen Gesellschaft sein? | |
Ich kam auf legalem Weg nach Deutschland, nicht übers Meer. Zwar hatte ich | |
davor in Syrien und Jordanien so einiges durchgemacht, das Meer aber habe | |
ich zumindest nur aus dem Flugzeugfenster gesehen. Seinen Anblick ertrug | |
ich kaum. Nach so viel Tod als Antwort auf unseren Traum von einer | |
demokratischen Heimat war es schwer auszuhalten, am Horizont nur Wasser zu | |
sehen – aus dem Flugzeugfenster. Zweifellos war dies leichter als der | |
Seeweg. Ich war nicht der Kälte des Wassers ausgesetzt und auch nicht der | |
Gefahr, zu erfrieren oder zu ertrinken. Nicht einen Moment lang befand ich | |
mich in uferlosen Tiefen. Dennoch trieb ich irgendwie bodenlos dahin, seit | |
ich Syrien verließ und in Deutschland ankam. | |
„Besuchen Sie Deutschland zum ersten Mal?“, fragte mich der Beamte, als ich | |
im letzten November am Flughafen Köln-Bonn landete. „Ja“, antwortete ich, | |
„das erste Mal, dass ich meine Heimat verlasse.“ „Herzlich willkommen“, | |
sagte er, „Deutschland ist Ihre neue Heimat.“ Damals habe ich den Satz | |
nicht ernst genommen. Was ist mit den Erwartungen, die man hat? Den | |
stereotypen Bildern, die einen prägen? Mit der Heimat, in der man gelebt | |
hat, aber nicht einen Tag lang ein Bürger war? Die Begrüßung hat mich | |
erschüttert und jede Menge Fragen aufgeworfen über das Leben hier und über | |
das eigene, völlig neue Leben. | |
Auswanderer oder Flüchtlinge? | |
Wir – die Syrer, die zurzeit nach Deutschland kommen – sind uns uneins über | |
die Bezeichnungen, mit denen man uns klassifiziert. Was sind wir? | |
„Auswanderer“? „Flüchtlinge“? Auch die Gründe, aus denen wir hier sin… | |
unterscheiden sich. Die einen sind auf der Flucht vor dem Tod, suchen | |
Sicherheit und ein Minimum an Grundrechten, die ihnen in ihrer Heimat | |
verwehrt sind. Die anderen kommen, um neu anzufangen in einer neuen | |
Gesellschaft, von der sie sich Akzeptanz für persönliche Freiheiten und | |
individuelle Lebenskonzepte erhoffen. Zwischen beiden Fällen muss man | |
trennen. | |
Ersterer Gruppe passt das hiesige Ordnungssystem wie Lebensart, | |
Arbeitswelt, soziale Gepflogenheiten und Sexualkunde in den Schulen | |
möglicherweise nicht. Diese Menschen wollen eher nicht lange bleiben, | |
sondern bald zurückkehren. Vertreter der zweiten Gruppe dagegen streben | |
nach gewissen Freiheiten und Rechten, nach einer Kultur, die sich anders | |
als die in ihrem Herkunftsland nicht religiös definiert. Sie sind auf der | |
Suche nach einem Ort, an dem sie ihre Überzeugungen frei äußern können, | |
ohne bedroht zu werden. Sie möchten deutsche Universitäten besuchen, am | |
Arbeitsmarkt teilhaben, Familien gründen, ihren Kindern eine Zukunft in | |
Recht und Freiheit bieten. All das sollte, so hoffe ich, die deutsche | |
Regierung erkennen und dementsprechend ihre Politik ausrichten. | |
Integration in die Gesellschaft | |
Die Neuankömmlinge stammen aus unterschiedlichen Ländern. Manche, in | |
europäischen Ländern mit desolater Wirtschaft beheimatet, suchen hier | |
Rettung aus ökonomischen Zwängen. Andere werden von Krieg, Zerstörung und | |
Tod aus ihren Ländern nach Deutschland getrieben. Obwohl die Hintergründe | |
und Motive herzukommen grundverschieden sind, wird auf alle Menschen die | |
gleiche Integrationspolitik angewendet. Der deutsche Staat bietet jedem | |
Ankömmling einen 600-stündigen Integrationskurs inklusive Sprachunterricht | |
sowie 60 Stunden Einführung in die Kultur und Gesellschaft. Das mag wohl | |
für Griechen oder Spanier ausreichend sein, aber für Menschen aus Eritrea | |
oder Syrien etwa bei weitem nicht. | |
Sowohl der Umfang an Sprachunterricht als auch an Gesellschaftskunde ist | |
für Angehörige eines völlig anderen kulturellen Kontextes sehr knapp | |
bemessen. Insbesondere Menschen aus Kriegsgebieten leiden oft an | |
Konzentrationsschwäche. Gedanklich und emotional hängen sie ihrer Familie | |
und den Freunden nach. Ständig verfolgen sie die Nachrichten, die sich um | |
Verhaftungen, Vertreibung, Tod und Ertrinken im Meer drehen. Oft sind sie | |
traumatisiert. | |
Darauf wird im Unterricht jedoch keine Rücksicht genommen. So weigerte sich | |
zum Beispiel die Lehrerin der Integrationsklasse, dem Wunsch eines | |
Mitschülers nachzukommen und etwas zu erklären, das er nicht verstanden | |
hatte. Aus Zeitmangel könne sie nicht alles erklären, so ihre Begründung. | |
Heißt das, dass letztlich nur die physische Anwesenheit des Flüchtlings im | |
Integrationskurs zählt und er im Zweifelsfall auch ohne fundierte | |
Kenntnisse der deutschen Sprache in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft | |
entlassen wird? | |
Sprache und Schreiben | |
Es vergeht kaum eine Woche, in der der Flüchtling nicht Post erhält von der | |
Stadtverwaltung, dem Jobcenter, der Schule, der Telefongesellschaft, dem | |
Stromanbieter. Und das, noch bevor er den Integrationskurs absolviert hat, | |
geschweige denn der deutschen Sprache mächtig ist. Sämtliche Schreiben sind | |
auf Deutsch verfasst. Ich verlange nicht, dass man den Flüchtling in seiner | |
Muttersprache anschreibt, dass man aber zumindest alternative Lösungen | |
einrichtet wie etwa eine Hotline, an die sich der Empfänger solcher Briefe | |
in seiner Muttersprache wenden kann. Im Wohnungsamt, im Jobcenter, in der | |
Stadtverwaltung – in allen Behörden – sprechen die Mitarbeiter | |
ausschließlich Deutsch. Der Flüchtling muss einen Dolmetscher mitbringen. | |
Was aber, wenn er keinen Dolmetscher kennt? | |
Nicht wenige Flüchtlinge in meinem Umfeld sind aus sprachlichen Gründen in | |
Schwierigkeiten geraten. So mussten einige extra Gebühren an die | |
Telefongesellschaft zahlen, da diese ihnen ungefragt schriftliche Angebote | |
unterbreitet hat. Bis die Adressaten es jedoch drei Wochen später geschafft | |
hatten, sich den Brief übersetzen zu lassen, war es zu spät. Rechtlich hat | |
der Einspruch innerhalb von zwei Wochen zu erfolgen. | |
Was wissen die Deutschen über uns? | |
Die Deutschen sind nett und hilfsbereit. Zumindest die, die ich | |
kennengelernt oder im Zug getroffen habe. Eine angenehme Erfahrung, die ich | |
nicht erwartet hatte. Denn wir haben gewisse Klischees von den Deutschen, | |
ebenso wie sie welche von uns haben. Eine deutsche Familie hat mich in | |
ihrem schönen Zuhause aufgenommen. Zwei Monate habe ich dort gewohnt und in | |
vielen Angelegenheiten Unterstützung erfahren. Christina und Gereon waren | |
für mich eine echte Familie. Ihre Töchter haben ihre Mutter interessiert | |
nach mir befragt und aus Rücksicht auf mich versucht, Englisch zu sprechen. | |
Wir haben viel über Politik, Religion und Kultur diskutiert. Ich konnte | |
ihnen ein Bild von dem vermitteln, was in Syrien geschieht. Wobei sie sich | |
gut auskannten, was ich nicht von allen behaupten kann, die ich hier | |
kennengelernt habe. | |
Die meisten wissen nichts über Syrien, nichts von der Diktatur dort, nichts | |
von der friedlichen Revolution gegen das Regime und für Demokratie und | |
Freiheit. Vom Islamischen Staat und seinen Verbrechen aber wissen sie sehr | |
wohl. Es ist an uns Syrern, denke ich, das deutsche Volk über das zu | |
informieren, was die Medien verschweigen. Nämlich, dass sich unsere | |
Revolution gegen ein diktatorisches Regime wendet, das eine halbe Million | |
Menschen auf dem Gewissen hat. Dass durch globale und regionale | |
Interessenspiele die syrische Revolution in einen bewaffneten Kampf | |
ausgeartet ist. Dass das syrische Regime friedliche Aktivisten verhaftet | |
und im Gegenzug Kriminelle aus den Gefängnissen entließ, die nun die | |
Führungsspitze der militant islamischen Gruppierungen bilden. | |
All dies reduzieren die Medien auf eine Frage von zu Opfern gewordenen | |
Flüchtlingen bzw. Auswanderern, ohne einen Hinweis darauf zu liefern, wer | |
die Opfer zu Opfern gemacht hat. | |
Ist Deutschland zu all dem verpflichtet? | |
Darauf kann ich weder mit Ja noch mit Nein antworten. Die humanitäre | |
Politik, mit der die deutsche Regierung den Flüchtlingen begegnet, ist hoch | |
anzuerkennen und schätzenswert. Einerseits. Andererseits aber entspricht | |
diese Politik im Kern genau dem Image, das sich Deutschland kontinuierlich | |
gibt. Würde sich die Bundesrepublik nicht als Land der Menschenrechte und | |
Freiheit par excellence ausgeben, würden wir sie um nichts bitten. Vielmehr | |
hätten wir uns ihr gegenüber so verhalten wie den anderen Ländern, in die | |
sich Syrer geflüchtet haben wie Jordanien und den Libanon. | |
Die Tatsache, dass die Bundesrepublik den Flüchtlingen die Tore öffnet, | |
heißt, dass sie sich einen gewissen Nutzen davon verspricht. Das ist | |
selbstverständlich und auch logisch. Andernfalls hätte sie die gleiche | |
Politik an den Tag gelegt wie Großbritannien, Frankreich oder die USA. Sie | |
hätte nur einer begrenzten Zahl von Flüchtlingen die Einreise erlaubt. All | |
diese Menschen jedoch ihrem Schicksal zu überlassen ohne einen echten | |
politischen Plan, sie in den Arbeitsmarkt, die Gesellschaft und Kultur zu | |
integrieren, bedeutet neue Probleme für den Staat und die Gesellschaft. | |
Daher ist es dringend erforderlich, dass die Regierung offiziell mit den | |
zivilen Einrichtungen, den politischen Parteien und der Gesellschaft | |
kooperiert. | |
Aus dem Arabischen übersetzt von Leila Chammaa | |
5 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Ramy al-Asheq | |
Ramy Al-Asheq | |
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