# taz.de -- Mittelmeer als Flüchtlingsroute: Mit Diktatoren dealen | |
> Unwürdig: Die EU schließt mit armen Ländern Abkommen, um sich Flüchtlinge | |
> und Jobsuchende vom Hals zu halten. | |
Bild: Touristen auf der Insel Kos. Auf der Bank ruht sich ein syrischer Flücht… | |
Berlin/Madrid taz | Bis in die 1990er Jahre konnte man nahezu ungehindert | |
zu Fuß von Afrika nach Europa laufen. An der einzigen Landgrenze der beiden | |
Kontinente, zwischen Marokko und den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla | |
gab es praktisch keine Zäune. Doch dann begann die EU langsam, sich gegen | |
Migration abzuschotten. 1993 wurde der erste, noch kleine Zaun errichtet. | |
Heute steht dort Draht vom Typ „Concertina 22“, bewehrt mit 22 Millimeter | |
hohen Klingen, sonst benutzt zum Schutz von Atomkraftwerken, | |
Munitionslagern und Flughäfen. | |
Die Armee des Königreiches von Mohammed VI. räumt immer wieder die Wälder | |
rund um Ceuta und Melilla und setzte die Menschen irgendwo mitten in der | |
Wüste an der Grenze zu Algerien aus. Verbesserte Grenzanlagen und Razzien | |
zeigten Wirkung. Die Menschen aus Afrika suchten neue Wege und fanden sie. | |
Ab Sommer 2006 waren die Kanarischen Inseln das Ziel. Ein neues Wort zog in | |
die spanische Sprache ein: Es heißt Cayuco und bezeichnet die typisch | |
westafrikanischen, offenen Holzboote, die normalerweise zum Fischen benutzt | |
werden und 90 bis 170 Menschen Platz bieten. | |
Zuerst legten sie in Südmarokko und von den Stränden der besetzten, | |
ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara ab. Madrid setzte die Regierung in | |
Rabat einmal mehr unter Druck. Auch dieses Mal mit Erfolg. König Mohammed | |
VI. ließ die Strände besser bewachen. Neue Routen wurden eröffnet. | |
Zuerst ging die Reise über Mauretanien. Doch auch hier erreichte die | |
spanische Diplomatie, dass die Regierung gemeinsame Küstenpatrouillen | |
einrichtete. Spanien entsandte ein Boot und einen Helikopter und stellte | |
der Polizei des westafrikanischen Landes im Rahmen der Entwicklungshilfe | |
zwei ausgediente Schiffe zur Verfügung. Die Flüchtlinge versuchen fortan | |
ihr Glück im Senegal. | |
Aus anfänglich 90 Kilometer Überfahrt wurden so innerhalb weniger Monate | |
über 2.500 Kilometer. Längst verläuft Europas Grenzen quer durch Afrika. | |
„Es wurde Druck auf die Länder im Maghreb und südlich der Sahara ausgeübt, | |
um sie in die Bekämpfung der illegalen Migration einzubinden“, schrieb | |
Amnesty International. Allen voran sei Mauretanien in die Rolle des | |
„Polizisten Europas“ geschlüpft. Selbst elementarste Menschenrechte blieben | |
dabei auf der Strecke. | |
Die Länder Nordafrikas wurden zur Hilfstruppe der EU-Grenzschützer. Dazu | |
unterzeichnete die EU im Rahmen so genannter „privilegierter | |
Partnerschaften“ mit Marokko und Tunesien Abkommen, die offiziell den | |
Austausch zwischen den Ländern und Europa erleichtern sollen. Im Gegenzug | |
zu dieser Visaerleichterung für Tunesier und Marokkaner verpflichteten sich | |
die beiden Länder bei der Abwehr der illegalen Immigration zu kooperieren. | |
Mobilitätspartnerschaft heißt dies. | |
## „Mehr Öl, weniger Flüchtlinge“ | |
Auch Libyen war bis vor Kurzem wichtiger Bestandteil des Systems zur Abwehr | |
von Flüchtlingen. Es war Italiens Präsident Silvio Berlusconi, dem die | |
Vorteile einer Türstehertruppe im Reich des einstigen Diktators Gaddafi als | |
Erstem in den Sinn kamen. Um das Jahr 2003 herum ging er dazu auf den | |
damals beim Westen in Ungnade gefallenen Herrscher Muammar al-Gaddafi zu. | |
„Mehr Öl, weniger Flüchtlinge“, auf diese Formel brachte Rom den Zweck | |
seiner neuen Allianz – und ließ sich diese einiges Kosten: Berlusconi | |
verpflichtete sich, nach und nach insgesamt sagenhafte 3,4 Milliarden Euro | |
„Entschädigung“ an Gaddafi zu zahlen – angeblich als Wiedergutmachung f�… | |
Verbrechen aus der Kolonialzeit zwischen 1911 und 1943. | |
Dafür machte Gaddafi seine Grenzen dicht, führte den Straftatbestand der | |
„illegalen Ausreise“ ein, baute Gefängnisse für Papierlose und schob diese | |
unter grausamen Bedingungen in die Wüste ab. | |
Wenige Jahre später stieg, zunächst etwas verstohlen, auch die EU in die | |
bis dahin nur bilaterale Kooperation ein: Eine Delegation der | |
EU-Grenzschutzagentur Frontex besuchte 2007 Libyen und fuhr mit einer | |
Wunschliste des Diktators nach Hause. Europa lieferte Kommandostände, | |
Überwachungsradars, Nachtsichtgeräte, Fingerabdruck- und | |
Bilderkennungssysteme, satellitengestützte Kommunikation, | |
Navigationsgeräte, Lastwagen (“für die Entfernung von | |
Wüsteneindringlingen“) und mehr. | |
2009 nahm die EU mit dem Diktator offiziell Verhandlungen über ein | |
sogenanntes Nachbarschaftsabkommen auf. Auch hier galt letztlich die Formel | |
„Mehr Öl, weniger Flüchtlinge“. Dass Gaddafi das UN-Flüchtlingswerk UNHCR | |
aus dem Land warf, hielt die damalige EU-Außenkommissarin Catherine Ashton | |
nicht davon ab, das Abkommen, bei dem der libysche Herrscher weitere 50 | |
Millionen Euro für die Grenzsicherung bekommen hätte, abschließen zu | |
wollen. Der Arabische Frühling 2011 verhinderte das. | |
Die EU zeigte sich jedoch flexibel. Noch während Gaddafi im Amt war, | |
verhandelte sie mit den Rebellen in Bengasi – über Militärhilfe, aber auch | |
über Migrationskontrolle. Nach dem Sturz Gaddafis hielten sie Wort. „Vorher | |
hat nur Gaddafi gewonnen, wenn es Abkommen mit dem Westen gab“, sagte der | |
Libyer Miftah Saeid, der in Bengasi gegen Gaddafi gekämpft hat. „Was wir | |
wollen, ist eine Win-win-Situation – für ganz Libyen und für den Westen.“ | |
Die Zuwanderung aus Afrika nach Europa aber ist nie endgültig versiegt. Das | |
derweil letzte Kapitel wird an Europas Südgrenze etwas weiter östlich, | |
zwischen Tunesien und Italien beziehungsweise Libyen und Italien | |
geschrieben. Und auch hier endet die Reise ins vermeintliche Eldorado für | |
so manchen in einer Tragödie. | |
## Mauerbau an den Grenzen | |
Nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali | |
verschwand fast überall im Land die Polizei aus dem Straßenbild. Mauern zum | |
Grenzschutz sind wieder aktuell. Tunesien will nach dem terroristischen | |
Überfall auf ein Strandhotel in Sousse noch in diesem Jahr eine 168 | |
Kilometer lange Mauer quer durch die Wüste errichten. Ein Drittel der | |
Grenze zu Libyen soll damit undurchlässiger gemacht werden. | |
In Marokko wird ebenfalls gebaut. Dort soll eine 124 Kilometer lange Mauer | |
den nördlichen Teil der Grenze mit Algerien sichern. Sie soll die Route | |
unterbrechen, die viele Flüchtlinge nehmen, um zu den beiden spanischen | |
Exklaven Ceuta und Melilla zu gelangen. Eine weitere Mauer auf dem Weg nach | |
Europa wird den Flüchtlingsstrom nicht stoppen, aber die Zahl der Toten und | |
Verletzten erhöhen, befürchten Bürgerrechtler. | |
Selbst wer nach Ceuta und Melilla gelangt und dort den bis zu 7 Meter hohen | |
Grenzzaun überwindet, ist zwar in Europa angekommen, wird aber dennoch | |
meist gewaltsam von der spanischen Polizei durch Türen im Zaun zurück nach | |
Marokko verfrachtet, wo er von der Gendarmerie nicht gerade freundlich | |
empfangen wird. Diese Praxis der sogenannten „heißen Ausweisung“ ist nach | |
internationalem Recht illegal und so stand es bisher auch im spanischen | |
Gesetz. Nachdem die Proteste gegen diese Praxis immer lauter wurden, hat | |
die konservative Regierung Rajoy diese Maßnahmen zum 1. Juli legalisiert. | |
Die EU koordiniert seit Herbst 2013 den Schutz der Südgrenze mit der | |
Operation „Eurosur“. Dafür stehen bis 2020 mindestens 244 Millionen Euro | |
bereit. Das Meer wird mit Booten der Frontex, mit Satelliten und Drohnen | |
überwacht, um Flüchtlingsboote rechtzeitig zu erkennen und | |
zurückzuschicken. | |
13 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
Reiner Wandler | |
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