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# taz.de -- Flüchtlinge in Europa: Der Sprung ins schwarze Wasser
> Am Ende blieb ihnen nur die Flucht, die sie beinahe mit ihrem Leben
> bezahlt hätten: Wie Familie al Mahamed der Angst und Gewalt in Syrien
> entkam.
Bild: Familie al Mahamed. Hier auf einer Etappe ihrer Flucht in Paris
Berlin taz | Er hätte in den USA studieren können, sein Vater hatte sich
das so gewünscht, aber Fahdi al Mahamed hatte keine Lust dazu. „Mir geht es
gut in Syrien. Ich will nirgendwo anders hin.” Der heutige Jurist wuchs im
Süden Syriens, in der Stadt Daraa auf, dort, wo die Revolution mit der
ersten Massendemonstration gegen das Regime 2011 begann. Bis vor kurzem
arbeitete er im Marketing einer Reinigungsmittelfirma. Seine Frau ist
Lehrerin und unterrichtete Schüler mit Downsyndrom. Sie haben drei Kinder.
„Unser Leben war schön und bequem“, sagen Fahdi und Ennam rückblickend.
Trotzdem war der Familienvater ohne groß nachzudenken bei der ersten Demo
dabei. Vier Stunden dauerte es, bis das Regime auf die friedlichen
Demonstranten schießen ließ. „In diesen vier Stunden war ich so glücklich,
ich konnte atmen“, erzählt er und strahlt. So sehr der gesprächige Mann
Syrien und sein Leben dort liebte: Dass das Assad-Regime weg muss, daran
hat er nie gezweifelt. Nachdem er an vielleicht sieben Demos teilgenommen
hatte, besuchen ihn zwei Offiziere vom Luftwaffengeheimdienst; er ist der
brutalste von allen. Sie zwingen ihn, mit seinem Lieferwagen Waffen nach
Damaskus zu bringen. Fahdi al Mahamed wird zur Zielscheibe.
Dass zivile Fahrzeuge vom Militär als Tarnung benutzt werden, ist
inzwischen normal. Doch dass sie nicht einfach sein Auto nehmen und es ein
paar Stunden später wieder zurückbringen, sondern er mitfahren muss, ist
ungewöhnlich und eine deutliche Warnung. Er zieht sich zurück. Trotzdem
wird es immer gefährlicher für ihn. Einmal wird auf ihn geschossen. Er
verlässt das Haus nicht mehr.
Am Haupteingang der Schule werden Soldaten postiert und auch seine Kinder
bekommen Angst. Dann warnt ihn ein Freund, seine Verhaftung stünde bevor.
Die Familie fährt nach Jordanien. Der Ortswechsel ist als eine Art Urlaub
geplant, „damit wir uns wieder beruhigen”. Es kommt anders. Als sie die
Grenze passieren, raunen die von ihm bestochenen Soldaten: „Komm nicht
zurück!”
Also versucht Fahdi al Mahamed, in Jordanien Fuß zu fassen. Zunächst
arbeitet er als Fahrer in einem Steinbruch. Jordanier verdienen dort 800
Euro, Syrer die Hälfte und der LKW hat keine Bremsen. Er findet dann Arbeit
bei einem Teppichverkäufer und schuftet 10-12 Stunden pro Tag, aber das
Geld reicht nicht. Die Kinder hassen die Schule. Immer wieder müssen sie an
der Tafel das Geschmiere ihrer Mitschüler lesen: „Syrer sind niedrige
Menschen”. Die Lehrerin findet das richtig.
Den Eltern ist klar, dass ihre Kinder hier keine Zukunft haben. Sie
verkaufen, alles was sie haben, denn die Schlepper wollen 13.000 Euro. Die
Flucht beginnt im Juli 2014, und zwar zunächst recht luxuriös: Per Flugzeug
geht es nach Algier. Dann weiter mit dem Bus in die kleine algerische Stadt
Debdeb. Die Absurdität, dass sie erst nach Westen fliegen, um dann den Weg
zurück nach Lybien per Bus, zu Fuß und im LKW zurückzulegen, lässt Fahdi
wie einen alten Mann mit dem Kopf schütteln. Doch was wäre die Alternative
gewesen? Das europäische Grenzregime zwingt sie zu diesem Wahnsinn.
Von Debdeb geht es zu Fuß weiter durch die Wüste nach Ghadames, Libyen.
Etwa zweihundert Syrer stapfen mit ihnen durch die Wüste. Vor allem für die
Kinder ist diese dreitätige Tour furchtbar. In Zuwara angekommen, heißt es:
Bleibt in der Wohnung und macht keinen Lärm. Am 17. Juli, vor fast genau
einem Jahr also, um 19 Uhr kommt der Befehl: Jetzt los! Etwa 90 Menschen
finden sich auf dem Schlauchboot ein, das sie nach Malta bringen soll. Der
Wellengang ist hoch, Fadi al Mahmed gehen die Worte aus, als er seine Angst
von damals beschreiben will. Aber sie schaffen es, sie kommen an. In Malta
gehen sie direkt an Bord eines rostigen Öltankers. Ziel: Messina in
Italien. Etwa 900 Menschen drängen sich auf diesem Schiff.
## Der Tanker beginnt zu sinken
Die Afrikaner sind im Schiffsbauch eingepfercht, denn sie können nur 300
Euro zahlen. Fahdis Familie hat pro Person 1.300 Euro aufgebracht und
befindet sich auf dem Oberdeck. Wasser läuft ins Schiff, die Männer bemühen
sich, es abzuschöpfen, umsonst. Der Tanker beginnt zu sinken. Plötzlich
taucht ein Schiff der italienischen Handelsmarine auf. Es will den Öltanker
nicht retten, nur Wasser vorbei bringen. Panik bricht aus. Fahdi nimmt
seine Tochter, seine Frau den kleinsten Sohn, sein Schwager den ältesten.
Es ist dunkel, und alle springen ins schwarze Wasser.
Fahdis Kleidung saugt sich mit Wasser voll und zieht ihn nach unten. Er
sieht noch, wie ein paar Afrikaner seiner Tochter helfen. Dann ist er
wieder unter Wasser, als er auftauchen kann, ist Iya verschwunden.
Irgendwie schafft er es, zum Handelsschiff zu schwimmen. Er wird gerettet.
Wo aber sind seine Tochter und die anderen?
Als Fahdi von diesem Moment erzählt, bricht ihm die Stimme. Erst eine
Stunde später entdeckt er endlich seine Frau im Wasser, dann auch seine
Tochter, seine Söhne und auch den Schwager. Sie werden einzeln aus dem
Wasser gezogen. Die Tränen fließen weiter, Fahdi kann die Geschichte seiner
Flucht nicht zu Ende bringen, er bleibt in diesem fürchterlichen Moment
gefangen.
## Das Mittelmeer überlebt
45 Menschen sterben am 20. Juli 2014 im Mittelmeer. Fahdi und seine Familie
überleben. Nur einen Tag später fahren sie mit dem Bus weiter nach Mailand,
dann mit dem Zug nach Paris und dann endlich endet die unvorstellbare
Odyssee am 24. Juli in Amsterdam.
Seine 14-jährige Tochter übernimmt nun das Gespräch, ihr Vater weint immer
noch. Immer wieder erzählt sie, wie schrecklich die Schule in Jordanien
war. Hier aber gibt es Musikunterricht! Eine Lehrerin hat ihr ein
elektronisches Klavier geschenkt. Iya hört sich neue Stücke auf Youtube an,
sucht sich dann die Noten im Netz und übt. „Für Elise“ von Beethoven ist
kein Problem mehr. Sie will Ärztin werden. Ihre Eltern hätten gerne, dass
sie ein Kopftuch trägt, wie ihre Mutter. Das ist ihre persönliche
Entscheidung, findet Iya. Dieser Ansicht war sie bereits in Jordanien. Im
Moment käme das nicht in Frage. Ihre Eltern lassen ihr ihren Willen.
Hauptsache Stabilität, endlich wieder Stabilität, sagt ihre Mutter.
Seit zwei Wochen wissen sie, dass sie im Fischerdorf Urk bleiben können,
sie haben dort eine schöne Wohnung bezogen, und Nachbarn sagen zu ihnen
erstaunt: Ihr seid ja gar nicht radikal! Ihre Zukunft hat begonnen.
12 Jul 2015
## AUTOREN
Ines Kappert
## TAGS
Flüchtlinge
Schwerpunkt Syrien
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