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# taz.de -- Interview über traumatisierte Flüchtlinge: „Perspektivlosigkeit…
> Psychoanalytiker Gehad Mazarweh behandelt Flüchtlinge aus Syrien. Er hat
> sich auf traumatisierte Patienten und Folteropfer spezialisiert.
Bild: Die traumatischen Erlebnisse nehmen die Flüchtlinge als schweren Ballast…
taz: Herr Mazarweh, bekommen Sie in Ihrer Praxis die wachsenden
Flüchtlingszahlen zu spüren?
Gehad Mazarweh: Ja, das ist unvorstellbar. Es werden jeden Tag mehr. Und es
sind viele Patienten, die in laufenden Asylverfahren stecken. Der Andrang
bei den Therapeuten ist kaum noch zu bewältigen. Es fällt unheimlich
schwer, Menschen abweisen zu müssen, wie z. B. eine junge Frau aus Syrien,
deren zwei Kinder, ihr Mann und ihre Eltern vor ihren Augen kurz vor
Lampedusa ertranken.
Kommen viele Frauen allein?
Ja, und auch viele Kinder ohne Begleitung. Letztes Jahr kam ein Junge, der
war 15 Jahre alt und Einzelkind. Der Vater hat ihm Geld gegeben, damit er
nach Schweden flüchten kann, um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Er kam
von Syrien in die Türkei, ist dann auf der falschen Fähre gelandet und im
Sudan gestrandet. Er musste zurück nach Ägypten, von da nach Italien. Dort
fragte er, wie man nach Schweden kommt. In Freiburg hat ihn die Polizei auf
einer Kontrolle entdeckt und dafür gesorgt, dass er in eine Pflegefamilie
aufgenommen wird. Es hat sehr lange gedauert, bis er sich von seinen
schlimmen Erfahrungen wenigstens teilweise erholen konnte. Ähnlichen
Schicksalen begegnen wir häufig und stellen fest,dass diese Arbeit für
viele Kollegen ungewohnt und bedrohlich ist. Häufig fühlen sie sich damit
überfordert.
Tauschen Sie sich unter Kollegen aus?
Ja, der Austausch ist sehr wichtig, aber noch nicht ausreichend. Wir
bräuchten mehr spezifizierte Fortbildungsangebote, die auf die kulturellen
Hintergründe und die besondere Art der Traumatisierung dieser Patienten
eingehen. Bisher erscheint die Vielfalt der Probleme für viele Kollegen
eher abschreckend.
Probleme, die auch Sie nicht lösen können?
Wenn genügend Zeit für jeden einzelnen Patienten vorhanden ist, kann man
schwer traumatisierten Menschen helfen, mit ihren schlimmen Erfahrungen zu
leben. In den über 30 Jahren, die ich mit dieser Klientel arbeite, habe ich
das erfahren dürfen. Leider fehlt es bei der großen Zahl der Flüchtlinge an
ausreichend entsprechend vorbereiteten Therapeuten, um für jeden Patienten
eine passende Behandlung anzubieten. Daher biete ich seit Langem Beratung
und Supervision für Kollegen an, die bereit sind, Flüchtlinge anzunehmen.
Sie können ja nur begrenzt helfen. Wie gehen Sie damit um?
Für viele der arabischsprachigen Patienten, die sich an mich wenden, bin
ich zumindest eine Anlaufstelle, bei der sie ihre Probleme in ihrer
Muttersprache anbringen können.
Folteropfern in einer Praxis zu begegnen ist sicherlich mit einer ganzen
Menge unheimlicher Vorstellungen gekoppelt?
Bei der Begegnung mit Folteropfern entsteht oft eine fast unerträgliche
Spannung, die Übertragungen in der Behandlung stark beeinflusst. Die Angst
sitzt mit im Raum. Man braucht viel Erfahrung, um das auszuhalten. Ich habe
nicht nur mit Folteropfern, sondern auch mit Folterern gearbeitet. Bei
manchen, die mir die Folter beschrieben haben, wurde ich mit meiner eigenen
Angst und Aggressivität konfrontiert. Wenn man dann ihre Lebensgeschichte
hört, entsteht ein starkes Bedürfnis, sie in ihrem Elend nicht alleine zu
lassen. Häufig sind Folterer selbst gefoltert worden. Das wird von
politischen Systemen ausgenutzt und als Instrument zur Einschüchterung
benutzt. Syrien, Ägypten, Jordanien und Israel gehören zu den Ländern, in
denen die Folter am stärksten praktiziert wird.
Auch die Amerikaner haben in Abu Ghraib gefoltert.
Ja, das ist bekannt. Sie haben gezeigt, wie man foltert und foltern lässt
und den Rest haben die irakischen Soldaten und der Sicherheitsdienst
gemacht. Dass eine Frau Männer an die Leine legt und zwingt zu
masturbieren, das gehört zu den harmloseren Foltermethoden. Das Grauenvolle
ist, wenn die Leute körperlich so traktiert werden, dass sie tatsächlich
mit ihrem Leben nichts mehr anfangen können und zu einer Belastung für die
Gesellschaft werden.
Diese ausgeklügelten Foltermethoden treiben die Spirale der Gewalt weiter?
Absolut. Gewalt und Gegengewalt potenzieren sich.
Und statt des Arabischen Frühlings macht nun der IS von sich reden?
Der Arabische Frühling ist in fast allen arabischen Ländern außer Tunesien
zerstört, auch durch diese konservativen Staaten wie Saudi-Arabien und die
Golfstaaten, die immer alle Privilegien gehabt haben und die nun in Ländern
wie Libyen, aber auch Tunesien islamistische Radikale unterstützen. Es ist
ungerecht, dass die Golfstaaten auf so viel Kapital sitzen und Menschen in
Ägypten hungrig übernachten. Sie beuten Menschen aus, die bei ihnen
arbeiten, aber wenn jemand etwas stiehlt, wird er unverhältnismäßig hart
bestraft. Solche Verhältnisse unter anderem führen zu einem globalen Hass
auf die Herrschenden.
Aber der IS geht ja nicht gegen die Saudis vor.
Sie haben Recht, sie gehen nicht gegen die Saudis vor. Es handelt sich bei
ihnen um eine fanatisierte Gruppe, die gegen alles und alle vorgeht. Das
kennen wir aus der Psychoanalyse, wenn ein Patient sagt, ich hasse diese
Welt, ich möchte diese Welt zerstören. Das sind Menschen mit starkem
Selbsthass.
Woher kommt dieser „globale Hass“?
Das ist individuell sicher unterschiedlich. Aber die Länder mit dem Versuch
des Arabischen Frühlings sind seit langer Zeit ausgebeutet, kolonialisiert
und unterdrückt gewesen. Ihr letzter Versuch zur Befreiung ist wieder
gescheitert. Nehmen sie zum Beispiel junge Tunesier, die sich gerade zu
Hunderten vom IS anwerben lassen. Das sind Leute, die angefangen hatten,
anders zu denken, die anders leben wollten als ihre Väter, die Freiheit
haben möchten, emotional, religiös, intellektuell. Nach dem sich für sie
aber wirtschaftlich auch in Tunesien gar nichts verändert hat, wächst die
Enttäuschung, die Wut.
Sie meinen die ökonomische Perspektivlosigkeit?
Die spielt eine wichtige Rolle. Ich habe viele Patienten, die aus ihren
Ländern fliehen mussten. Das tun die Menschen nur, wenn es nicht anders
geht. Sie riskieren viel. Diese Perspektivlosigkeit ist völlig
erniedrigend: Wenn ein junger Mann von 25 Jahren nicht weiß, ob er jemals
Arbeit finden kann, dann ist diese Perspektivlosigkeit eine tickende
Zeitbombe. Die jungen Menschen werden es nicht mehr akzeptieren, dass die
Reichtümer der arabischen Welt anderen zugute kommen und sie um eine
Scheibe Brot kämpfen müssen.
Es ist also der Stachel der Ungleichheit?
Ja, und das war auch die Angst der westlichen Ländern beim Arabischen
Frühling. Es wurden Stimmen laut, von deren Existenz man nichts wusste. Man
hatte ja vorher auch nur mit den Diktatoren geredet. Plötzlich gingen in
Tunesien und Ägypten über eine Million Menschen auf die Straße und
forderten Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Arbeit.
Nun ist diese Bewegung tot?
Im Augenblick scheint es so zu sein. Die alte Garde in der arabischen Welt
ist nicht bereit zu verzichten. Sie werden sich immer wehren gegen jede Art
von Veränderung, die ihre Privilegien bedroht. Ich bin Palästinenser aus
Israel und sehe was in diesem Land möglich ist. Für die Ausbildung und
Förderung junger Menschen wird alles getan.
Und warum geht das in arabische Ländern nicht?
Ich sehe einen Zusammenhang mit der Auffassung des Wertes von Individuen.
Wenn es in Israel einen begabten Schüler gibt, dann findet man alle
möglichen Institutionen, die dieses Kind unterstützen. Wenn man in der
arabischen Welt einen armen Vater hat und überdurchschnittlich begabt ist,
dann verkommt man irgendwo auf der Suche nach Arbeit, um die Familie zu
ernähren.
Haben Sie keine Hoffnung?
Momentan nicht. Irak,Syrien und Libyen sind gefallen. In Ägypten nimmt die
Unterdrückung zu. Wir werden viel mehr IS haben und mehr Zerstörung.
Wie in Europa mit dem Zweiten Weltkrieg?
Genau das: Der Zerstörungstrieb und die Aggressivität, die wir bei allen
Menschen finden, ist groß. Wenn diese Triebe nicht kultiviert und
kanalisiert werden in eine positive Richtung, sondern permanenter
Frustration ausgesetzt sind, dann kommt die Katastrophe. Aber ich habe in
meiner Arbeit vor allem mit Folteropfern auch gelernt: Die Welt ist nicht
gut und die Welt ist nicht böse. Die Welt ist beides.
27 Jun 2015
## AUTOREN
Edith Kresta
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
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