# taz.de -- Raoul Schrott über Sehnsuchtsorte: „Schon Odysseus wollte nach E… | |
> Abendland und Morgenland sind kein Gegensatz. Im Gegenteil: Sie | |
> vervollständigen einander, sagt der Literaturwissenschaftler Raoul | |
> Schrott. | |
Bild: Insel Kos: Warten auf Papiere für die Weiterreise. Über 30.000 MigrantI… | |
taz: Herr Schrott, war Odysseus der erste Bootsflüchtling? | |
Raoul Schrott: Nein. Er konnte ja nach langen Jahren im Krieg in seine | |
Heimat zurückkehren. Aber auch er wollte wie die Flüchtlinge heute aus dem | |
Krieg nach Europa, nur um zu überleben. Beide sind sie auf ihre Weise | |
Kriegsflüchtlinge. | |
Sie sind Experte für die antike mediterrane Welt. Welche Rolle spielte das | |
Mittelmeer für die Menschen damals? | |
Das Mittelmeer mit seinen Anliegerländern ist ein Raum, um den Menschen wie | |
Ideen seit jeher gewandert sind – wobei bei es uns nur Endstation dieser | |
ewigen Migration ist. Wir selbst sind aber nichts anderes als ein Produkt | |
permanenter Migrationen. Genetisch gesehen gehören wir dem Homo sapiens an, | |
der vor 60.000 Jahren aus Äthiopien hier einwanderte. | |
Dort traf er auf die Neandertaler, die ehedem vor 1,3 Millionen Jahren aus | |
Georgien eingewandert waren. Ihnen verdanken wir, dass wir unsere | |
Kraushaare verloren haben und ein Gen für weiße Haut besitzen – sonst wären | |
wir schwarz. Vor 9.000 Jahren kamen dann Farmer aus Nordsyrien und aus | |
Anatolien zu uns in den Norden, brachten Säcke voll Weizen und Gerste mit | |
und lehrten uns den Ackerbau. | |
Weitere 4.000 Jahre später migrierten aus der kasachischen Steppe Leute, | |
die Pferde reiten konnten und über Wagen verfügten breit in Europa ein. Die | |
Europäer sind ein buntes Völkergemisch. Die Idee, dass es etwas autochthon | |
Europäisches gäbe, ist nicht nur falsch, sondern schlichtweg absurd. | |
Was bedeutet das kulturell? | |
Dass beispielsweise Europa vom Ende der letzten Eiszeit bis in die Antike | |
alles aus Syrien und dem Irak übernommen hat: Getreide, domestizierte | |
Rinder, Schafe, Ziegen, die ersten Großstädte, die erste Demokratie und | |
auch die Schrift – samt dem damit verbundenen Wissen. | |
Wie muss man sich das vorstellen? | |
Unser Alphabet wurde ursprünglich von semitischen Zwangsarbeitern auf der | |
Sinaihalbinsel aus ägyptischen Hieroglyphen adaptiert. In Nordsyrien wurden | |
die Zeichen mit Vokalen angereichert. Die Phönizier verbreiteten diese | |
Schrift. Sie wurde dann von den Griechen übernommen, welche sie als | |
phönizische Schrift bezeichneten. Die ersten Spuren von ihr finden sich auf | |
Ischia. Von dort wandert die Schrift weiter zu den Etruskern in der Toskana | |
und gelangte zu den Römern – und dann erst zu uns. Oder nehmen wir das | |
Mittelalter: Da haben wir alles von der arabischen Hochkultur übernommen. | |
Selbst die griechischen Götter sind so aus dem Nahen Osten übernommen | |
worden. | |
Auch Apollo, Athene und Zeus? | |
Apollo war ursprünglich ein anatolischer Gott, der Apalunias hieß, Vater | |
der Löwen. Athene war Anat, die Schwester des semitischen Kriegsgottes | |
Baal. Zeus war der Gott Sius, ein Sonnengott, der schon in mykenischer Zeit | |
aus Anatolien übernommen worden ist. All das, was uns schon der allererste | |
europäische Text erzählt – Hesiods Theogonie –, sind aus Nordsyrien nach | |
Griechenland transportierte Geschichten von der Schöpfung der Welt bis zur | |
Entstehung der Götter. | |
Zwischen Abendland und Morgenland nur einen Gegensatz zu sehen ist also zu | |
schlicht? | |
Ja. Sie vervollständigen einander. Sehen Sie – Ideen sind ein wenig wie | |
Viren. Sie infizieren uns und verändern dadurch sowohl sich wie den Wirt. | |
Die Musen etwa waren ursprünglich gesetzgebende Göttinnen im nordsyrischen | |
Raum, die dann bei uns zu den Schutzpatroninnen der Künstler wurden – in | |
einem nachverfolgbaren Adaptationsprozess. Die Griechen waren damals – | |
ähnlich wie heute – eine völlig arme Nation ohne Staatsstruktur und ohne | |
Bodenschätze. Sie übernahmen von den Hochkulturen, was sie konnten – und | |
entwickelten so erst das griechische Kulturwunder. Nach 400 Jahren | |
Übernahmezeit allerdings. | |
Und die Römer haben wiederum alles von den Griechen – und wir wiederum bis | |
zu unseren Gesetzen alles von den Römern übernommen. Dabei waren diese | |
ersten antiken Griechen nichts als Migranten, die als Schiffstransporteure, | |
Wanderarbeiter und Söldner arbeiteten. Durch ihre kulturellen Übernahmen | |
entstand jenes klassische Griechenland, das wir vor Augen haben – und das | |
wir für die Grundlage Europas halten. Aber das ist zu kurzsichtig: Europa | |
ist die Idee des Kultur- und Handelstransfers rund um das Mittelmeer. | |
Was halten Sie von der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer? | |
Es ist wie in einem Zug, wo es keine Reservierungen geben kann, weil der | |
Zug für alle da ist. Die Leute, die bereits Platz gefunden haben, möchten | |
immer auch rechts und links von sich alles besetzen. Da muss man halt erst | |
insistieren, dass der Sitz frei gemacht wird. Gerne tut das keiner. Noch | |
ungerner aber bittet und bettelt man darum. Aber es gibt keine Reservierung | |
auf ein Stück Erde. Erst die Völkerwanderung hat Europa zu dem gemacht, was | |
es ist. | |
Beschäftigen Sie sich auch mit dem Mittelmeer als Massengrab? | |
Vor Kurzem war ich in der ägyptischen Wüste, dort, wo viele | |
Flüchtlingstrecks durchfahren. Ich fand das Grab eines 17-jährigen Jungen. | |
Er war in Eritrea gestartet, kam in den Sudan und verdurstete dann in der | |
Mitte der Sahara. Vom Lkw gefallen, gestoßen, krank, ich weiß nicht. In | |
einer Plastiktasche daneben war eine Kopie seines Flüchtlingsausweises und | |
eine Telefonnummer in Mannheim. | |
Haben Sie dort angerufen? | |
Die Familie sagte, sie warte auf ihren Neffen. Mit ihnen zu reden – wissen | |
Sie, da wird das Elend schnell konkret. Und mitmenschlich. Und ich | |
bewunderte den Mut dieses Jungen – das ist so, als hätte ich mich zu Fuß | |
bis nach Sibirien aufgemacht. Dazu über eine Wüste und ein Meer hinweg. Das | |
sind keine Wohlstandsflüchtlinge. Die kämpfen um ihr Leben, genauso wie | |
jeder das von uns tun würde. Und was tut diese christliche Nation? Wenig | |
Christliches. Im Islam gehört es zur Pflicht eines Reichen, 10 Prozent | |
seines Reichtums ungebeten an die Armen abzugeben. Dieses „Zadakat“ könnte | |
man auch bei uns einführen – wir können es uns leisten. Oder wir können | |
ihnen Platz einräumen. Den haben wir nämlich. Auch weil er nicht wirklich | |
unserer ist. Sondern im Grunde immer nur geliehen. | |
13 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Joachim Scholl | |
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