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# taz.de -- Unterbringung von Flüchtlingen: Willkommen in Sachsen
> Zuerst hatte niemand in Böhlen etwas gegen Asylbewerber. Doch nun dreht
> sich die Stimmung. Ein Besuch in zwei sächsischen Gemeinden.
Bild: Das ehemalige Hotel im sächsischen Böhlen ist nun ein Flüchtlingsheim
Böhlen/Rötha taz | Das mit dem Fußballplatz empört Gabi Oelker sehr. „Hier
haben schon meine Kinder Fußball gespielt und nun haben sie die Tore
einfach abgebaut“, beschwert sie sich in singendem Sächsisch. Sie zeigt auf
den Rasen, wo niedergetrampelte Stellen von den Kämpfen zeugen, die sich
einst vor beiden Toren abspielten. Daneben steht jetzt ein Schild:
„Fußballspielen verboten. No soccer.“ Jemand hat einen Sticker daneben
geklebt: Kein Mensch ist illegal.
Oelker, eine resolute Frau mittleren Alters mit blonden Strähnen im Haar,
wohnt seit den 1980er Jahren in einem der Wohnblöcke in Böhlen neben der
nun stillgelegten Fußballwiese. Vom Balkon blickt sie auf das ehemalige
Arbeiterwohnheim, das seit der Wende ein Hotel ist. Seit fast 25 Jahren
leitet sie das Apart Hotel Böhlen, dessen beige verglaste Fassade ganz den
Geschmacksvorstellungen der frühen 80er Jahre entspricht. Seit sieben
Monaten ist das Apart Hotel auch eine Flüchtlingsunterkunft. Auf den zwei
oberen Etagen wohnen aktuell 165 Menschen, die meisten davon aus Syrien,
Afghanistan und Albanien.
450.000 Flüchtlinge werden in diesem Jahr in Deutschland erwartet. Für fünf
Prozent von ihnen ist Sachsen zuständig. Weil die Erstaufnahmeeinrichtung
in Chemnitz überfüllt ist, hat der Freistaat weitere Filialen eingerichtet.
Eine davon in Böhlen – eine Kleinstadt südlich von Leipzig mit einer
beeindruckenden Skyline: den Kühltürmen des Kraftwerks.
Vor der Wende arbeiteten im VEB Otto Grotewohl 14.000 Menschen, jetzt sind
es immerhin wieder 8.000 Menschen. Wer jung war, zog nach 1990 weg, suchte
im Westen Arbeit. Ein Fünftel seiner Einwohner hat Böhlen seither verloren.
Einige aber kamen wieder, renovierten ein Haus oder bauten ein neues. Die
Fassaden in Böhlen sind frisch verputzt, die Straßen sind in Schuss. Böhlen
und die umliegenden Gemeinden im Leipziger Land haben sich
gesundgeschrumpft – die Arbeitslosigkeit liegt nicht mehr bei 20, sondern
bei 8 Prozent. Sogar Ausbildungsplätze gibt es hier.
Jetzt aber kommen Flüchtlinge ins Leipziger Umland. Auch sie suchen Arbeit
und Ausbildung, hoffen auf eine bessere Zukunft und Sicherheit. Sie kamen
mit Schiffen über das Mittelmeer und mit Lkws über Landstraßen. In Böhlen
ist die Einwohnerzahl deshalb in den vergangenen Monaten angestiegen, genau
wie im benachbarten Rötha. Und im Herbst soll wenige Kilometer weiter in
Espenhain ebenfalls eine neue Unterkunft eröffnen. Dann leben über 400
Flüchtlinge hier im Umkreis von fünf Kilometern.
## Geschosse in der Nacht
Der grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann
hatte vorgeschlagen, dass die entvölkerten ostdeutschen Länder mehr
Flüchtlinge aufnehmen sollten. In Böhlen und Rötha bewerten die Menschen
die Sache etwas anders.
Seitdem das Apart Hotel zur Erstaufnahmeeinrichtung wurde, berichteten
überregionale Zeitungen bereits zweimal über Böhlen. Im Januar wurde
bekannt, dass ein ehemaliger Politiker der Republikaner Asylbewerber in
seinem Hotel einquartiert. Und vor zwei Wochen schossen Unbekannte nachts
auf die Unterkunft. Eine Schusswaffe schließt das Operative Abwehrzentrum
der sächsischen Polizei aus. Im Ort vermuten sie, dass es eine Zwille war,
geladen mit Stahlkugeln. Wer sie benutzte, werde wohl im Dunkeln bleiben,
glauben manche.
Bundesweit steigt die Zahl der Anschläge auf Asylbewerberheime, Sachsen
liegt hier mit vorn. Das Innenministerium zählte im ersten Halbjahr 42
politisch motivierte Straftaten gegen Heime, 24 Tatverdächtige wurden
ermittelt.
Die Bürgermeisterin von Böhlen heißt Maria Gangloff. Sie packt in ihrem
Büro im Rathaus gerade Wandteller und Fototassen ein. Denn die
Bürgermeisterin, die 14 Jahre für die Linke im Landtag saß, geht im Herbst
in Rente. „Als die ersten Flüchtlinge kamen, gab es noch eine große
Solidarität“, sagt sie. Die Böhlener spendeten Fahrräder, Kleider,
Spielsachen. Die Flüchtlingsfamilien wurden ins Konzerthaus eingeladen. „Da
sind viele gekommen, die Kinder waren auch alle artig“, erinnert sich Maria
Gangloff. Doch schon damals gab es Beschwerden. Warum, moserten einige,
dürfen Flüchtlinge kostenlos ins Konzert, während alle anderen 15 Euro für
ein Karte zahlen müssen. „Das waren zum Teil Leute, denen sonst nie im
Leben eingefallen wäre, ein Konzert der Leipziger Symphoniker zu besuchen“,
meint Gangloff.
Die NPD gründete ein Forum: „Deutsche helfen Deutschen“. Im Januar gründe…
ein Bürgerbündnis die Facebook-Seite „Wir für Böhlen“ und rief zur
Teilnahme an Legida und Pegida-Kundgebungen auf. Die gleichzeitig
gegründete Bürgerinitiative „Böhlen wehrt sich gegen Dummheit und
Rassismus“ hat über 100 Likes mehr.
Mohamed Ibrahim ist einer der Flüchtlinge. Er studierte in Libyen, bis ihm
jemand eine Waffe an den Kopf hielt und ihn aufforderte, aus seinem Auto zu
steigen. „Jeder dort hat eine Waffe“, sagt er. „Du kannst jeden Tag getö…
werden.“
## „So ein Leben möchte ich auch führen“
Irgendwann entschied sich Ibrahim, es sei besser, auf dem Meer zu sterben,
als durch eine Patrone. Sie waren 480 Menschen auf dem Boot. Mit
angezogenen Knien hockten sie 12 Stunden nebeneinander. Als Wasser ins Boot
lief, schrien die Menschen. Ein Vater neben ihm beruhigte seinen Sohn: „Wir
fahren nach Europa. Wenn wir drüben sind, spielen wir Fußball.“ Ein
deutsches Schiff rettete sie, sagt Ibrahim. Seit knapp zwei Wochen lebt er
nun in Böhlen. Die Menschen seien freundlich. Vor allem die Frauen. Die
würden lächeln. Die Menschen hier, sagt er, „haben ein gutes Leben. So ein
Leben möchte ich auch führen.“ Ob er das darf, entscheidet das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge. Bis dahin heißt es warten. „Wir essen und
wir schlafen. Wir dürfen keinen Sport machen, nicht studieren, nicht
arbeiten.“
Im drei Kilometer entfernten Rötha sitzen Moustapha Mezouar und ein Freund
auf den Betonstufen. Seit sechs Monaten lebt er hier in der
Sammelunterkunft. Ebenfalls in einem Hotel. „Die Wände sind dünn“, sagt
Mezouar, „man hört hier jedes Geräusch.“ In dem Vertrag, den der
Hotelbetreiber mit dem Landkreis schloss, ist von 60 bis 90 Personen die
Rede, derzeit sind es nach Schätzung der Caritas 120. Pro Person erhält
Betreiber Martin Steinhart laut Vertrag 13 Euro.
„Gehen Sie, wir geben keine Auskunft“, sagt die Frau an der Rezeption.
Einige Bewohner haben Drogenprobleme. Manche trinken zu viel. Es gibt oft
Stress. Dann kommt die Polizei. „Die Ausländer können sich nicht benehmen�…
sagt eine junge Frau, blondierte Haare, lila Strähne. Sie packt einen
Kinderwagen in den Kofferraum. „Manche schmeißen ihren Müll in unsere
Tonnen, es werden Fahrräder geklaut.“ Früher vergifteten die Dämpfe des
Chemiewerks die Atmosphäre, heute ist es das Misstrauen.
Als die Caritas im Juli ein Kinderfest veranstaltete, hüpften nur
Flüchtlingskinder auf der Hüpfburg. Keine deutsche Familie war erschienen.
„Wir sind gleich geflüchtet“, sagt die Anwohnerin und lacht.
Jan Klement besucht im Auftrag der Caritas die Heime und berät Flüchtlinge
bei Problemen. „Zu Beginn waren die Leute hier den Flüchtlingen
wohlgesinnt“, meint er. Doch die Stimmung habe sich gewandelt. „Das ist
hier kurz vorm Brennpunkt.“
Sandra Münch engagiert sich in der Antirassismusinitiative Bon Courage.
„Wenn ein Flüchtling einen Fehler macht, ist es für die anderen auch
vorbei.“ Sie stünden im Fokus. Im Edeka nebenan wurde geklaut. In einer
Kleinstadt spricht sich so etwas schnell rum, nach wenigen Stunden wissen
alle Bescheid.
„Das ist hier eine ganz schwierige Kiste“, sagt der parteilose
Bürgermeister Ditmar Haym. Er glaubt: „Es liegt am Unvermögen der
Ausländer, sich der deutschen Mentalität anzupassen.“ Doch was zählt zur
deutschen Mentalität? Moustapha sagt: „Die Leute lieben keine Fremden. Sie
lieben nicht einmal sich selbst.“ Nicht alle, widerspricht sein Freund. Es
gebe auch nette Menschen in Rötha.
## Petitionen gegen Lärm
Bei Bürgermeisterin Maria Gangloff kommen häufig Beschwerden an: Zu laute
Telefonate, selbst das Fußballspielen stört die Anwohner. Die Flüchtlinge
würden erst nach Sonnenuntergang anfangen zu kochen und dann beten sie auch
noch. „Was wissen wir denn hier von Ramadan“, sagt Gangloff. Vor der Wende
sei man als Ostdeutsche nie rausgekommen, weltoffen seien vor allem die
jungen Böhlener. „Die haben keine Barrieren mehr in den Köpfen.“
123 Petitionen wegen Lärm erreichten sie. Die Anwohnerin Gabi Oelker regt
das auf: „Ach, von wegen Lärm.“ Ab halb acht sei die Fußballwiese leer
gewesen. Und dass die Leute bei der Hitze abends noch draußen sitzen und
sich unterhalten würden, sei doch normal. Ihre Hotelgäste stört das nicht.
Auf der Wiese neben dem Hotel stehen jetzt vier Stangen. Das sind die neuen
Tore auf dem Spielfeld. Den Rest der Wiese will Oelker noch mähen, dann
können die Bewohner endlich wieder Fußball spielen. „Das kann uns hier
niemand verbieten.“
29 Jul 2015
## AUTOREN
Anna Lehmann
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