| # taz.de -- Flüchtlinge in Europa: Die ungarische Mauer | |
| > Tausende Afghanen, Syrer und Nordafrikaner sind auf der Flucht. | |
| > Spätestens an der serbisch-ungarischen Grenze ist für viele Schluss. | |
| Bild: Viele Flüchtlinge im serbisch-ungarischen Grenzgebiet sind auf Nebenstra… | |
| Horgos/ Subotica taz | An der Grenzstation Horgos geht trotz erhöhten | |
| Sommerverkehrs die Abfertigung zügig voran. Von schärferen Kontrollen ist | |
| nichts zu sehen. Es scheint, dass die mürrischen ungarischen | |
| Grenzpolizisten sogar etwas zuvorkommender sind als sonst. Als wollten sie | |
| demonstrieren, dass nichts Außergewöhnliches vor sich geht. Auf den | |
| Grenzzaun angesprochen, den Ungarn bauen will, winken sie nur ab. Etwa 175 | |
| Kilometer lang und drei Meter hoch soll die „ungarische Mauer“ werden, die | |
| den Flüchtlingsstrom aus Serbien aufhalten soll. Die Regierung in Belgrad | |
| hält sich zurück. Doch viele in Europa sind empört. | |
| Haben die Ungarn mit den Bauarbeiten schon begonnen? Auf diese Frage | |
| reagiert ein älterer serbischer Grenzpolizist verärgert. „Keine Ahnung!“ | |
| Offiziell sei der serbischen Grenzpolizei nichts mitgeteilt worden, sagt | |
| er, doch die Ungarn könnten auf ihrer Seite tun oder lassen, was sie | |
| wollen. Und dass sie wollen, daran besteht spätestens seit Montagnachmittag | |
| dieser Woche kein Zweifel mehr: Da stimmte das ungarische Parlament mit 151 | |
| zu 41 Stimmen für die Errichtung des Zauns, der den Zustrom von | |
| Flüchtlingen begrenzen soll. Mitte Juni war das umstrittene Vorhaben von | |
| Regierungschef Viktor Orbán erstmals öffentlich geworden. | |
| Freilich sei das Schwachsinn, schimpft der serbische Grenzpolizist, eine | |
| Mauer mitten in Europa zu bauen. Früher habe Ungarn Zäune errichtet, damit | |
| die eigene Bevölkerung nicht nach Jugoslawien abhaut. Und jetzt? Jetzt | |
| wollen sie sich abkapseln. | |
| Die Ruhe am regulären Grenzübergang trügt. Der endlose Flüchtlingsstrom aus | |
| Nordafrika und aus dem Nahen Osten sucht seine eigenen Schlupfwege in | |
| Richtung Westen. In den Abendstunden laufen auf den Nebenstraßen entlang | |
| der Grenze zu Ungarn kleine Menschengruppen mit Handgepäck. Oft sind es | |
| Familien mit Kindern. | |
| ## Verlassene Ziegelfabrik | |
| Die Stadt Subotica liegt nur zehn Kilometer von Ungarn entfernt. In einer | |
| verlassenen Ziegelfabrik am Stadtrand haben mehrere Hundert Flüchtlinge | |
| Zuflucht gefunden, es sind vor allem Afghanen. Man sieht Familien mit | |
| Kindern, andere sind allein unterwegs. Hilfe gibt es nicht, der serbische | |
| Staat ist überfordert mit der Flüchtlingswelle. Es gibt nicht einmal | |
| Trinkwasser. Manche sitzen seit dem Winter hier fest. Sie haben die Kälte | |
| überlebt, nun kommt die Hitze. | |
| Die meisten meiden Gespräche mit Fremden, doch ein junger Afghane erzählt | |
| in brüchigem Englisch, dass er schon zweimal vergeblich versucht hat, die | |
| ungarische Grenze zu überqueren. Alle in der Ziegelfabrik warten darauf | |
| weiterzukommen. Sie suchen Kontakt zu Menschenschmugglern. Doch viele haben | |
| bis hierher bereits ihr ganzes Geld ausgegeben. | |
| Die Geschichte hört man hier immer wieder: Schmugglerbanden versprechen | |
| verzweifelten Menschen, sie nach Westeuropa zu bringen, setzen sie dann | |
| aber irgendwo aus. Dann versuchen sie es allein, wie der junge Afghane. | |
| ## Geschäft für Schmuggler | |
| Auch auf der ungarischen Seite warten Menschenschmuggler, oft sind es | |
| internationale Banden, die kooperieren, von Ankara bis Budapest. Neulich | |
| hat die Polizei in Ungarn einen Lkw mit 106 Flüchtlingen erwischt, die fast | |
| erstickten wären. Angeblich soll jeder von ihnen 1.500 Euro bezahlt haben, | |
| um nach Österreich zu kommen. Für die Schmuggler ist es schnell verdientes | |
| Geld, selbst wenn man hier und da Polizisten bestechen muss. | |
| Es sei derzeit ein besseres Geschäft als Drogenschmuggel, erfährt man von | |
| Kriminalbeamten. Zum einen seien die Strafen für Menschenschmuggel viel | |
| geringer als für Drogenhandel, zum anderen könne man von den Flüchtlingen | |
| mehrmals Geld kassieren. | |
| In Serbien sind offiziell etwa 30.000 Asylsuchende aus dem Nahen Osten und | |
| Afrika registriert, doch man geht tatsächlich von mindestens 60.000 aus. | |
| Die meisten wollen in die Nähe der ungarischen Grenze, um von dort ihr | |
| Glück zu versuchen. Täglich werden es mehr. Wer Asyl in Serbien beantragt, | |
| bekommt automatisch entsprechende Dokumente. Vom UN-Flüchtlingshilfswerk | |
| UNHCR erfährt man hinter vorgehaltener Hand, dass sich die „ungarische | |
| Mauer“ schon bis in Türkei herumgesprochen hat und daher eine Welle von | |
| weiteren 100.000 Flüchtlingen zu erwarten ist. | |
| ## Zaun belebt das Geschäft | |
| Schmugglerbanden sollen die Nachricht von der Mauer verbreitet haben. Sie | |
| fordern mehr Geld für die „Verfrachtung“ nach Westeuropa – „bevor es zu | |
| spät wird“. Ein Grenzzaun, den es noch gar nicht gibt, belebt das Geschäft. | |
| Der Flüchtlingsstrom, der sich über Serbien in Richtung Ungarn bewegt, | |
| kommt hauptsächlich über Griechenland und Mazedonien. Anstatt sie wie | |
| bisher aufzuhalten, hält Mazedonien die Flüchtlinge nur noch 72 Stunden | |
| lang fest, versorgt sie mit Nahrungsmitteln und Wasser und lässt sie nach | |
| Serbien weiterziehen. Es sind zwischen 200 und 1.000 täglich. In | |
| Griechenland sollen sich mindestens 500.000 Flüchtlinge befinden. | |
| Mazedonische Behörden sprechen von 25.000 Flüchtlingen, die an der | |
| mazedonisch-griechischen Grenze festgehalten werden und nach Griechenland | |
| zurückgewiesen werden sollen. Doch die meisten dieser Menschen versuchen | |
| über Serbien nach Westeuropa zu kommen. Bulgarien meiden die Flüchtlinge, | |
| so heißt es, weil die Behörden dort besonders brutal mit ihnen umgehen. | |
| ## Wechselnde Routen | |
| In den letzten Monaten sind auch Parks in Bahnhofsnähe in Belgrad voll von | |
| Menschen, die unter freiem Himmel schlafen. Von dort zieht es viele nach | |
| Kanjiza, einem Ort ebenfalls unmittelbar an der Grenze zu Ungarn. Warum | |
| gerade dorthin, weiß niemand. Die Schmugglerbanden wechseln eben ihre | |
| Routen. | |
| Nach Kanjiza kommen hauptsächlich Syrier. Auch hier schlafen sie in | |
| provisorischen Camps. Dort landen aber auch viele, die in Ungarn | |
| festgenommen und nach Serbien zurückgewiesen werden. Eine Gruppe junger | |
| syrischer Männer sitzt auf einer Bank. Omar heißt einer von ihnen. Er | |
| spricht Englisch und sagt: „Glauben die wirklich, uns aufhalten zu können?! | |
| Sie können uns hundertmal zurückweisen, wir werden es so oft versuchen, bis | |
| wir es schaffen!“ | |
| Omar ist verzweifelt und wütend. Er wurde gerade mit vier Freunden aus | |
| Ungarn nach Serbien abgeschoben. „Man erniedrigt uns überall, man behandelt | |
| uns wie Hunde“, erzählt er. Nein, nicht wie Hunde, verbessert er sich, denn | |
| in Europe würden Tiere geschützt. Flüchtlinge hingegen behandle man wie | |
| Insekten, die jeder zertreten könne. „Ihr wollt uns weghaben, doch wir | |
| können nirgendwohin zurück. Unser Land existiert nicht mehr“, sagt Omar. Er | |
| erzählt von „unwürdigen“ Zuständen in ungarischen Flüchtlingscamps. | |
| ## Entrüstet und verzweifelt | |
| Wenn man seine Entrüstung und Verzweiflung sieht, muss man an die jungen | |
| Männer denken, die von extremistischen islamischen Gruppen angeheuert | |
| werden. Im Gegensatz zu den Afghanen in Subotica trifft man hier die | |
| syrische Mittelschicht. Es sind gebildete Menschen, oft mit | |
| Universitätsabschluss. Allein am vergangenen Wochenende sollen rund 1.000 | |
| Flüchtlinge nach Kanjiza gekommen sein. | |
| „Serbien befindet sich auf der sogenannten Westbalkanroute, über die | |
| Flüchtlinge hauptsächlich aus der Türkei, über Griechenland, Mazedonien und | |
| Ungarn in den Westen der EU kommen wollen“, sagt Hans Friedrich Schodder. | |
| Er ist der Chef des UNHCR-Büros in Serbien. Die Anzahl der Flüchtlinge habe | |
| sich deutlich erhöht. Allein im Mai wurden in Serbien über 9.000 | |
| Asylanträge gestellt, doch mindestens doppelt so viele wollten gar nicht | |
| registriert werden. Das sei der Trend in der ganzen Region, sagt Schodder. | |
| ## Neue Grenzstationen | |
| Viele in Serbien werfen der ungarischen Regierung vor, die Flüchtlingsfrage | |
| für innenpolitische Zwecke zu missbrauchen. „Stimmen sie mit der | |
| ungarischen Regierung überein, dass statt der Immigranten ungarische | |
| Familien und Kinder unterstützt werden sollen?“, lautete eine Umfrage. In | |
| Ungarn warnen Plakate, dass Asylsuchende Ungarn Jobs wegnähmen. | |
| Auf die bilateralen Beziehungen wirkt sich der Grenzzaun allerdings nicht | |
| aus. Vor wenigen Tagen trafen sich die beiden Regierungen auf einer | |
| gemeinsamen Sitzung. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nannte den Bau | |
| des Grenzzauns eine „Notmaßnahme“, die „große Volksmassen“ daran hind… | |
| soll, sein Land zu überschwemmen. Denn wenn sie einmal in Ungarn | |
| registriert seien, würden sie von anderen EU-Staaten immer wieder dorthin | |
| abgeschoben, klagte Orbán. Und er versicherte, dass der Zaun nicht gegen | |
| das serbische Volk gerichtet sei. Im Gegenteil, man wolle neue | |
| Grenzstationen eröffnen, um den Grenzverkehr zu erleichtern. | |
| Viktor Orbán bat seinen serbischen Amtskollegen Aleksandar Vucic um | |
| Verständnis. Und der gewährte es ihm. Immerhin wollen beide Länder | |
| gemeinsam eine moderne Eisenbahn zwischen Belgrad und Budapest bauen – mit | |
| chinesischem Geld. Und wegen eines einfachen Grenzzauns wird man doch nicht | |
| die gemeinsamen Geschäfte infrage stellen. | |
| 8 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andrej Ivanji | |
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| Otto Schily | |
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