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# taz.de -- Ungarischer Grenzzaun: Ab und zu geht das Tor auf
> Ungarn versucht, Flüchtlingen den Weg nach Europa zu versperren. Wer aber
> durchkommt, wird mit einem Bus weiterbefördert.
Bild: Zaun und Stacheldraht: die Gastfreundschaft des Viktor Orban.
Mórahalom taz | Schnurgerade steht er da und verliert sich am Horizont der
ungarischen Puszta. Der Zaun an der Grenze zu Serbien ist auf den ersten
Blick unspektakulär. Er besteht aus einfachem Maschendraht und wird auf
etwa drei Meter Höhe von einer Rolle Nato-Draht gekrönt.
Unüberwindbar wirkt dieser „Eiserne Vorhang“ nicht. Ein Bolzenschneider
würde reichen. Ein Iraker erzählt, fünf Mann hätten gehoben, dann sei er
unten durchgeschlüpft. Wenige Meter dahinter beginnt ein dünnes Auwäldchen.
Das Schild „Staatsgrenze“ auf Deutsch, Ungarisch und Englisch blickt auf
die ungarische Seite und ist wohl weniger für Flüchtlinge als für die
Presse angebracht worden. An einer Stelle machen sechs übereinander
verankerte Rollen Nato-Draht anschaulich, wie der Grenzwall aussehen
könnte, wenn er einmal fertig ist.
Die Polizeiunteroffiziere József Kardos und Lénárt Lakatos, an ihren
dunkelblauen Uniformen als Mitglieder einer Spezialeinheit zu erkennen,
versehen Dienst. Am Morgen seien Flüchtlinge in der gewohnten Zahl
gekommen, erzählt Kardos, der ein Sternchen mehr am Revers trägt als der
Kollege. Sie kämen in Gruppen – rund um die Uhr.
Wenn sich eine Gruppe auf der anderen Seite gesammelt hat, öffnet Kardos
ein Türchen im Zaun und lässt die Leute durch. Sie werden dann auf einen
Laster geladen und in einen Hangar in der Nähe der Grenzgemeinde Mórahalom
transportiert. Dort werden ihnen die Fingerabdrücke abgenommen, Name und
Herkunft registriert.
Warum baut man einen 175 Kilometer langen Zaun, wenn man die Flüchtlinge
dann doch hereinlässt? „Wir sind dazu verpflichtet“, sagt der Polizist an
der Grenze, „denn sie sind ja schon in Ungarn. Der Zaun steht nämlich zehn
Meter innerhalb des Staatsterritoriums. Er soll erst durch einen zweiten
Grenzwall verstärkt werden.
## Weil es eine Frist gibt
Es ist nämlich eine Deadline einzuhalten. Bis Ende August, so hatte die
Regierung versprochen, soll der Eiserne Vorhang hochgezogen werden. Das
dürfte gelingen. Neben Soldaten sind auch Leute vom Közmunkás, dem
kommunalen Arbeitsprogramm für Sozialhilfeempfänger, abkommandiert worden.
Auch Strafgefangene müssen mit anpacken.
Der Journalist Gergely Nyilas vom ungarischen Online-Magazin index.hu weiß,
wie es im Erstaufnahmelager zugeht. Er hat sich – ausgerüstet mit
Baseballkappe und Rucksack – in Serbien unter die Flüchtlinge gemischt und
als kirgisischer Asylbewerber Georgis Kulakov registrieren lassen. Man
müsse in schmutzigen Zelten übernachten. „Hey, Ghana man“, habe ein
Polizist einem Afrikaner, der sich über das Essen und die fehlenden Duschen
beklagt habe, geantwortet, „Hungary, no Hilton Hotel! Hungary, food, water,
love.“
Insgesamt hätten sich die Polizisten aber menschlich verhalten. „Hungary,
no money, Orbán Viktor“, habe einer entschuldigend gesagt. Aus Lagern, wo
private Sicherheitsleute das Sagen haben, hört man hingegen hässliche
Geschichten von Aggressionen gegen die Schutzsuchenden.
Die Grenze verläuft etwa fünf Kilometer südlich von Mórahalom, einer
6.000-Einwohner-Gemeinde am Rande der Puszta. Bescheidene Bekanntheit
verdankte sie bisher einzig ihrem Thermalbad. Die schmucken Häuser und
sauberen Straßen geben keinerlei Hinweis darauf, dass sich wenige Kilometer
entfernt menschliche Dramen abspielen.
Im Ort bekomme man von den Flüchtlingen kaum etwas mit, sagt Piroska
Horváth, die einen Imbiss betreibt. Einmal wollten zwei bei ihr ein
Fladenbrot kaufen und mit Euros bezahlen: „Ich habe kein Geld von ihnen
genommen“. Auch von anderen Bewohnern der Ortschaft ist kein böses Wort
über die Flüchtlinge zu vernehmen. Keiner habe sie je angebettelt, sagt
eine Frau, die im Supermarkt einkauft. Auch von Einbrüchen oder anderen
Straftaten habe sie nie gehört.
Mórahalom ist bestenfalls eine Durchgangsstation. Die Polizei greift
Ausländer ohne gültige Papiere, die sich bis hierher durchgeschlagen haben,
auf, bringt sie in den Hangar zur Registrierung und steckt sie dann in
einen Bus zum Bahnhof von Szeged. Die mit ihren 165.000 Einwohnern
viertgrößte Stadt Ungarns liegt 20 Kilometer östlich von Mórahalom.
Vor dem Bahnhof steht eine Holzhütte, die sonst bei der Kirmes zum Verkauf
von Lebkuchenherzen oder heißen Würsten dient. Den Stand betreibt die
Freiwilligenorganisation MigSzol (Solidarität mit Migranten). „You are
here: Szeged“, klärt ein handgeschriebenes Schild die Neuankömmlinge auf.
Flüchtlinge erhalten hier Wasser, eine Kleinigkeit zu essen und
Toilettenartikel.
„Wir haben die Gruppe im Juni gegründet, weil die Behörden untätig waren�…
erzählt der 35-jährige IT-Experte Balázs Szalai, der sein glattes schwarzes
Haar zu einem Rossschweif zusammengebunden hat. Der Bahnhofsvorsteher habe
den Wartesaal geschlossen und auch Frauen und Kinder vertrieben. „Da
mussten wir etwas unternehmen.“ Über eine Facebook-Gruppe wurden binnen
kürzester Zeit zwischen 50 und hundert Unterstützerinnen und Unterstützer
mobilisiert.
## Freiwillige zur Nachtwache
Die Freiwilligen konnten sich mit der Bahngesellschaft MAV einigen, dass
sie die Flüchtlinge vor dem Stationsgebäude betreuen dürfen. Die
Stadtverwaltung stellt Trinkwasser, Strom, drei Dixiklos und den
Kirmesstand. Alles andere wird durch Spenden oder Sachleistungen
ermöglicht. Wichtig ist auch die Nachtwache. Neonazis haben schon versucht,
die Schutzsuchenden vor dem Bahnhof aufzumischen.
Ein Bus bleibt an der Haltestelle stehen und entlässt mehrere Dutzend
Flüchtlinge, fast ausschließlich junge Männer. Eine einzige Frau ist dabei.
Strahlend verlassen sie den Bus, halten den Daumen hoch oder zeigen das
Victory-Zeichen. Sie bekommen eine Flasche Wasser gereicht und können sich
um ein Lunchpaket anstellen. Der 21-jährige Sayed, Student der
Computerwissenschaften aus der ostafghanischen Provinz Laghma, hat eine
lange Reise über den Iran, die Türkei, Bulgarien und Serbien hinter sich.
Jetzt will er – Inschallah! – nach Belgien. Dort sitzt die Nato. Die
Taliban seien hinter ihm her, weil er für die Nato-Truppen gearbeitet habe.
Ali Azar aus Pakistans Hauptstadt Islamabad gibt an, er sei als Schiit
verfolgt worden. Er will sich in Deutschland als Chauffeur, am besten
Taxifahrer, verdingen. Mustafa aus der syrischen Bürgerkriegsstadt Homs
möchte nach Schweden.
„Wir erklären ihnen, was legal und was illegal ist“, sagt Balázs Szalai.
Legal können die registrierten Flüchtlinge die Bahn zu den drei offiziellen
Lagern benutzen: Bicske, Vámosszabadi und Cegléd. Wie elend es dort zugeht,
hat sich schon herumgesprochen. Aber alle Wege führen über Budapest. Als
der Zug in die Hauptstadt angekündigt wird, ist der Bahnhofsplatz plötzlich
leergefegt.
## „Vom Staat kommt keine Hilfe“
Endstation Budapest: Sarvar aus Pakistans Megastadt Lahore hat seine
Illusionen von der blühenden Zukunft in Europa verloren. Seit zwei Wochen
lagert der 28-Jährige mit geschätzten 600 Leidensgenossen in der
Unterführung vor dem Budapester Ostbahnhof. „Sie sind alle naiv und
glauben, alle Wege stehen ihnen offen“, sagt er. Auch er will nach
Deutschland. Warum? „I like, it’s good!“, erklärt er in rudimentärem
Englisch. Aber: „Kein Pass, also keine Weiterreise.“ Wenn sich nicht die
Freiwilligen von Migration Aid um sie kümmerten, müssten sie verhungern.
Migration Aid wurde vor vier Monaten über eine Facebook-Gruppe gegründet.
Private Spender ermöglichen eine primitive Grundversorgung. „Vom Staat
kommt keine Hilfe“, klagt Baba Moise, ein tätowierter Koloss, der als
Türsteher vor einer Disco gute Figur machen würde. Aber seine Stimme ist
sanft, wie sein Auftreten. Er und rund 6.000 Helfer beweisen, dass nicht
alle Ungarn fremdenfeindlich sind.
Sie haben aber gelernt, wie ein Geheimbund vorzugehen. Denn wenn über die
sozialen Medien eine Suppenspeisung angekündigt wurde, haben ihnen
Rechtsextreme wiederholt das Gesundheitsamt auf den Hals gehetzt, das die
Einhaltung der Hygienevorschriften überprüfen wollte. Jetzt tauschen die
Helfer Informationen nur mehr mündlich im kleinen Kreis aus.
## Problem weitergereicht
Dass die Regierung nicht hilft, scheint System zu haben. Keiner legt den
Flüchtlingen Hindernisse in den Weg, wenn sie Ungarn verlassen wollen. Das
Problem wird an Österreich weitergereicht. Täglich machen sich Hunderte auf
den Weg. Die 93 Asylsuchenden, die vergangene Woche am Wiener Westbahnhof
einem völlig überfüllten Railjet aus Budapest entstiegen, schafften es in
die Nachrichten.
Über Flüchtlinge, die in vollgestopften Lkw über die Grenze transportiert
werden, erfährt man nur, wenn die Fahrzeuge einen Unfall haben, wie zuletzt
am Montag in Niederösterreich. Die Schlepper machen sich meistens aus dem
Staub, bevor die Polizei kommt. Von den Flüchtlingen geben fast alle
dasselbe Ziel an: Germany.
26 Aug 2015
## AUTOREN
Ralf Leonhard
Tibor RÁCZ
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