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# taz.de -- Flüchtlinge im Budapester Ostbahnhof: Warten auf den Zug nach West…
> Auf den Budapester Bahnhöfen leben Flüchtlinge. Während die Regierung
> Stimmung gegen sie macht, werden sie von den Ungarn meist ignoriert.
Bild: Wartesaal: die Unterführung zum Budapester Ostbahnhof.
Budapest taz | „Meiden Sie die Fußgängerunterführung am Budapester
Keleti-Bahnhof“, warnt man mich. Genau dort aber landen mein Bekannter und
ich, als wir den Eingang zur Metro suchen. Der Anblick ist erschreckend,
unerträglich der Geruch nach menschlichen Ausdünstungen. Sind es
Roma-Familien, ungarische Obdachlose? Wäsche hängt auf den Geländern. Es
ist, als laufe man durchs Wohnzimmer dieser Leute. Es sind viele, die
Unterführung ist voll. „Weiter, nur weg“, denke ich.
Wir stehen wieder auf der Straße vor dem verschnörkelten alten Ostbahnhof
Keleti pályaudvar. Junge Pakistaner stehen herum, manche unterhalten sich,
viele schweigen. Mein Begleiter wundert sich: „So viele Stricher hier.“ Er
fragt einen von ihnen nach dem Weg, doch weder kennt sich der junge Mann
aus noch spricht er Englisch.
Endlich gelangen wir ans Ufer der Donau und zur Freiheitsbrücke – sie ist
grün mit vielen Laternen. Junge Leute sitzen auf der stählernen
Konstruktion und trinken Alkohol – die Ungarn aus Weingläsern, die
Touristen aus Bierbüchsen. Mir aber gehen die Bilder vom Bahnhof Keleti
nicht aus dem Kopf.
Um mich an den Klang der ungarischen Sprache zu gewöhnen, schalte ich im
Hotel den Fernseher an. Dort laufen Nachrichten. Zufällig berichten sie vom
Keleti-Bahnhof, von Immigranten und Illegalen. Es geht um ein
Toilettenproblem. So viel verstehe ich. Ich werde nervös, will mehr wissen.
## Stimmung gegen die Flüchtlinge
In einem Souvenirladen komme ich mit der Händlerin ins Gespräch. Wer sind
die Menschen auf dem Keleti-Bahnhof, frage ich. Sie sagt, es seien
Flüchtlinge. Auch auf dem Westbahnhof lebten sie. Es sei schlimm. Sie hasse
die Regierung von Victor Orbán dafür, dass sie Stimmung gegen die
Flüchtlinge macht. Aber Ungarn sei ein kleines Land und ein armes, es könne
das Problem der Flüchtlinge nicht lösen.
Im Fernsehen sehe ich eine junge Frau sprechen, auf deren Bauchbinde steht:
Migration Aid. Da passiert also doch etwas. Ich will mehr wissen. Das Café,
in dem man Bücher tauschen kann, denke ich, da weiß bestimmt jemand mehr.
Vielleicht der junge Kellner mit den Rastahaaren? Er erzählt dann, dass die
Flüchtlinge seit Anfang des Sommers in der Fußgängerunterführung des
Budapester Bahnhofs festsitzen. Sie warten auf eine Chance, mit dem Zug
nach Österreich oder Deutschland zu kommen.
Es gebe viele Probleme zwischen den Ungarn und den Flüchtlingen dort.
Schlägereien und so. Von Migration Aid hat der junge Mann noch nie gehört.
Er wisse auch nichts Genaues über die Flüchtlinge, wolle sich nicht damit
befassen. Ungarn sei ein kleines und armes Land und könne so viele Leute
gar nicht aufnehmen, sagt auch er. Warum ich überhaupt auf den Bahnhof
gegangen sei, er selbst sei seit Monaten nicht dort gewesen. Es mache ihn
zu traurig.
Bevor mein Zug am nächsten Morgen abfährt, gehe ich noch einmal zur
Unterführung. Viele Männer, aber auch Familien mit Kleinkindern liegen oder
sitzen dicht nebeneinander. Manche haben Zelte, andere nicht einmal eine
Matte. Einige Männer stehen in einem Kreis und besprechen etwas. Zwei
Frauen laufen Arm in Arm die Unterführung entlang, als würden sie einen
Sonntagsspaziergang machen. Ein anderer Mann läuft mit seinem vierjährigen
Sohn und versucht, das quirlige Kind im Zaum zu halten. Vier Mädchen machen
sich einen Spaß daraus, einander über den glatten Boden der Unterführung zu
schleifen. Die Älteste von ihnen begleitet das ausgelassene Spiel mit
Kommentaren auf Persisch oder Kurdisch.
Ich will mit einem der Flüchtlinge sprechen. Doch was will ich ihm sagen?
In welcher Sprache? Ich kann weder Kurdisch noch Persisch. Es ist ohnehin
nicht mehr viel Zeit, mein Zug fährt gleich ab. Ich beschließe aber, noch
jemandem mein Tagesticket für die öffentlichen Verkehrsmittel zu
überlassen. Nur wem?
Dem jungen Mann, der ziellos auf dem Bahnhof herumläuft? Trockenes Gras
hängt an seinem Rücken, er muss draußen geschlafen haben, denke ich. In der
Hand hat er eine weiße Plastiktüte. Er scheint allein in Budapest zu sein.
Als ich ihn auf Englisch anspreche, schaut er weg. Vielleicht hat er nicht
verstanden, vielleicht hat er Angst, denke ich und versuche es noch einmal
auf Arabisch: „Arabi?“, Bist du Araber?“, frage ich. Er schaut mich an und
antwortet: „No, Afghanistan.“ – Es reicht, um Vertrauen zu fassen, jetzt
hört er zu und lässt sich erklären, dass ich ihm nur mein Ticket überlassen
will. Er könne es für alle öffentlichen Verkehrsmittel benutzen – keine
Selbstverständlichkeit in Budapest, denn für die Metro gibt es ein Ticket,
für den Bus ein anders und bei jedem Umsteigen muss ein neuer Fahrschein
gelöst werden. Das Touristenticket aber gilt für drei Tage und für alle
öffentlichen Verkehrsmittel.
„Today? Für den ganzen Tag?“, fragt er. Als er „Ja“ hört, hebt er den
Daumen und nickt. Endlich hat er verstanden, denke ich, gehe zu meinem Zug
und muss plötzlich weinen.
Als der Zug die deutsche Grenze überquert hat, funktioniert mein Internet
wieder. Dort lese ich, dass Migration Aid Hungary ein Zusammenschluss von
Freiwilligen ist. Die Solidaritätsgruppe hat im Sommer angefangen, Spenden
für die Flüchtlinge zu sammeln. Täglich kommen Freiwillige zum Bahnhof und
verteilen Kleidung, Essen oder machen einfach nur Mut. Wenn Flüchtlinge
Ungarn betreten und sich als Asylsuchende melden, werden ihnen
Fingerabdrücke abgenommen und ihnen wird ein bestimmtes Flüchtlingscamp
zugewiesen. Dieses müssen sie innerhalb von 48 Stunden erreichen, ansonsten
werden sie inhaftiert.
Die ganze Fahrt über gibt es keine Passkontrollen. Es müsste eigentlich
leicht sein, mit dem Zug gen Westen zu fahren, denke ich. In Dresden
steigen zwei Polizisten ein, kontrollieren uns aber nicht. Ich höre, wie
sie etwas von „Ausländern“ sagen, und bekomme ein beklemmendes Gefühl. Wer
ist gemeint? Die anderen? Ich?
30 Aug 2015
## AUTOREN
Leyla Dere
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Flüchtlinge
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