# taz.de -- Nobelpreisträger Mo Yan und die Politik: Erlaubt ist, was gemäßi… | |
> Missstände anzusprechen, ist in China zulässig. Zu weit darf die Kritik | |
> nicht gehen, wie der Literaturnobelpreisträger Mo Yan und andere | |
> Literaten zeigen. | |
Bild: Mo Yan: Literaturnobelpreisträger 2012. | |
BERLIN taz | Obwohl Teilnehmer von Demonstrationen in China Arbeitslager, | |
Folter, langjährige Haft oder gar die Einweisung in die Psychiatrie | |
riskieren, gehören politische Proteste im autoritär regierten China zum | |
Alltag. Autoren, die Proteste in ihren Werken thematisieren, riskieren, | |
dass ihre Bücher nicht veröffentlicht werden dürfen. | |
Erheben Schriftsteller weitergehende politische Forderungen, riskieren sie | |
selbst Verfolgung. Abschreckendstes Beispiel ist der seit Dezember 2008 | |
inhaftierte Vorsitzende des chinesischen PEN-Clubs unabhängiger | |
Schriftsteller, Liu Xiabao. Er wurde 2010 mit dem Friedensnobelpreis | |
ausgezeichnet und wird seitdem vom Regime verschwiegen, seine Frau steht | |
unter Hausarrest. | |
Was in Chinas Literatur heute zum Thema politischer Protest möglich ist und | |
was nicht, verdeutlichen die beiden zur Frankfurter Buchmesse 2009 | |
(wieder-)veröffentlichten Romane „Die Knoblauchrevolte“ von Mo Yan | |
(Unionsverlag) und „Peking Koma“ von Ma Jian (Rowohlt). | |
Der parallele, fast schon absurde Roman „Peking Koma“ ist nicht nur wegen | |
seines Umfangs von 928 Seiten das große Werk über das Tiananmen-Massaker. | |
Der Roman des 56-jährigen Autors handelt vom Aufbruch der Jugend 1989 und | |
der blutigen Niederschlagung ihres Protests. Die Schilderung der | |
Studentenbewegung wird mit dem mehr als zehnjährigen Koma eines am 4. Juni | |
1989 angeschossenen Studenten kontrastiert, der Chinas Entwicklung seitdem | |
im Koma und als eine Art Koma erlebt. | |
Der Autor machte in China schon früh negative Erfahrungen mit der Zensur, | |
weshalb er 1983 zu einer dreijährigen Reise durch das Land aufbrach. In | |
„Red Dust“ schildert er die Erfahrungen dieser Art von innerem Exil. 1987 | |
zog er in das damals noch britische Hongkong. 1989 beteiligte er sich | |
selbst an den Protesten in Peking, über Deutschland ging er später ins Exil | |
nach London. Dort erschien sein Buch zuerst 2008 auf Englisch. | |
## Dunkle Kapitel der chinesischen Geschichte | |
Ma Jians „Allround Kritik“, wie der chinesischstämmige Kölner Journalist | |
und Autor Shi Ming es nennt, thematisiert nicht nur das große Tabu des | |
Tiananmen-Massakers, das in der offiziellen Sprachregelung die | |
Niederschlagung eines konterrevolutionären Aufstands war. Ma behandelt auch | |
die Rechtsabweichler-Kampagne der Fünfzigerjahre, die verbrecherische | |
Kulturrevolution, den Handel mit Organen Hingerichteter, die Einweisung | |
politischer Aktivisten in Psychiatrien, Zwangsräumungen im Zuge der | |
Abrisspolitik für Olympiabauten oder die Unterdrückung der | |
Falun-Gong-Sekte. | |
Ma lässt kein Tabu aus, was dem eine tragische Liebesgeschichte | |
enthaltenden Werk jedoch nicht unbedingt gut tut, sondern überfrachtet. | |
Immerhin idealisiert er die Studenten nicht, sondern behandelt auch ihre | |
politische Unreife, die internen Machtkämpfe und persönlichen Eitelkeiten, | |
mithin die zur Korrumpierung reichenden Schwächen. | |
Wie „Peking Koma“ spart auch der jetzt mit dem Literaturnobelpreis | |
ausgezeichnete Mo Yan in seinem Roman „Die Knoblauchrevolte“ nicht an einer | |
vulgären Kraftsprache. Aber Mos Roman ist keine Generalkritik und durfte | |
daher auch in China erscheinen. | |
Mo Yan, was so viel wie „Der Sprachlose“ heißt und das Pseudonym des | |
53-jährigen Guan Moye ist, beschreibt, eingebettet in eine tragische | |
Liebesgeschichte, den spontanen Aufstand von Knoblauchbauern gegen die | |
Willkür lokaler Kader. Der mit der Verfilmung seines Buches „Das Rote | |
Kornfeld“ zu Weltruhm gelangte Mo Yan gilt als Vorzeigeautor und gehörte | |
zur offiziellen chinesischen Delegation, die im September an dem Symposium | |
der Buchmesse teilnahm, bei dem es zum Eklat kam. | |
## Allseits präsenter Knoblauchgestank | |
Mo Yan stammt aus bäuerlichen Verhältnissen, das harte Leben auf dem Land | |
ist Hauptthema seiner Werke. „Die Knoblauchrevolte“ erschien in China | |
bereits 1988, einer damals politisch liberalen Phase. Der Roman selbst ist | |
finster, das Leben der Bauern deprimierend, die Sprache derb und voller | |
Fäkalausdrücke. Beim Lesen ist der beschriebene allseits präsente | |
Knoblauchgestank förmlich zu riechen. | |
Die geschilderte Bauernrevolte ist ein spontaner Aufstand gegen empfundenes | |
Unrecht. Denn den Bauern wird plötzlich kein Knoblauch mehr abgenommen. Sie | |
sind verzweifelt. Ihr Aufstand, der keine weitergehenden politischen | |
Forderungen hat, wird hart geahndet, aber mit einem gewissen Verständnis | |
beschrieben. | |
„Mo Yan hat früh ein Gespür dafür entwickelt, aus der Systemperspektive | |
Kritik an der Bürokratie zu üben“, sagt Shi Ming. „Autoren wie Mo Yan | |
sollen ja durchaus Probleme aufdecken, aber eben im Sinne der Verbesserung | |
des Systems.“ Die örtlichen Kader haben das Wohl der Bauern aus den Augen | |
verloren. Ein möglicher Fehler des Systems wird nicht thematisiert. | |
Mo Yan beschreibe die „Finsternis der Massen“, aber nicht so sehr „die | |
Finsternis der Herrschenden“. Wer das Buch als Geschichte aus der | |
Vergangenheit liest, spürt förmlich den Fortschritt seitdem. Wer es | |
hingegen als durchaus (noch) real existierende Gegenwart begreift, könnte | |
auch die KP als Teil der Finsternis erahnen. | |
## Preisgekrönte Feministin mit Parteibuch | |
Deutliche, aber nicht grundsätzliche politische Kritik an einzelnen | |
Missständen – hier: der unmenschlichen Kommerzialisierung und Korrumpierung | |
des Gesundheitswesen – findet sich auch in „Abschied von der Mutter“ von | |
Zhang Jie (Unionsverlag), eine in China vielfach preisgekrönte | |
feministische Autorin mit Parteibuch der KP. In dem Roman, dessen Original | |
bereits 1994 erschien, geht es eigentlich um das innige Verhältnis der | |
Autorin zu ihrer Mutter und deren unbewältigten Tod. | |
Trotzdem enthält auch Zhangs Buch sanfte politische Kritik, die sich aus | |
Vergleichen der in der Welt herumgekommenen Autorin mit Erfahrungen aus | |
westlichen Ländern ergibt. Bei der Beschreibung des letztlich vergeblichen | |
Versuchs, das Leben ihrer kranken Mutter zu retten, geht sie zwar nicht so | |
gnadenlos mit dem Gesundheitswesen zu Gericht wie Ma Jian bei der | |
Beschreibung des Koma-Patienten. | |
Doch wie selbstverständlich schildert Zhang, dass es eine bestmögliche | |
Behandlung im heutigen China nur für Privilegierte gibt und jene, die | |
politische Beziehungen haben. Solch sanfte Kritik, die die letztlich | |
Verantwortlichen nicht nennt, wohl auch deshalb geduldet ist, findet sich | |
auch in Alais „Ferne Quellen“ (Unionsverlag). | |
## Intrigante Lamas | |
Alai ist Chinas tibetischer Vorzeigeautor, der in seinem 1998 in China | |
erschienenen Buch „Roter Opium“ (so der Titel der deutschen Ausgabe von | |
2004) die Leibeigenschaft in Tibet vor dem Einmarsch der chinesischen | |
Volksbefreiungsarmee und intrigante Lamas so ähnlich beschreibt, wie es die | |
chinesische Regierung darstellt. Nachdem Alai in China zunächst keinen | |
Verlag fand, erhielt er für „Roter Opium“ im Jahr 2000 gar den renommierten | |
Mao-Dun-Preis. | |
In „Ferne Quellen“ geht es um die persönliche Auseinandersetzung mit | |
mythischen Naturschönheiten im tibetischen Hinterland und deren | |
touristische Vermarktung. Zur sanften Modernisierungskritik gesellt sich | |
sich eine im Ton scharfe, aber wegen ihrer Beliebigkeit letztlich stumpfe | |
Kritik an den kommunistischen Kadern durch den Ich-Erzähler. Ich „war es | |
gewohnt, Kader jeden Ranges zu treffen, die hochtrabend daherschwadronieren | |
und sich in endlosen Lügen ergingen“, heißt es etwa gegen Ende des Buches. | |
Solche Kritik gehört in China bei einheimischen Erfolgsautoren heute | |
offenbar zum guten Ton. Das sind klare Fortschritte im Vergleich zur Zeit | |
von Mao Tse-tung. Doch wird der Stillstand der jüngsten Zeit im Kontrast zu | |
Werken von Exilautoren deutlich. Das sagt erst mal nicht viel über die | |
literarische Qualität. Doch bleiben in der chinesischen Literatur die | |
politischen Grenzen in der Beschäftigung mit heiklen Themen eben deutlich | |
sichtbar. | |
Aktualisierte und leicht gekürte Version eines Artikels, der zuerst am 12. | |
Oktober 2009 in der taz zur damaligen Frankfurter Buchmesse erschien. | |
11 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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