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# taz.de -- Debatte Zeitungssterben: Ein Fels im Meer der Trivialität
> Die bürgerliche Zeitung war immer mehr als ein Medium der Information. In
> ihren Überlebenskämpfen gibt sie nun preis, wozu sie geschaffen wurde.
Der Fall der Frankfurter Rundschau macht es noch einmal besonders
augenfällig: Die bürgerliche Zeitung im Allgemeinen, und diejenige, die
eine dezidierte, gar linke Position vertritt, ist ein verschwindendes
Kulturgut. Von den vielen Begründungen, die es dafür gibt, ist
wahrscheinlich jene, es gebe mittlerweile so viele andere Medien der
Information, am wenigsten stichhaltig.
Eine bürgerliche Zeitung war aber immer viel mehr als ein Medium der
Information. Sie war ein magisches Instrument der Selbstvergewisserung,
eine tägliche Station in der Geschichte von Aufklärung und
Gegen-Aufklärung, ein Ritualinstrument zur Konstitution von Alltag,
Geschlecht und Sitte, ein ästhetisches Objekt zur Repräsentation der Welt.
Und dann bestand sie auch noch aus Texten. Eine bürgerliche Zeitung war das
Instrument zur Vertextlichung der Welt.
Die Zeitung in ihrer Glanzzeit war das schnelle Medium, und alle Bilder,
von den eiligen Zeitungsjungen über die wahrhaft „rasenden Reporter“ bis
zur imponierenden Rotationsmaschine, sprachen von der Dynamik nicht nur des
Mediums und seiner Hersteller, sondern auch der seiner Adressaten. Die
Zeitung war das Medium des Fortschritts.
Die bürgerliche Zeitung, die sich in den USA etwa erst als letzte der drei
großen Zeitungstypen herausbildete – Boulevardzeitung, Lokalblatt,
überregionale und eben „bürgerliche“, seriöse und kultivierte Zeitung �…
vor, diesen Fortschritt und seine Geschwindigkeit regulieren zu können. Die
Boulevardzeitung ihrerseits gab sich ihrem Rausch hin (sie versucht es
gelegentlich noch heute, auch wenn das meistens bedeutet, dass es mit
irgendetwas rasant abwärts geht), die Lokalzeitung setzte ein
gemächlicheres Tempo für eine überschaubare Welt dagegen.
## Bitte nicht mehr so gebüldet
Radio und Fernsehen konnten zunächst die Vormacht der Zeitung nur bedingt
in Frage zu stellen. Man traute ihnen zwar die Dynamik, nicht aber so sehr
die Kontrolle zu. Das Bedürfnis nach der Vertextlichung der Welt in all
ihrer Geschwindigkeit blieb gegenüber den akustischen und visuellen
Nachrichten durchaus vorhanden, zumal diese neuen Medien keine explizit
„bürgerliche“ Abteilung für Nachrichten, Kommentare und Kultur ausbilden
konnten. Die bürgerliche Zeitung, wenngleich in gebremster Machtfülle, war
immer noch der Fels in der Brandung des Meeres der Unübersichtlichkeit, der
Geschwindigkeit und der Trivialität.
Die bürgerliche Zeitung als Instrument der Verteidigung der bürgerlichen
Kultur konnte nur scheitern, weil sie blind gegenüber der Gefährdung und
Auflösung dieser Kultur war. Sie scheiterte aber vielleicht noch mehr an
ihren Anpassungsbemühungen. Ein wenig mehr Bilder, und dann noch mehr
Bilder. Kürzere Texte, und bitte nicht mehr so gebüldet. Boulevardisierung.
Und vor allem: alles in die Mitte.
Der politische Distinktionsgewinn wurde nach und nach so bescheiden wie die
durch die Zeitung beförderte Fähigkeit der kritischen Selbstvergewisserung.
Die Dynamik überrannte den Text; eine bürgerliche Zeitung nimmt die
chaotische Welt nicht mehr in ihrer Ordnung auf, sie läuft der chaotischen
Welt und ihren Fragmentierungen hinterher.
In ihrer politischen Ökonomie kann sich die bürgerliche Zeitung heute keine
dezidierte Position erlauben, doch wenn in allen mehr oder weniger dasselbe
steht, oft von denselben Autoren verfasst, wenn man sich in Layout,
Themenwahl und Textstil ängstlich anpasst, als wäre jeder Fehlversuch
schlimmer als der Verlust von Neugierde und Originalität, dann verliert die
bürgerliche Zeitung das, wozu sie für eine damals mehr oder weniger
fortschrittliche Klasse und ihre Kultur geschaffen wurde: das
Selbstbewusstsein.
## Ein Instrument der Macht
Die bürgerliche Zeitung war das Medium, in dem das prekäre Bewusstsein der
Klasse zum Selbstbewusstsein des Einzelnen wurde. Es ist leicht, jetzt, wo
sie untergeht, der bürgerlichen Zeitung nachzutrauern, als hätten wir sie
immer furchtbar lieb gehabt. Das haben wir nicht. Denn die bürgerliche
Zeitung war immer auch ein Instrument der Macht. Sie beförderte, selbst in
ihren netteren Exemplaren, immer auch Arroganz, Eitelkeit und Bosheit
dieser Klasse. Die alten Tanten konnten sehr bösartig sein.
Wenn nun die bürgerlichen Zeitungen untergehen, dann nicht allein, weil
ihnen die Leser verloren gehen, die sich Information und möglicherweise
auch Ordnungen, Fortschritt, Selbstbewusstsein, Alltagsritual woanders
holen, sondern auch, weil die Macht ihrer nicht mehr bedarf. Die
ökonomische Macht (die rücksichtsloseste von allen) wandte sich als erste
von ihnen ab, es folgte die politische (wozu die bürgerliche Zeitung, wenn
in einer TV-Talkshow Politik und Öffentlichkeit geschmeidiger verbunden
werden können), schließlich die kulturelle (die mit ein wenig Nostalgie am
Salon der alten Tanten verweilte).
Die postbürgerliche Gesellschaft mag sich bürgerliche Zeitungen einfach
nicht mehr leisten. Sie halten die neue Art von Fortschritt, der nicht ohne
kulturellen Rückbau zu haben ist, nur auf; nennenswerter Widerstand ist
aber auch nicht von ihnen zu erwarten. Daher sind sie weder für die
Protagonisten noch für die Kritiker von Neoliberalismus und Postdemokratie
von größerem Interesse. Sie bedienen Nischen und werden zunehmend Medien
der Nischenproduktion.
Aber ebendies wäre ja vielleicht nicht einmal das Schlechteste: ein
amüsantes, aufregendes, qualitätsvolles und eigensinniges Nischenprodukt
anzubieten, wenn es sein muss, mit der Unterstützung gesellschaftlicher
Mittel. Wir leisten uns schließlich auch Theater und Opern, Schwimmbäder
und Bibliotheken (noch!).
## Kollektiver Selbstmord
Die bürgerliche Zeitung als Luxus von Aufklärung und Kritik in der Zeit der
Anti-Aufklärung, als eine Kulturtechnik, die man nicht verschwinden lassen
möchte, auch wenn sie auf dem Markt, der schon beinahe alles regeln soll,
nicht mehr standhalten kann, wird vom Medium selbst zerstört. In ihren
Überlebenskämpfen auf dem Markt gibt die bürgerliche Zeitung nach und nach
preis, wozu sie geschaffen wurde und warum man sie möglicherweise immer
noch, vielleicht sogar dringender denn je gebrauchen könnte. Wir sehen zu,
wie die Zeitungen von dem Markt verschlungen werden, der sie hervorbrachte.
Wir sehen aber auch dem kollektiven Selbstmord der verbliebenen
Protagonisten eines Mediums zu.
Sagen wir es, wie es ist: Die bürgerliche Zeitung ist (noch) nicht schlecht
genug, um im allgemeinen Medienmix aufgelöst zu werden, sie ist aber auch
längst nicht mehr gut genug, um als kultiviertes Kommunikationsinstrument
zu überleben. Was uns bleibt, ist die Rettung eines Forums für Kritik und
Diskurs, das ein paar gute Eigenschaften hat, die kein anderes Medium
bieten kann. Die Zeitung ist tot. Es lebe die Zeitung.
21 Nov 2012
## AUTOREN
Georg Seeßlen
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