| # taz.de -- Debatte Neue Bürgerlichkeit: Bürgerliche Zombies | |
| > Die Grünen haben die Bürgerlichkeit entdeckt. Doch ist sie wirklich neu? | |
| > Oder treibt da eine auferstandene alte Bildungsbürgerlichkeit ihr | |
| > Unwesen? | |
| Bild: Können die Grünen ihre eigene Interessenlage transzendieren? | |
| Die Grünen haben eine neues Zauberwort gefunden: „bürgerlich“. Ist | |
| „bürgerlich“ ein unverfängliches Wort? Meint es den Abschied von | |
| realitätsuntüchtigen Flausen, eine Orientierung am Gemeinwohl? Oder ein | |
| Anschmiegen an die selbst ernannten bürgerlichen Parteien Union und FDP? | |
| Das Wort „bürgerlich“ schillert. Es hat im Deutschen mindestens zwei | |
| Bedeutungen. Es kann den Staatsbürger meinen, also in einem egalitären | |
| Sinne bedeuten, dass sich die Grünen als Partei aller verstehen und stets | |
| das Gemeinwohl im Sinn haben. Allerdings ist „bürgerlich“ auch eine | |
| Klassenbezeichnung und wäre somit eine Geste der Distinktion, die die | |
| Grünen als Partei einer Gruppe inszeniert, die sich über einen bestimmten | |
| Habitus definiert. Die Grünen werden von gut verdienenden Beamten und | |
| Selbstständigen gewählt, Niedrigverdiener gibt es in der Partei kaum. Nur | |
| die FDP ist sozial so exklusiv wie die Grünen. | |
| Bei den Grünen nimmt die „neue Bürgerlichkeit“ eine seltsam changierende | |
| Gestalt an. Laut Cem Özdemir sind die Grünen konservativ, aber nicht im | |
| überkommenen Sinn. Andererseits wollen die Grünen auch links sein, | |
| wenngleich auch keine traditionelle Weltanschauungspartei. Die Grünen | |
| nähern sich mit ihrer Wertschätzung der Familie kirchlichen Positionen an, | |
| sind aber andererseits entschieden antikirchlich, was Abtreibungen und die | |
| Sexualmoral anlangt. Diese programmatischen Äußerungen sind gerade in ihrer | |
| Widersprüchlichkeit Ausdruck des postmaterialistisch-alternativen Milieus. | |
| Was ist also neu an der „neuen Bürgerlichkeit“? In einer längst | |
| untergegangenen Welt firmierten Teile der akademisch gebildeten | |
| kleinbürgerlichen Schichten unter dem selbst gewählten Begriff des | |
| „Bildungsbürgertums“. Politisch abstinent, kompensierten sie ihre | |
| Machtlosigkeit durch den Anspruch, Bildungselite zu sein. Sie hatten Angst | |
| vor der Anonymität des modernen Kapitalismus und verachteten dessen | |
| Protagonisten. Gleichzeitig verabscheuten sie die „Plebejer“ und klammerten | |
| sich an ihre prekäre gesellschaftliche Stellung. | |
| ## Das Unwesen des alten Bildungsbürgertums | |
| Manchmal hat man den Eindruck, dass in der „neuen Bürgerlichkeit“ das alte | |
| Bildungsbürgertum gleich Untoten sein Unwesen treibt. Es gibt kein Revival | |
| privater Dichterlesungen, wo Jünglinge an den Lippen verehrter Meister | |
| hängen. Dennoch ist die Rückbesinnung auf die angeblichen Tugenden des | |
| Bildungsbürgertums wie eben die Wertschätzung von Bildung im weiten Sinn, | |
| von Höflichkeit und Anstand wichtig für das Selbstverständnis des | |
| grün-alternativen Milieus. | |
| Nicht als starre Tugendlehre, sondern eher im Sinn eines Werkzeugkastens, | |
| aus dem man sich nach Bedarf bedient. Für das grün-alternative Milieu steht | |
| Geborgenheit vor experimenteller Lebensführung. Es ist der ökonomische | |
| Druck, die Gefahr des Absturzes in die Unterklasse, die die Sehnsucht nach | |
| stabilen Verhältnissen befördert. Hier finden sich reale Anknüpfungspunkte | |
| an die Lage des „klassischen“ Bildungsbürgertums. | |
| Neu an der „neuen Bürgerlichkeit“ ist, dass die Konzentration auf Familie | |
| und Freundeskreis nicht gleichbedeutend ist mit dem Rückzug ins Private. | |
| Offenheit gegenüber der Welt und ihren ungelösten Problemen gehört zur | |
| Grundausstattung. Insofern gibt es einen universalistischen Grundzug im | |
| Denken. Neu ist auch das politische Selbstverständnis als Bürger. In ihm | |
| steckt der Anspruch, verantwortungsvoll dem Gemeinwohl verpflichtet zu | |
| sein. | |
| Vorbild ist der „Citoyen“ der neuzeitlichen demokratischen Revolutionen. | |
| Wir bewegen uns hier im Bereich hoher Normativität. Aber auch der Citoyen | |
| von heute ist in die Lebenswirklichkeit verwickelt. Als Angehöriger des | |
| grün-alternativen Milieus teilt er die Interessen und Befürchtungen seiner | |
| Schicht, er ist bürger-lich. | |
| ## Distanz zum Unten | |
| Einiges spricht dafür, dass im neubürgerlichen Selbstverständnis der Grünen | |
| dieser Subtext stark mitschwingt. Als vor zehn Jahren in den Feuilletons | |
| und Soziologieseminaren das Neubürgerliche entdeckt wurde, ging dies nicht | |
| zufällig mit der Debatte über die Unterschicht einher. Die | |
| Hartz-IV-Klientel, so das Bild, zeigte sich resistent gegen alle | |
| pädagogischen Aufforderungen, sich aus dem Fernsehsessel zu erheben und | |
| Aufstiegswillen zu demonstrieren. | |
| Der leicht angeekelte Blick des Neobürgertums auf das RTL2 -Publikum war | |
| auch ein Abwehrreflex: die Selbstversicherung einer verunsicherten | |
| Mittelschicht, die ahnt, dass es auf der Rutsche Richtung Hartz IV ganz | |
| schnell gehen kann. Die grüne Bürgerlichkeit meint Werte und Gemeinwohl. | |
| Doch dabei schwingt etwas anderes mit: der Wunsch, Distanz zum sozialen | |
| Unten zu markieren. | |
| Die Frage ist, ob die Grünen in der Lage sind, über ihre eigenen | |
| Schichteninteressen hinaus für die Interessen der „Unterklasse“ | |
| einzutreten. Kann die Partei ihre eigene Interessenlage transzendieren? | |
| „Ideen“, schrieb Karl Marx, „blamieren sich stets vor Interessen“. Aber | |
| was, wenn mittelständische Interessengruppen so stark von der | |
| universalistischen Sendung ihrer Politik ausgehen, dass sie sich über die | |
| schichtenmäßige Begrenzung ihres politischen Horizonts wenigstens | |
| zeitweilig überheben? Das wäre eine produktive Selbsttäuschung, die sehr | |
| starke Überzeugungen voraussetzt. | |
| Die Grünen treten mit einem moderaten Umverteilungsprogramm an: Sie wollen | |
| den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent heben und eine zeitlich begrenzte | |
| Vermögensabgabe für sehr Reiche einführen; dafür soll Hartz IV auf 420 Euro | |
| steigen. Diese Forderungen belasten zielgenau die eigene Klientel: die | |
| obere Mittelschicht. Werden die Grünen an der Regierung dem ökoorientierten | |
| Hochschullehrer und der grünen Rechtsanwältin wirklich ein paar tausend | |
| Euro im Jahr abknöpfen? Dies wird die Probe aufs Exempel, was die Grünen | |
| mit „Bürgerlichkeit“ meinen: soziale Abgrenzung nach unten oder | |
| Gemeinwohlorientierung. | |
| 27 Nov 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| S. Reinecke | |
| C. Semler | |
| ## TAGS | |
| Ökologie | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| Gemeinwohl | |
| Politische Musik | |
| Zeitung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Songwriterin Nichtseattle: „Wir entwickeln eine bessere Welt“ | |
| Katharina Kollmann macht als Nichtseattle Lieder über das richtige Leben im | |
| falschen. Ein Gespräch über „Kommunistenlibido“, Marx und Geborgenheit. | |
| Debatte Zeitungssterben: Ein Fels im Meer der Trivialität | |
| Die bürgerliche Zeitung war immer mehr als ein Medium der Information. In | |
| ihren Überlebenskämpfen gibt sie nun preis, wozu sie geschaffen wurde. | |
| Heidemarie Ott über Rollen und Muster: "Eine neubürgerliche Spießigkeit" | |
| Die alten Rollenmuster, die die Mütter vorlebten, sind hartnäckig. Das | |
| waren sie sogar in der DDR, sagt Heidemarie Ott, Leiterin des Hamburger | |
| Literaturzentrums. |