# taz.de -- Soziologe über Stress am Arbeitsplatz: „Der Druck ist gewaltig g… | |
> Seit Jahren werde von Arbeitnehmern immer mehr verlangt, sagt der | |
> Medizinsoziologe Johannes Siegrist. Er fordert verbindliche Regeln im | |
> Arbeitsschutz. | |
Bild: Nur der öffentliche Dienst ist ein wenig verschont geblieben. Alle ander… | |
taz: Herr Siegrist, gibt es wirklich mehr Stress im Beruf? | |
Johannes Siegrist: Ja, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben sich | |
in vielen Branchen die täglichen Anforderungen verschärft. Das zeigen | |
Längsschnittstudien, unter anderem aus Schweden. | |
Woran liegt es? | |
Durch die Globalisierung ist der Konkurrenzdruck und damit auch der Druck | |
auf Löhne und Gehälter gewachsen. Es wird in immer schnellerem Tempo | |
rationalisiert und restrukturiert und in den Dienstleistungen gibt es | |
höhere Anforderungen bei der Jagd nach Kunden. | |
Niemand wird verschont? | |
Einige Bereiche des öffentlichen Dienstes ein bisschen. Aber auch da ist | |
durch neue Managementkonzepte der Druck zum Teil gewaltig gewachsen. | |
Wie genau hängen Arbeitsstress und psychische Erkrankungen zusammen? | |
Es gibt in der internationalen Forschung drei anerkannte Modelle, mit denen | |
man in Studien, die über Jahre liefen, gemessen hat, dass sich bei | |
bestimmten Arbeitsbedingungen das Depressionsrisiko in statistisch | |
signifikanter Weise erhöht. | |
Wie funktionieren die Modelle? | |
Das Anforderungs-Kontroll-Modell zeigt, dass in Jobs, in denen extremer | |
Zeitdruck besteht und Menschen nicht entscheiden können, wie die Arbeit | |
abläuft, sich das Risiko für stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen | |
erhöht. Das zweite Modell beschreibt berufliche Gratifikationskrisen. | |
Arbeit ist ein Prozess von Geben und Nehmen. Wenn ich mich aber extrem | |
verausgabe und andererseits keine angemessene Gegenleistung erhalte, in | |
Lohn, durch Aufstiegsmöglichkeiten oder Wertschätzung, dann führt auch das | |
zu einem höheren Risiko für stressbedingte Erkrankungen. | |
Und das dritte Modell? | |
Untersucht die Organisationsungerechtigkeit, also Mobbing, ungerechte | |
Behandlungen oder Verfahrensweisen im Betrieb, beispielsweise wenn jemand | |
nur durch Beziehungen weiterkommt. Wenn man von einer dieser Formen des | |
Arbeitsstresses betroffen ist, dann ist das relative Risiko, eine | |
Depression zu erleiden, um 40 bis 140 Prozent erhöht. | |
Welche Berufsgruppen trifft es am häufigsten? | |
Man kann allgemein sagen: Je tiefer die Qualifikation, desto häufiger sind | |
die Belastungen. Dazu kommen spezifische Belastungen einzelner | |
Berufsgruppen, beispielsweise in Dienstleistungen mit Kundenkontakt. | |
Mitarbeiter in Callcentern sind also besonders gefährdet? | |
Ja, aber auch Menschen in Lehrberufen oder im Gesundheitsbereich. Eine | |
repräsentative Studie bei chirurgisch tätigen Ärzten hat gezeigt, dass 25 | |
Prozent der KrankenhausärztInnen ausgeprägte Gratifikationskrisen erfahren. | |
Gewerkschaften und die Sozialminister der Länder fordern, mit verbindlichen | |
Regeln im Arbeitsschutz gegenzusteuern. Wie sinnvoll ist das? | |
Ich bin generell nicht für mehr Regelungsdichte, aber in diesem Fall | |
scheint mir das absolut angemessen. Dabei muss man sorgfältig die | |
Erkenntnisse der Wissenschaft berücksichtigen. Wir hinken in Deutschland | |
beim Thema psychische Belastungen am Arbeitsplatz hinterher. Dänemark, | |
Holland, sogar Großbritannien sind da weiter. In Großbritannien werden seit | |
Jahren die Ursachen psychischer Belastungen erfasst und große Unternehmen | |
dazu verpflichtet, dagegen vorzugehen. | |
Was genau kann man tun? | |
Besonders gefährdete Gruppen und Berufe identifizieren und dort mit | |
Prävention ansetzen. Aber nicht, indem man die Menschen nur abhärtet. Auch | |
in den Betrieben muss sich etwas ändern. Beispielsweise durch | |
Arbeitszeitverkürzung oder die Schulung von Führungskräften. Der | |
Handlungsdruck ist enorm. | |
19 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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