Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die unerträgliche Erreichbarkeit des Seins: Ich bin dann mal dran
> Abends noch Mails checken? Arbeiten in der Supermarktschlange?
> Handyverbot beim Essen? Wie Berufsonliner mit der ständigen
> Erreichbarkeit umgehen. Vier Protokolle.
Bild: Sind wir Gefangene unserer Smartphones? Nicht alle sehen das so.
## Der Terrorist in meinem Bett
Mein letzter Blick am Abend gilt meiner Frau und meinen Kindern. Aber als
vorletztes schaue ich auf den „Terroristen“, wie meine Frau ihn nennt: auf
mein Smartphone. Damit ich vorbereitet bin. Denn als Pressesprecher habe
ich keine festen Arbeitszeiten. Wenn die Leute in Deutschland aufhören zu
arbeiten, fangen die Google-Kollegen in den USA gerade erst an. Anfragen
von Journalisten bekomme ich oft, wenn in der Zentrale etwas passiert ist –
und hier offiziell schon Feierabend. Oder mein Telefon klingelt früh
morgens und ich werde nach Dingen gefragt, die erst über Nacht aufgepoppt
sind.
Daran muss man sich erst gewöhnen. Aber ich mache das gerne, ich mag meinen
Job. Es gibt natürlich Uhrzeiten, zu denen auch ich nicht mehr auf Anfrgen
reagiere. Abends ab 21 Uhr zum Beispiel. Außer, wenn mein Boss etwas will
oder bei ganz wichtigen Anrufen aus den USA – mit denen telefoniere ich
notfalls auch mal nachts um halb drei.
Wir haben bei Google viel über Work-life Balance geredet und uns darauf
geeinigt: Offiziell muss niemand am Wochenende seine Mails lesen, wenn es
absolut wichtig ist, muss man halt anrufen. Allerdings checke ich sie auch
Samstag und Sonntag – weil ich sonst eben doch das Gefühl habe, etwas zu
verpassen. Dafür versuche ich im Urlaub, wirklich nur ein Mal morgens und
abends in die Mails zu gucken. Oft ist das aber auch selbst gemachter
Stress, mit etwas Zeitabstand sind viele Mails gar nicht mehr so wichtig,
wie sie sofort nach dem Versenden erschienen wären. Aber in meinem Job
verändert sich eben vieles sehr schnell – manchmal komme ich mir vor wie
bei Tchibo: Jede Woche eine neue Welt.
Auf Einladung eines Kollegen von der Techniker Krankenkasse war ich Anfang
des Jahres bei einem Workshop zum Thema Social-Media-Burnout. Dafür habe
ich mich zu dem Thema schlau gemacht – auch wenn ich selbst überhaupt keine
„Social Müdia“ verspüre, im Gegenteil. Aber natürlich kann man einen
Social-Media-Burnout erleben. Ob es sinnvoll ist, die Erreichbarkeit von
Arbeitnehmern gesetzlich zu regeln? Ich glaube, da muss jeder seinen
eigenen Weg finden. Von oben verordnen kann man das nicht.
Ich finde, dass ein Gespräch mit echten Freunden im echten Leben durch
nichts zu ersetzen ist. Wenn man zum Beispiel essen geht, finde ich es eine
Unsitte, ständig auf sein Handy zu starren. Zwei Stunden muss man das auch
weglegen können. Das wird natürlich immer schwieriger – aber es ist
wichtig, dass man sich solche Freiräume schafft.
Stefan Keuchel, Pressesprecher Google Deutschland
## Freiräume erarbeiten und später nutzen
Für mich ist das Smartphone eine absolute Erleichterung – gerade, wenn es
um Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Da ist ja nicht die
Arbeitszeit das Problem, sondern die Gebundenheit an einen Ort zu einer
festen Zeit. Mit Smartphone bin ich viel flexibler: Ich weiß, dass ich
nichts Wichtiges verpasse, wenn ich unterwegs bin. Ich hasse unproduktives
Warten, zum Beispiel an Haltestellen oder in Supermarktschlangen. Mit
meinem Smartphone nutze ich diese Zeit sinnvoll, erarbeite mir Freiräume,
die ich später privat nutze.
Die Idee, die Erreichbarkeit von Arbeitnehmern gesetzlich zu regeln, finde
ich absurd. Das ist ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit und in
die Freiheit der MitarbeiterInnen. Eine gesetzliche Regelung macht auch nur
dann Sinn, wenn sie durchsetzbar ist, das wäre sie aber genauso wenig wie
das aktuelle Urheberrecht.
Es gibt aber auch die andere Seite. Als ich noch bei Unternehmensberatungen
arbeitete, habe ich irgendwann unbezahlten Urlaub genommen, weil ich es
wirklich nötig hatte. Da stand ich in Venezuela zwischen Tafelbergen und
habe verzweifelt versucht, Handyempfang zu bekommen. Nach ein paar Tagen
war ich nur noch erleichtert: ich war einfach nicht erreichbar. Drei Wochen
lang.
Danach warf man mir in der Firma genau das vor. Dabei ist gar kein Erdbeben
passiert, es war einfach normaler Betrieb. Später bei Microsoft hat meine
Chefin vor ihrem Urlaub ein Mail an uns geschickt, dass sie weder Handy
noch Laptop mitnimmt – wir würden sicher gut auch mal ohne sie auskommen.
Die Signalwirkung, wenn Vorgesetzte das machen, kann man gar nicht
überschätzen.
Bei Microsoft habe ich überhaupt unter flexiblen Bedingungen gearbeitet.
Ich konnte auch Wochentage frei machen und dafür Samstags arbeiten, das war
toll. Das haben viele so gemacht. Einmal habe ich vorgeschlagen, Mails, die
am Wochenende geschrieben werden, mit Zustellungsverzögerung zu schicken –
damit die Empfänger nicht in der Freizeit gestört werden. Die Anderen
meinten aber, sie hätten längst gelernt, das zu ignorieren.
Inzwischen habe ich mich selbstständig gemacht, zwei Unternehmen gegründet,
in denen ich meinen beiden Leidenschaften nachgehe, Open Government und
Abbau von Barrieren für Frauen im Management. Für mich eine Befreiung:
Beides habe ich früher als Hobby gemacht – zusätzlich zu 60-Stunden-Wochen.
Keine Ahnung, wie viel ich jetzt arbeite, Ehrenamt und Berufliches
überlappen sich bei mir und beides macht mir Spaß.
Feste Internet- und smartphonefreie Zeiten für die Familie brauche ich
nicht, weil ich zuhause arbeite und auch nicht dauernd am Handy hänge. Aber
beim Essen gibt's bei uns kein Smartphone – für niemanden. Offline bin ich
auf der Bahnfahrt von meinem Wohnort nach Berlin, notgedrungen – eine
Stunde lang. Das genieße ich inzwischen, stricke oder lese die taz.
Als Angestellte landete ich zwei Mal mit Burnout im Krankenhaus. Das hatte
nichts mit Social-Media-Nutzung zu tun, sondern einfach mit zu viel Arbeit
und zu wenig Freizeit. Social Media ist ja nur ein Tool. Es sagt ja auch
keiner, der Füller ist daran schuld, dass man so viel schreibt.
Anke Domscheit-Berg, Unternehmerin, arbeitete früher unter anderem bei
McKinsey und Microsoft
## Push-Funktion ausgestellt
Abends vorm Schlafen gehen noch Mails checken? Das mache ich fast nie. Nach
20 Uhr bekomme ich in der Regel keine wichtigen beruflichen Nachrichten
mehr. Auch am Wochenende oder im Urlaub bin ich da restriktiv, schaue nicht
in meinen beruflichen Account. Aber natürlich reagiere ich auf Anrufe oder
SMS von Kollegen oder Kunden. Das ist bei uns in der Firma der
unausgesprochene Deal.
Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, sich da zu disziplinieren. Sich
Gedanken darüber zu machen, ob man sich von der Technik durch den Tag
treiben lässt. Ich habe zum Beispiel die Push-Funktion an meinem
Smartphone, die mich ständig auf neue Mails aufmerksam macht,
ausgeschaltet. Nur ein kleiner Unterschied – aber jetzt entscheide ich
selbst, wann ich in die Mailbox schaue. Und wenn der seltene Fall
eintrifft, dass ein Kunde mich anruft, während ich im Biergarten sitze,
gehe ich auch einfach mal nicht dran.
Das alles mache ich nicht, weil ich schon mal schlechte Erfahrungen mit
Dauerreichbarkeit gemacht habe. Sondern, weil ich mir schon bei der
Anschaffung meines ersten Handys Ende der Neunziger vorgenommen habe, nicht
immer dran gehen zu müssen. Nur weil es da ist, will ich mich nicht zum
Sklaven des Gerätes machen. So geht es mir bis heute. Das funktioniert mal
besser, mal schlechter.
Natürlich gehört es in meinem Job auch dazu, erreichbar zu sein. Gerade bei
einem Start-up, wo die Identifikation der Mitarbeiter mit der Firma sehr
groß ist. Bevor die Kollegen stundenlang nach Passwörtern suchen, sollen
sie mich lieber anrufen. Das gibt ihnen ja auch Sicherheit.
Klar melden sich auch am Wochenende Kunden bei mir. Bei zeitkritischen
Projekten zum Beispiel, oder bei Anzeigengruppen, die nur Samstag und
Sonntag geschaltet sind. Aber das weiß ich in der Regel vorher. Für meine
Arbeit erlauben mir mobile Kommunikationsmöglichkeiten viele Freiheiten.
Oft muss man am Wochenende ja nur Kleinigkeiten erledigen – da ist das
Smartphone eine echte Erleichterung.
Ich weiß, dass es aber auch andere Jobs gibt, wo man immer auf Abruf steht.
Da kann jederzeit ein Anruf, eine Nachricht kommen und man muss innerhalb
von zwei Stunden irgendwo sein. Wenn jemand zur Dauererreichbarkeit
gezwungen wird, kann ich verstehen, dass man das gesetzlich regeln möchte.
Aber wie soll denn das praktisch gehen? Mit einer Stechuhr fürs Smartphone?
Albrecht Mangler, Online-Marketing-Spezialist bei der Social Media
Marketing Agentur bilandia-media.de
## Der erster Blick aufs Handy
Okay, letztes Wochenende war ich auf einem Festival, da habe ich irgendwann
gedacht, es wäre nicht schlecht, wenn es da kein UMTS gegeben hätte. Dann
hätte ich ein paar Stunden einfach so ungestört durchtanzen können.
Mein Smartphone ist immer an. Ich bin heute gestresster, wenn ich kein Netz
habe. In der Bahn zum Beispiel. Bei mir läuft das eh immer nebenbei. Das
war schon immer so, früher war ich ein totaler Nachrichtenjunkie, habe mir
immer Nachrichten angeschaut, wenn mir langweilig war. Jetzt habe ich eben
das Internet. Klar checke ich auch nachts Mails, wenn ich nicht schlafen
kann. Ich gehe auch abends um 22 Uhr ans Telefon, wenn mich ein Journalist
anruft. Morgens geht der erste Blick aufs Handy, lange vorm Kaffeekochen,
abends der letzte.
Ich meine, das Internet durchzufiltern ist ja auch mein Job, als
Berufsblogger. Und zwar nicht nur ein Brotjob, der mir keinen Spaß macht.
Bei mir verschwimmen Freizeit und Arbeitsleben immer mehr. Darum würde eine
strikte Regelung der Erreichbarkeit bei mir wenig bringen. Ich versuche, im
Urlaub nicht erreichbar zu sein. Das halte ich aber meistens nur eine Woche
lang durch, dann habe ich alle Bücher gelesen und mir wird langweilig. Das
Internet ist doch heute alles in einem: Fernsehen, Radio, dort kommuniziere
ich, lenke mich ab.
Ich kann mir schon vorstellen, dass es so etwas wie Social-Media-Burnout
gibt. Ich kann mir schon vorstellen, dass auch ich in zehn, zwanzig Jahren
das Gefühl bekomme, mehr Ruhepausen zu benötigen. Aber wenn ich jetzt in
mich reinhöre, dann ist da nichts. Kein Stress.
Markus Beckedahl, Berufsblogger bei netzpolitik.org
10 Jul 2012
## AUTOREN
Meike Laaff
## TAGS
Arbeitsministerium
Arbeitsbedingungen
Burnout
## ARTIKEL ZUM THEMA
Keine Mails nach Dienstschluss: Arbeitsministerium baut Stress ab
Angestellte des Arbeitsministeriums sollen nur noch im Ausnahmefall
berufliche Anrufe und Mails nach Feierabend erhalten – das sieht eine
Selbstverpflichtung vor.
Soziologe über Stress am Arbeitsplatz: „Der Druck ist gewaltig gewachsen“
Seit Jahren werde von Arbeitnehmern immer mehr verlangt, sagt der
Medizinsoziologe Johannes Siegrist. Er fordert verbindliche Regeln im
Arbeitsschutz.
Kabinett berät über Maßnahmen: Neue Rezepte gegen Burn-out
Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt. Betriebe könnten bald
gesetzlich verpflichtet werden, Stressfaktoren zu reduzieren.
Open-Air-Festival „Haltestelle Woodstock“: „Wir befreien uns von Komplexe…
Jurek Owsiak ist der Vater des polnischen Open-Air-Festivals „Haltestelle
Woodstock“. Er spricht über die Europameisterschaft, seinen Tod und den
Lebenswillen der Polen.
Junge Mediennutzer lieben Hörfunk: Unbeeindruckt vom Internet
Wer heute jung ist, hört Radio. Die Media Analyse Radio 2012 bescheinigt
dem klassischen Medium rundum erfreuliche Nutzerzahlen – noch nie hörten so
viele so viel.
Kommentar Smartphones: Das Ding für alle Gelegenheiten
Dieses Gerät, das wir „Smartphone“ nennen, ist kein Telefon. Es wird auch
immer weniger zum Telefonieren benutzt. Höchste Zeit, ihm einen neuen Namen
zu geben.
Gewerkschaft macht Anti-Stress-Vorschläge: Mehr Ruhe auf der Arbeit
Jeder achte Krankheitstag in Deutschland wird durch seelische Leiden
ausgelöst. Die IG Metall hat nun Vorschriften gegen Hektik im Job und
Burn-out vorgeschlagen.
Erreichbarkeit von Beschäftigten: Permanente Verfügbarkeit keine Lösung
Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) fordert, die
Erreichbarkeit von Beschäftigten tariflich zu regeln. Besonders Männer
schützten sich kaum vor der Datenflut.
Kommentar Ständige Erreichbarkeit: Der Fluch der Technik
Arbeitnehmer sind nicht wegen Smartphones ständig erreichbar, sondern wegen
ihrer Abstiegsangst. Diese Angst könnte ihnen Ursula von der Leyen nehmen.
Netzaktivisten in Suizidgefahr: Noch schnell die Passwörter übergeben
Aktivismus kann zum Burnout führen: Der Piratenpolitiker Stephan Urbach
wollte letzes Jahr Selbstmord begehen. Und er ist kein Einzelfall.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.