| # taz.de -- Kommentar Ständige Erreichbarkeit: Der Fluch der Technik | |
| > Arbeitnehmer sind nicht wegen Smartphones ständig erreichbar, sondern | |
| > wegen ihrer Abstiegsangst. Diese Angst könnte ihnen Ursula von der Leyen | |
| > nehmen. | |
| Bild: Im Urlaub erreichbar: ist das Handy schuld? | |
| Wer hat Schuld daran, dass sich immer mehr Menschen von ihrem Job | |
| drangsaliert fühlen? Von der Leyen hat da eine interessante Theorie, die | |
| den Vorteil hat, niemanden konkret anzugreifen: es ist – Trommelwirbel – | |
| das Smartphone. | |
| Der Fluch der Technik ist die ständige Erreichbarkeit, und diesem Fluch | |
| müssen nun beide, Arbeitnehmer und -geber, begegnen: indem man feste | |
| Kommunikationszeiten ausmacht zu Beispiel, indem man in seiner Freizeit | |
| offline ist. | |
| Das ist beeindruckend kurz gesprungen, denn es wird wohl niemand freiwillig | |
| das Wochenende über sein Diensthandy freiwillig mit sich spazieren tragen. | |
| Und doch ist das die Realität in der Arbeitswelt. War lange Zeit das | |
| Angestelltenverhältnis idealtypisch, sind jetzt die Freiberufler großes | |
| Vorbild bei der Arbeitsorganisation: das Zauberwort heißt Flexibilität, vor | |
| allem zeitliche. Von der Leyen selbst fordert sie, wenn sie nicht über | |
| Burnout redet, gerne ein, zum Beispiel gegenüber Alleinerziehenden. | |
| Nun sind Burnout und psychische Belastungsstörungen durchaus ein wichtiges | |
| Thema. Erst im März dieses Jahres [1][veröffentlichte der DGB eine Studie], | |
| nach der sich immer mehr Arbeitnehmer von ihrer Tätigkeit gestresst fühlen. | |
| Die OECD vermutet, dass bis zur Hälfte aller Frühverrentungen wegen | |
| psychischer Belastung beantragt werden; mindestens 20 Prozent aller | |
| Arbeitnehmer seien ausgebrannt, manche Studien sprechen von fünfzig | |
| Prozent. | |
| ## Angst vor dem Abstieg | |
| Warum tut man sich das an? Nur weil so ein Diensthandy keinen Aus-Knopf | |
| hat? Weil das Smartphone einen zwingt, jede geschäftliche Mail, sobald sie | |
| im Postfach liegt, innerhalb dreißig Minuten zu beantworten? | |
| Doch die ständige Erreichbarkeit ist nicht nur belastend; [2][laut einer | |
| Umfrage aus dem Jahr 2009] sind 73 Prozent der berufstätigen Internetnutzer | |
| auch außerhalb des Jobs für ihre Arbeit erreichbar. Längst nicht alle davon | |
| sind der Verzweiflung nahe. Es ist vielmehr so (und das weiß man, seit es | |
| das Internet gibt), dass die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit immer | |
| mehr verschwindet. | |
| Die Belastung ist tatsächlich eine andere: Hartz IV ist nicht deswegen so | |
| niedrig, um Arbeitslose zu gängeln. Das ist nur der Nebeneffekt. Hartz IV | |
| reicht deswegen kaum zum Leben, um einen Leidensdruck aufzubauen, der die | |
| fortwährend und immer stärker vom Abstieg bedrohte Mittelschicht das | |
| Fürchten lehren und disziplinieren soll. | |
| In der Angst, in der sozialen Versenkung zu verschwinden und ein Leben mit | |
| Behördengängelei und in schikanösen finanziellen Verhältnissen zu fristen, | |
| passt er sich an die heutige Arbeitswelt an. | |
| ## Man beugt sich nicht dem Smartphone | |
| Das ist das eine; wenn Angestellte ihr Rückgrat an den Garderobenständer | |
| hängen, dann aus Furcht vor Jobverlust und dem anschließendem Abstieg. | |
| Diese Furcht könnte man ihnen durchaus nehmen, allein: Ursula von der Leyen | |
| ist gegen die Sockelrente zur Bekämpfung der Altersarmut. Gegen das | |
| Grundeinkommen sowieso. | |
| Denn, so sagte sie im Sommer letzten Jahres, sie befürchte von beiden | |
| Vorhaben „eine negative Signalwirkung im Hinblick auf die Stärkung der | |
| Eigenverantwortung der Bürger“. Die Eigenverantwortung der Bürger, das ist | |
| seine Abhängigkeit vom Lohnerwerb. | |
| Das Problem dabei ist nicht, dass man sich seinem Smartphone beugt, sondern | |
| dem Willen seines Chefs oder Auftraggeber unter Vernachlässigung eigener | |
| Bedürfnisse. Smartphones machen die Leine nur ein kleines bisschen kürzer. | |
| Die Schwierigkeit ist vielmehr, wenn sich abhängig Beschäftigte nicht | |
| trauen, ihrem Vorgesetzten zu sagen, dass die Präsentation erst in drei | |
| Wochen ist und deswegen die Fertigstellung auch noch Zeit hat bis Montag. | |
| Da hilft kein Ausknopf, da hilft nur ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. | |
| Wer die Menschen entlasten will, muss sie von ihren Abstiegsängsten | |
| befreien. Nicht von ihren Smartphones. | |
| 13 Jun 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Studie-zu-Arbeitsstress/!90446/ | |
| [2] http://www.golem.de/0908/68976.html | |
| ## AUTOREN | |
| Frédéric Valin | |
| ## TAGS | |
| Arbeitsschutz | |
| Arbeitsministerium | |
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