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# taz.de -- Feministische Künstlerin: Miedergepanzerte Hausfrau
> Die radikalen Collagen von Linder prägten Fanzines und Plattencover der
> britischen Punkbewegung. Nun ist ihr eine Ausstellung im Musée d’Art
> Moderne in Paris gewidmet.
Bild: Ohne Titel, 1976 (Ausschnitt).
„Ewiges Warten auf den Bus und Dauerregen.“ So beschreibt die britische
Künstlerin Linder (geboren 1954) ihre Kindheit als Linda Mulvey in einer
Working-Class-Familie im Liverpool der sechziger Jahre. Die
Gleichförmigkeit ihres Alltags in einer Council-Estates-Siedlung, graue
Nachkriegs-Tristesse, die Unabwendbarkeit eines Spießerlebens,
Heilsversprechen aus der Konsumkultur, all das wird mit ekstatischem
Missvergnügen und unerbittlicher Repetition in ihren Arbeiten thematisiert.
Linder entzog sich dem Working-Class-Alltag schon mit 19, studierte
Grafikdesign an der Manchester Polytechnic und gab sich einen androgynen
Künstlernamen. Deutsch klingend, weil ihre Lieblingskünstler die Deutschen
Hannah Höch und Helmut Herzfeld (John Heartfield) waren.
Erst in den neunziger Jahren wurde Linders Kunst über die britische
Popszene hinaus einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Ihre Anfänge liegen
in der Punkszene. Im Juni 1976 besuchte sie das Konzert der Sex Pistols in
der Free Trade Hall in Manchester. Viele der circa 60 Anwesenden gründeten
danach selbst eine Band oder wurden künstlerisch tätig. Zuerst schuf Linder
für das Fanzine The Secret Public Fotomontagen.
Sie sammelt seit ihrer Jugend Pornohefte, Frauenzeitschriften und
Warenhauskataloge, setzt Abbildungen daraus neu zusammen, zerstört die
Proportionen, verzerrt die Formen. In ihren Fotomontagen seziert sie, was
nackt ist und seinen Körper zu Markte trägt, und gibt den entblößten
Körpern mit Bügeleisen, Lippenstift, Torten, Blumen oder Eiskugeln
Anonymität zurück.
## Wie im Labor
Wie in einem Labor arbeitet Linder mit einer Unterlage aus Glas, auf der
sie ihre Fundstücke mit einer Pinzette drapiert und bearbeitet. Längst hat
die Modeindustrie Pornografie als ästhetischen Steinbruch entdeckt. Linder
nahm diese Liaison um zwei Jahrzehnte vorweg.
Als „Bindeglied“ zwischen Yoko Ono und Tracey Emin wurde Linder bezeichnet,
aber wird man ihr damit gerecht? Nun ist Linder eine große Ausstellung
unter dem Titel „Femme/Objet“ im Pariser Musée d’Art Moderne gewidmet, d…
erste Retrospektive auf dem europäischen Festland. Nicht nur, was da zu
sehen ist, überzeugt, auch das Design der Ausstellung tut es.
## Blickdichte Vorhänge
Lange Reihen ihrer Collagen hängen in Halbkreisen und an rougefarbenen
Wänden. Ein Raum ist dem Spiegelkabinett einer Peepshow nachempfunden.
Zentral im größten Saal ist die Bemerkung „Anatomy is not Destiny“ in
neonleuchtenden Lettern angebracht. Linder interpretiert ihren eigenen
Körper als „found object“ und thematisiert ihren weiblichen Blick auf
diesen konstant. Den direkten Blick auf ihre Collagen verdecken dagegen
Lycra-Vorhänge, wie sie zum Standarddesign in britischen Einfamilienhäusern
der Sechziger gehörten.
Dieses Spiel aus Entblößung und Verdeckung verknüpft Linder auf radikale
Weise. Sich selbst inszeniert die Künstlerin in einer Fotografie des
Modefotografen Tim Walker als miedergepanzerte Hausfrau, die den Rasen
eines Reihenhauses staubsaugt („Oh Grateful Colors, bright Looks II“ 2009).
Stärker wirken ihre Collagen, in denen sie Gesichter von Pornodarstellern
mit riesigen Augen und Mündern verfremdet. Den aufgetunten Pornokörpern von
heute setzt Linder noch mehr Food Design entgegen, platziert noch größere
Tortenstücke im Intimbereich. Aber sie sagt auch, dass sie Abbildungen aus
den siebziger Jahren bevorzugt.
Damals zierten Linders Fotomontagen Plattencover britischer Punkbands (etwa
„Orgasm Addict“ von den Buzzcocks, erschienen 1977). Ende der Siebziger
gründete Linder in Manchester selbst die New-Wave-Band Ludus,
veröffentlichte Platten und nutzte Konzerte als Raum für feministische
Performances. In Paris ist ein Video vom Abschiedskonzert der Band in der
Manchester Hacienda 1982 zu sehen: Linder schmückt ihren nackten Körper mit
Hähnchenschenkeln und Dildos.
## Fernbedienung und Heizungsschalter
Hinter dem Eyecatcher stecken Details, etwa bei einem Paar aus einem
Pornomagazin („Sans titre“, 1978). Beide fassen den jeweils anderen an die
Weichteile. Linder hat sie vor einem farbigen Edelholzschrankwand in ein
Wohnzimmer platziert. Hände fingern an Fernbedienung (Penis) und
Heizungsschalter (Vulva). Tragbare Fernseher ersetzen die Köpfe.
Pferderennen laufen in den TV-Geräten. Linders Kunst reflektiert immer auch
ihre Medialität, ist eine fundamentale Kritik an der Repräsentation des
Weiblichen und ihrer Reduzierung zum Lustobjekt.
In seiner Schrift „Die Kunst des Schreckens“ behauptet der französische
Philosoph Paul Virilio, zeitgenössische Kunst könne den Vorwurf ihrer
Sinnlosigkeit nie völlig entkräften. Dagegen steht schon die große
Errungenschaft von Punk, der, wenn auch nur für kurze Zeit, seine
Sinnlosigkeit zu etwas Unvergesslichem transformierte. Punk war auch eine
Antwort auf die Wirtschaftsmisere in Großbritannien und die Verelendung der
Städte. Vollständig sei sie erst im Juni 1976 auf die Welt gekommen,
erzählt Linder. Punk habe ihr damals ein neues Zuhause gegeben und
psychische Robustheit.
In Vitrinen sind Grafiken und Collagen zu sehen, die Linder für
Punkfanzines gestaltete, und Fotografien, die sie von Morrissey angefertigt
hat, der so wie sie durch Punk erst den Sinn im Leben entdeckte und mit dem
sie eine lange Freundschaft verbindet.
## Bis 21. April, Musée dArt Moderne de la Ville de Paris. Katalog 24 Euro
(im Juni eröffnet in der Kestnergesellschaft Hannover eine
Linder-Ausstellung)
2 Apr 2013
## AUTOREN
Julian Weber
Julian Weber
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