# taz.de -- Ausstellung „Un art de la guerre“: Lichtgestalt und Scheusal | |
> Guy Debord war Autor, Filmemacher, Revolutionär und Mitbegründer der | |
> Situationistischen Internationale. Interviews und offene Briefe gab es | |
> nicht. | |
Bild: Debords Werk „Depassement de l'Art“. Fotos von ihm gab es nur selten. | |
PARIS taz | Dass Guy Debord der 60.000 Quadratmeter große Monumentalbau der | |
neuen Bibliothèque Nationale de France (BnF) mit seinen vier Türmen | |
gefallen hätte, ist unwahrscheinlich. | |
Denn Debord, der den Krieg gegen die Gesellschaft als Kunst begriffen hat, | |
als strategisches Spiel, hatte trotz avantgardistischer Vorstellungen von | |
einem neuen Urbanismus eine melancholische Ader für das alte Paris, eine | |
Stadt, „die damals so schön war, dass viele Leute es vorzogen, dort lieber | |
arm zu sein als irgendwo anders reich“. | |
Hier, im 13. Arrondissement, wo man seit den 1990er Jahren auf einer der | |
größten Baustellen Frankreichs ein ganzes Viertel aus Depots, | |
Industriebrachen und Fernfahrerkneipen, die sich entlang der Seine | |
aneinanderreihten, einstampfte, um das neue „Paris Rive Gauche“ zu bauen, | |
hält zwischen Glas und Beton die totale Tristesse Einkehr. | |
Ein Viertel, in dem man nicht leben und nicht arbeiten möchte, weit | |
entfernt von dem, was sich die Situationistische Internationale (SI) in | |
ihrem „Formular für einen neuen Urbanismus“ 1958 stadtutopisch ersann, | |
nämlich dass es „Räume geben soll, die einen besser träumen lassen als | |
Drogen, und Häuser, in denen man nur lieben kann“. | |
## Nationales Kulturgut | |
Einst in den Kneipen des linken Seineufers ein Umherschweifender und | |
Albtraum des französischen Staates, ist Guy Debord nun, 19 Jahre nach | |
seinem Freitod, in einem anderen Rive Gauche angekommen: in der Ausstellung | |
„Guy Debord. Un art de la guerre“, die die Nationalbibliothek, begleitet | |
von einem umfangreichen Katalog, ihm zu Ehren ausrichtet. | |
Die BnF hat 2009 das Archiv Guy Debords, der 1957 die Situationistische | |
Internationale als Zusammenschluss von Künstlern, Theoretikern und | |
Politaktivisten gegründet und sie 1972 aufgelöst hat, für etwa drei | |
Millionen Euro von seiner Frau Alice Debord erworben, nachdem auch die Yale | |
University Interesse gezeigt hatte. Die damalige Kulturministerin Christine | |
Albanel erklärte auf Drängen des Bibliotheksdirektors Bruno Racine den | |
Nachlass Debords zum „nationalen Kulturgut“. | |
Das ist erstaunlich, noch niemals geschah das mit einem französischen | |
Autor, dessen Tod erst 15 Jahre zurücklag. Und noch erstaunlicher ist es, | |
weil Debord noch heute als Unruhestifter und Revolutionär gilt. Von der | |
französischen Presse wurde er 1984 sogar der Mittäterschaft an der | |
Ermordung seines Freundes und Verlegers Gérard Lebovici beschuldigt. | |
Damals hätte niemand gedacht, dass ihm einmal die Ehre widerfahren würde, | |
vom Establishment zum Nationalheiligen ernannt zu werden. Damit wird die | |
Geheimgeschichte zur offiziellen Geschichte. Das könnte man nun tragisch | |
finden. Man kann darin aber auch – in Analogie zu de Gaulles Ausspruch | |
„Sartre erschießt man nicht“ – schlicht den Durst der französischen | |
Wissensgesellschaft nach intellektuellen Führerpersönlichkeiten sehen. | |
## Die totale Verweigerung | |
Und so zeigt das erste Bild der Ausstellung den noch jungen Debord, der der | |
Gesellschaft nichts anbieten wollte als seine Verachtung, mit einem Messer | |
in der Hand. Sein strategisches Spiel verstand er als Haltung totaler | |
Verweigerung, wie sie die Lettristen in den 50er Jahren einnahmen, die | |
enfants perdus, die sie in der Nachkriegszeit auch waren, aber auch im | |
militärischen Sinn als „leichte Brigade“, die sich im Kampf gegen die | |
Gesellschaft aufreibt wie eine Kavallerie, die vom Kugelhagel niedergemäht | |
wird. | |
Ein Bild, das Debord später gern aufgreift, um die Attacken, taktischen | |
Rückzüge und den Kampf ums Ganze im Mai 68 zu illustrieren. Von diesem | |
ruhmbegründenden Höhepunkt aus begibt sich Debord zurück zu seinen Wurzeln. | |
Er weigert sich, zu einem der vielen kritischen Intellektuellen zu werden, | |
die der Mai 68 an die Oberfläche gespült hat, und entwickelt mit seiner | |
zweiten Frau Alice Becker-Ho das auch in der Pariser Ausstellung zu sehende | |
„Jeu de la guerre“, ein strategisches Kriegsspiel, beeinflusst von | |
Clausewitz und Sun Tse, von dem Debord fünf Exemplare anfertigen ließ und | |
in dem es darauf ankommt, den Gegner zu vernichten. | |
Die Kuratoren Emmanuel Guy und Laurence Le Bras haben diesen Kreislauf gut | |
in Szene gesetzt. Im Zentrum jedoch stehen Debords Exzerpte, Hunderte | |
Notizzettel hinter Plexiglasscheiben, die eine Passage in die | |
Ausstellungsräume bilden. Sie dokumentieren Debords Lektüren: darunter | |
Marx, Mannheim, Chateaubriand, aber auch Strategen wie Machiavelli und | |
Cäsar. | |
## Verlorene Jugend | |
Hinter dieser Passage, die die Vorarbeiten zur „Gesellschaft des | |
Spektakels“ (1967) zeigen, Debords Hauptwerk, das zahlreiche Übersetzungen | |
in viele Sprachen erlebte, eine ganze Generation beeinflusst hat und laut | |
Liberation in Frankreich das meistgelesene Buch der letzten 30 Jahre ist, | |
zeigt die Ausstellung, chronologisch und nach Epochen geordnet, Briefe, | |
Zeitschriften der SI und aus dem prosituationistischen Milieu, Plakate, | |
seine fünf Filme, die von 1952 bis 1978 entstanden, sowie Stadtpläne von | |
Paris, auf denen er die Stadt in Stimmungseinheiten gliederte. | |
Bislang unveröffentlichte Fotos von Ed van der Elsken, von dem die wenigen | |
Bilddokumente aus der frühen Phase der Lettristischen Internationale | |
stammen, geben einen Eindruck von den Gelagen und Konferenzen, auf denen | |
man die Subversion zum Beruf erklärte. | |
Darunter Fotos aus dem Café Moineau, dem damaligen Hauptquartier der | |
Tagediebe, Nachtschwärmer und Künstler, die sich einig waren, niemals ein | |
Kunstwerk zu hinterlassen, und stattdessen einen Hang zu melodramatischen | |
Auftritten hatten. | |
Debord liebte dieses Milieu, und er verklärte es in seinen Erinnerungen auf | |
liebevolle Weise: „Zwischen der Rue du Four und der Rue de Bucci ging | |
unsere Jugend so unwiederbringlich verloren, als wir einige Gläser tranken | |
und es gewiss war, dass wir niemals etwas Besseres tun würden.“ Was ihn | |
nicht davon abhielt, die Weggefährten auf Notizzetteln, die ebenfalls | |
ausgestellt sind, in ein Kategoriensystem zu sortieren, das zwischen | |
nützlich und unnütz, sprich: Idioten, unterschied. | |
## Übermalte Collagen | |
Die Ausstellung zeigt auch einiges von Debords schmalem künstlerischem | |
Werk, meist übermalte Collagen mit entwendeten Zitaten, die in Kooperation | |
mit dem dänischen Künstler Asger Jorn entstanden, wie „Fin de Copenhague“ | |
oder die „Mémoires“. | |
Jorn war in der Anfangsphase der SI der Motor der kleinen Gruppe. Als einer | |
der wenigen damals schon bekannten Künstler finanzierte er die Zeitschrift | |
der Situationistischen Internationalen, deren Herkunft man aufgrund ihrer | |
Ästhetik nicht in linksradikalen Kreisen vermuten würde. | |
1962 verengte sich auf Betreiben Debords die SI zu einer politischen | |
Organisation, nachdem fast alle Maler und Architekten ausgeschlossen | |
wurden. Exemplarisch zeigt das in der Ausstellung ein Foto aus dem Jahr | |
1963, in dem drei Frauen auf Porträts des Papstes, Adenauers und de Gaulles | |
schießen. | |
Es ist übermalt mit der Direktive „Überwindung der Kunst. Realisation der | |
Philosophie“. Debord näherte sich für kurze Zeit der rätemarxistischen | |
Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ an, er diskutierte mit Henri Lefebvre die | |
Kritik des Alltagslebens und intervenierte auf politische Ereignisse. Etwa | |
mit dem berühmten Traktat „Über das Elend im Studentenmilieu“, das 1967 a… | |
eine Art Vorlauf zu 1968 den Skandal von Straßburg auslöste. | |
## Unkomplizierte Sachen | |
All das ist anschaulich dokumentiert, aber es gibt auch spielerische und | |
weniger bekannte Elemente, auf die die Ausstellung aufmerksam macht. So | |
hatte die damalige Frau Debords, Michèle Bernstein, 1960 den kleinen Roman | |
„Tous les chevaux du roi“ geschrieben, eine ironische Version von Laclos’ | |
„Gefährlichen Liebschaften“. | |
Es geht um eine Dreiecksbeziehung mit einem subtilen Porträt Debords als | |
junger Libertin. Geschrieben wurde der Roman angeblich aus Geldgründen, | |
aber auch um mit dem Literaturbetrieb zu spielen, denn als der Roman ein | |
Erfolg wurde, folgte Bernstein einer Einladung Pierre Dumayets in eine | |
TV-Sendung, und in diesem Gespräch kann man eine freundlich lächelnde | |
Bernstein sehen, die den Moderator mit seinen Erwartungen an große | |
Literatur charmant auflaufen lässt: „Es geht im Roman um fünf oder sechs | |
Personen, sie machen ein paar unkomplizierte Sachen, die zu erzählen zu | |
kompliziert wäre.“ | |
Weggefährten erzählen noch heute, dass dieser Auftritt mit Debord bis ins | |
Detail geplant war. In Deutschland ist Debord nur als der Theoretiker der | |
„Gesellschaft des Spektakels“ bekannt, eines in Paragrafen gegliederten | |
Werks, das in Anlehnung an Hegel und Lukács die auf dem Warenverkehr | |
beruhende Vergesellschaftung analysiert. | |
Das ist schade. Denn erst im Blick auf sein Gesamtwerk eröffnet sich das | |
ganze Panorama einer Figur, die sich selbst als Kunstwerk inszenierte. Als | |
er die SI 1972 aufgelöst hatte, näherte er sich 1978 mit seinem Film „In | |
girum imus nocte et consumimur igni“ („Wir irren des Nachts im Kreis umher | |
und werden vom Feuer verzehrt“), Vermächtnis und Rückschau auf sein Leben, | |
wieder seinen Anfängen. Er schreibt mit „Panegyrikus“ (1989) eine sehr | |
poetische Autobiografie, die vielen als sein bestes Buch gilt. | |
## Keine Beteiligung am „Spektakel“ | |
Debord hat paradoxerweise auf sein Nachleben hingearbeitet, indem er jede | |
Beteiligung am „Spektakel“ ablehnte. Er gab niemals ein Interview, | |
unterschrieb keine offenen Briefe. Das brachte ihm die Bewunderung | |
zahlreicher Intellektueller ein, die das genaue Gegenteil von ihm waren. | |
Er inszenierte sich schon zu Lebzeiten als Mythos, und als er am 30. | |
November 1994 nach einer durch Alkohol hervorgerufenen Polyneuritis mit | |
einem Schuss ins Herz seinem Leben ein Ende bereitete, hatte er noch dafür | |
gesorgt, dass ein Film über ihn, bei dem er die Regie führte, im | |
französischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. | |
In Paris schießen die Gerüchte um Debord ins Kraut, und jeder in diesem | |
Milieu hat Geschichten parat, die Debord als Fürsten der Finsternis zeigen, | |
als Drahtzieher, als Intriganten, der seine Epigonen manipulierte, als | |
jähzornigen Mann, als einen, der sich André Bretons Haltung angewöhnt | |
hatte, der zufolge es Gruppenmitglieder gab, damit man sie ausschließen | |
konnte, aber auch als großen Kommunikator mit einer faszinierenden | |
Ausstrahlung und als großen Trinker. | |
Debord hat dies nie verheimlicht, sondern dem Trinken ein schönes Kapitel | |
in „Panegyrikus“ gewidmet, eine Huldigung an den Rausch und die | |
Volltrunkenheit als „herrlicher, schrecklicher Frieden, das wahre Genießen | |
der vergehenden Zeit“. Doch diese Geschichten erzählt die sehr informative | |
und lohnende Ausstellung nur im Subtext. | |
## Seine Kritik wird zur Medientheorie | |
Denn im „tresor national“ ist Debord weggesperrt als Mythos, als einer, der | |
keine Schüler wollte, wie der Kurator Emmanuel Guy betont, und dennoch | |
großen Einfluss auf nachfolgende Generationen von Theoretikern ausübte. Die | |
jedoch verkürzten seine Kritik an der Totalität der kapitalistischen | |
Nachkriegsgesellschaft häufig auf eine Medientheorie. | |
Nun können sich Generationen von Studenten daranmachen, Debords Exzerpte | |
auszuwerten. Angesichts solcher Mühsal hätte Debord wohl noch einmal daran | |
erinnert, dass man viel, unendlich viel getrunken haben muss, um etwas | |
wirklich Gutes aufs Papier zu bringen. | |
## Bibliothèque Nationale de France, bis 13. Juli, Katalog 39 Euro | |
19 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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