Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Die Hartztpraxis
> Ein skrupelloser Berliner Arzt kassiert mit Hartz-IV-Attesten mächtig ab.
> Die Krankheiten gibt es praktischerweise gleich dazu.
Bild: Finanziell lohnt sich das Konzept für Dr. Schlehenwein. Vor allem, weil …
Bezieher von Hartz-IV sind nach der jüngsten Kritik wegen zu häufiger
Krankschreibungen wieder im Fokus der Öffentlichkeit angelangt. Von Seiten
der Arbeitsagentur heißt es, man wolle dies nun stärker prüfen, notfalls
mit Hilfe des medizinischen Dienstes der Krankenkassen und Besuchen zu
Hause. Sollte geschwindelt werden, gibt es Kürzungen der Bezüge.
Eine unangenehme Drohkulisse für Berufskranke und sonstiges arbeitsscheues
Gesindel. Doch auch dafür gibt es wirksame und schnelle Abhilfe. Wir haben
es in der Praxis ausprobiert und dazu einen extrem attestierwilligen Arzt
besucht.
Schon seit geraumer Zeit ist der Berliner Allgemeinarzt Dr. med. Peter
Schlehenwein auf Arge-konforme Krankschreibungen spezialisiert. Nun hat er
seinen Service spontan erweitert – um Krankschreibungen inklusive
Krankheit. „Wir sind sozusagen die erste Hartztpraxis am Ort!“, freut sich
Dr. Schlehenwein und bittet uns in seine ambulante Durchgangsstation für
Krankheitslose und Krankheitssuchende.
„Kommen Sie nur herein, ich zeige Ihnen unseren Workflow. Alles
höchsteffizient!“ Die Hartzler stehen schön artig in Reih und Glied und
füllen am Tresen Fragebögen aus. „Hier können unsere Kunden ihre
Wunschkrankheit und die beabsichtigte Dauer der Krankschreibung eintragen –
wir schauen dann, was wir tun können.“
Es geht weiter ins Behandlungszimmer. Es sieht auf den ersten Blick aus wie
in einer ganz normalen Arztpraxis, jedoch ist es erstaunlich unhygienisch.
Schlehenwein bemerkt unser Stirnrunzeln: „Das gehört zum Konzept. Die
Krankheiten kommen schließlich nicht von ungefähr. Schauen Sie mal hier!“
Er öffnet eine Schublade und nimmt einen in mehrere Fächer unterteilten
Kasten heraus. Darin stapeln sich Zungenspatel, manche schon leicht
grünlich oder dunkelbraun verfärbt. Schlehenwein schnappt sich einen.
„Das hier ist einer der ganz fiesen: H7N9! Vogelgrippe kommt ja immer mehr
in Mode. Hab ich extra aus China einfliegen lassen.“ Wir sind geschockt.
Doch Herr Doktor bekräftig: „Da kann das Amt dann wirklich nicht mehr
meckern. Ich hab aber auch ganz klassische Krankheiten auf Lager:
Scharlach, Grippe, Mumps, Noroviren, was immer Sie wollen!“
Finanziell lohnt sich das Konzept für Dr. Schlehenwein. Die Krankheiten
gibt es umsonst und für jede nachfolgende Behandlung kassiert er bei den
Krankenkassen ab. „Man muss auch manchmal Bedürfnisse wecken als
Dienstleister“, zwinkert er uns zu. Die Idee habe er sich kurzerhand von
seiner kleinen Tochter abgeschaut. Wir sehen ihn verwundert an.
„Aus der Kita! Lena-Sophie hat immer an den Schnabeltassen der anderen
rumgenuckelt und jedes angebissene Brötchen in sich reingemampft. Was die
alles an Krankheiten mit nach Hause geschleppt hat!“ Erst sei er wütend
gewesen, aber dann habe er das Potenzial von Kinderkrankheiten entdeckt,
erklärt Dr. Schlehenwein. „Sie wissen ja gar nicht, wie viele Arbeitslose
nicht geimpft sind!“
Wie er so etwas mit seinem hippokratischen Eid vereinbaren könne, fragen
wir den Mediziner. „Ja, wissen Sie denn nicht, wie wir den seit der letzten
Gesundheitsreform nennen?“ Wir sehen uns fragend um. „Der hypothetische
Eid!“ Dr. Schlehenwein bricht in schallendes Gelächter aus. Er geht zum
Arzneischrank, holt ein Bündel benutzter Spritzen heraus und breitet sie
auf dem Tisch aus. „Es kommt gleich eine Großfamilie, die haben mein
Überraschungsspezialpaket gebucht, und es soll natürlich alles
professionell aussehen“, erklärt Dr. Schlehenwein.
Da klopft es an der Tür, eine Schwester steckt den Kopf herein. „Herr
Doktor, die Leute stehen schon bis auf die Straße, wir müssen so langsam
anfangen!“ Schlehenwein nickt. „Ja, Herrschaften, dann sind wir soweit
durch. Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Wir überlegen kurz und nehmen zum
Abschied eine Prise Grippe und zwei Wochen Freizeit auf Rezept mit.
17 Apr 2013
## AUTOREN
Michael Gückel
Michael Gückel
## TAGS
Arbeitslosigkeit
Hartz IV
Gesundheitspolitik
Ärzte
Arzt
Musik
Edward Snowden
Schwerpunkt Meta
Jugendamt
Arbeit
Jobcenter
Hartz IV
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Christlicher Kamillenmetal
Der Blick auf die Bühne zeigt nur eines – gemächlich Kabel abrollende
Tontechniker. Eine Stunde später steht die jungfräuliche Schießbude.
Die Wahrheit: Angela, die Schläferin
Alle Geheimdienste der Welt suchen Edward Snowden. Der Wahrheit stellt sich
die Plaudertasche für ein Exklusivinterview.
Hartz IV-Bezieher in sozialen Netzwerken: Der Arbeitsagentur gefällt das
Schnüffeln Jobcenter in Facebook herum? Die Arbeitsagentur sagt, das
passiert nicht, fragt aber den Datenschutzbeauftragten, ob's doch ginge.
Die Wahrheit: Ans Jugendamt
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit-Seite. Heute darf sich die
Leserschaft an einem Poem über das „Familienglück“ vor dem Frühstück
erfreuen.
Die Wahrheit: Tote Tätigkeiten
„Die Wahrheit“ präsentiert die Top Ten der schönsten ausgestorbenen Berufe
aller Zeiten.
Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger: Über eine Million Strafen verhängt
Die Arbeitsagenturen haben im letzten Jahr 1,025 Millionen Sanktionen gegen
Arbeitslose ausgesprochen. Der Höchstwert geht auf gestiegene
Meldeversäumnisse zurück.
Atteste von Hartz-IV-Empfängern: Jobcenter trauen Ärzten nicht
Die Jobcenter wollen anscheinend den Zugriff auf ihre Kunden verschärfen.
Nach Medienberichten ist eine genauere Prüfung von Krankschreibungen
geplant.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.