# taz.de -- Theater mit Zeitzeugen der Shoah: Ein Jahr Holocaust | |
> Schüler und Überlebende des Nazi-Regimes proben gemeinsam für ein | |
> Bühnenstück. Kann das im Land der Täter funktionieren? | |
Bild: Helmut Scholz beschreibt Schülern, was er unter im NS erlebt hat. | |
KÖLN taz | Anna ist ein wenig nervös. Sie kommt nur zaghaft auf die Bühne. | |
In der rechten Hand hält sie ein kleines Heft. Tamar ist energischer. Mit | |
festem Schritt geht sie an Anna vorbei, rückt den Stuhl zurecht und setzt | |
sich frontal vor sie. Anna steht mit dem Rücken zum Publikum. | |
Leise, aber deutlich liest sie aus dem Heft vor: „Ich möchte meiner Mutter | |
danken. Eines Tages kamen Nazis und ihre Helfer auf den Bauernhof, auf dem | |
wir uns versteckt hatten. Sie wussten, dass wir Jüdinnen waren und wollten | |
uns holen. Meine Mutter kroch mit mir in die Hundehütte. Tigris, ein großer | |
aggressiver Hund, kläffte jeden an, der sich der Hütte näherte. Er fraß | |
erst, wenn wir aus dem Napf gegessen hatten. Drei Tage lang beschützte er | |
uns, danach gingen die Männer wieder.“ | |
Die Zuhörer, für einen Augenblick fassungslos, klatschen. Tamar, das | |
Mädchen aus der Hundehütte, die damals, 1941, drei Jahre alt war, hält auch | |
kurz inne, dann rollt sie mit den Augen: „Respekt“, sagt sie, „genauso war | |
es.“ | |
Die 75-jährige Jüdin aus Vilnius in Litauen und die 16-jährige Anna Güsgen | |
vom Leibniz-Gymnasium Dormagen gehören zum Zeitzeugen-Theater. So wie acht | |
weitere Holocaust-Überlebende und acht andere Jugendliche auch. | |
## Der nette Kommandant | |
Ein Jahr lang werden sie sich jeden Dienstag nach der Schule in dem | |
schlichten weißen Raum im Jüdischen Begegnungszentrum Köln-Chorweiler | |
treffen. Im Frühjahr 2014 stehen alle auf der Bühne des Leibniz-Gymnasiums. | |
Anna als Tamar Dreifuss, Christian Schwinge (16) wird den Kölner Helmut | |
Scholz (88) darstellen, dessen Freundschaft zu einem Lagerkommandanten | |
(„ein netter Kerl“) sein Glück im Unglück war. | |
Regine Müller (15) dankt einer schwedischen Schriftstellerin, die der Oma | |
von Peter Finkelgrün (72) in Auschwitz das Leben gerettet hat. Auch meine | |
Tochter Delia (16) ist dabei. Ihr „Partner“ ist Harry Dreifuss (78), der | |
Mann von Tamar. Seine Eltern konnten 1935 gerade noch rechtzeitig von | |
Deutschland nach Palästina flüchten. | |
Zeitzeugen erzählen, Schüler spielen. Dies ist das Prinzip eines | |
deutschlandweit einmaligen Projekts des Bundesverbandes für NS-Verfolgte. | |
Die Idee stammt aus Israel. Dort funktioniert es. In einem Film über eins | |
der Oral-History-Projekte umarmen sich Überlebende und Darsteller. Einer | |
der Zeitzeugen sagte: „Ich habe nach 70 Jahren meine Kindheit | |
wiederbekommen.“ | |
## Treffen im Land der Täter | |
Doch während in Israel Opfer auf ihre Nachfahren treffen, ist Deutschland | |
das Land der Täter. Kann das gut gehen? Nach dem Film „Unsere Mütter, | |
unsere Väter“ sagte meine Tochter etwas, was mich daran erinnerte, wie ich | |
als 14-Jähriger auf die Serie „Holocaust“ im Fernsehen reagiert hatte: | |
„Wenn ich das sehe, habe ich als Deutsche ein schlechtes Gewissen.“ | |
Auf das Leibniz-Gymnasium stieß die Leiterin des Projekts, die | |
Theater-Schauspielerin Barbara Schwarz, durch die Theaterpädagogin der | |
Schule. Neun Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 und 16 Jahren haben | |
sich gemeldet, ein Jahr lang verbringen sie einen Teil ihrer Freizeit mit | |
neun Überlebenden des Holocaust. | |
Ihre Schüler hören Menschen aufmerksam zu, die teilweise zum ersten Mal | |
über ihre Erlebnisse in Deutschland und Europa während der Nazi-Zeit | |
sprechen. So wie Kelia Mozel (75) und Esther Blyumenfeld (78). Die beiden | |
Ukrainerinnen haben noch keine Worte gefunden für das, was ihnen als Kind | |
widerfahren ist. Kelia ist halbseitig gelähmt und hat große Probleme mit | |
der deutschen Sprache. | |
## Sie wollte immer essen | |
Sie erinnert sich, dass sie als zweijähriges Mädchen immer „essen“ wollte, | |
manchmal fließen Tränen über ihre Wangen. Blyumenfeld kündigt bei jedem | |
Treffen an, beim nächsten Mal keine Zeit zu haben. Dann ist sie doch wieder | |
da, „weil ich die Jugendlichen so nett finde“. Und umgekehrt. | |
Während sich Schüler und Überlebende unterhalten, denke ich an Irene Dahl. | |
Sie war Jüdin. 1941 wurde sie von Düsseldorf nach Riga in Lettland | |
deportiert. Eines Tages erkundigte sie sich im KZ nach ihrer Mutter, die | |
wegen einer Erkältung ins Lager-Krankenhaus gebracht worden war. „Wo deine | |
Mutter ist?“ Der KZ-Aufseher zeigte auf den Schornstein: „Da ist deine | |
Mutter.“ | |
Irene Dahl wollte nach dem Krieg nur weg aus Deutschland, traf dann aber | |
ihren Mann, heiratete und führte mit ihm über 50 Jahre eine Metzgerei in | |
Dormagen. Auf einem VHS-Seminar über das Judentum traf ich sie Anfang der | |
90er Jahre, sie vertraute mir später ihr Tagebuch an. Sie ist die einzige | |
Holocaust-Überlebende, die ich jemals näher kennen gelernt habe. | |
„Wir schauen das Leben an“, sagt Barbara Schwarz über das von ihr geleitete | |
Pilotprojekt. „Wer weiß, ob es die Gelegenheit jemals wieder gibt.“ Rund | |
40.000 Euro stellt der Bundesverband für NS-Verfolgte über Stiftungen zur | |
Verfügung. Schwarz würde am liebsten jedes Treffen filmen. „Jeden Dienstag | |
passieren Dinge, die man festhalten müsste.“ | |
Sätze von Zeitzeugen wie Helmut Scholz: „Wir waren in Situationen, die so | |
aussahen: „Überlebe ich den nächsten Tag? Die nächste Woche? Alles war | |
unsicher. Heute ist alles überschaubar.“ Sätze von SchülerInnen wie Regine: | |
„Was ich schön fand, war das Zwiegespräch mit Kelia. Sie hat ihr Kind so | |
genannt wie das Kind der Frau, die ihr das Leben gerettet hat. Ihr kamen | |
die Tränen, als sie das erzählte, dann habe ich alles um mich herum | |
vergessen.“ | |
## Überlebende versendet? | |
Schwarz muss Vertrauen schaffen, unterbrechen, erzählen lassen, bei Laune | |
halten. Ein Jahr lang. Ein Jahr Holocaust. Ist das nicht zu viel? Hat der | |
Fernsehhistoriker Guido Knopp nicht schon alle Überlebenden versendet? | |
Barbara Schwarz sagt: „Nein! Diese direkte Begegnung, die gab es so noch | |
nie in Deutschland.“ Geschichtsunterricht sei das eine, aber | |
„Geschichtensucher“ zu sein, jemanden fragen zu dürfen, wie man sich fühl… | |
zu Hunderten in einem Viehwaggon eingesperrt zu sein und in den sicheren | |
Tod zu fahren, das sei ein anderes Kaliber. | |
Und dies zu spielen, die Angst, die gewaltsame Trennung, den Moment der | |
Rettung oder des Verrats, in das Leben der Betroffenen einzutauchen, die um | |
ein Haar getötet wurden, erst recht. Eine große Aufgabe. Zu groß? | |
Meine Tochter Delia hatte anfangs „enormen Respekt “. Sie fragte sich, wie | |
sie auf die Schicksale regieren würden und wie die alten Menschen auf sie. | |
Geschichte mit Körper, Geist und Seele zu erleben, kann auch zu | |
Seelenschmerzen führen. Damit es auf beiden Seiten nicht zu | |
„psychologischer Überforderung“ kommt, begleitet eine Psychologin das | |
Projekt. Christian Schwinge versteht nicht ganz, warum: „Was heißt | |
psychische Überforderung? Wir spielen das Grauen nur, für diese Menschen | |
war es Realität.“ | |
## Dank an die Jungen | |
Harry Dreifuss, der Deutscher war, Palästinenser, Israeli und wieder | |
Deutscher wurde, sagt: „Wenn es lustig ist, lachen wir. Wenn es nicht | |
lustig ist, lachen wir nicht.“ Sie lachen viel. Und sie reden viel. Während | |
ich, die zweite Generation, in meiner Kindheit auf großes Schweigen stieß, | |
scheint die Sprachlosigkeit hier, in der dritten Generation, überwunden. | |
Alle finden, dass sich der Weg zu den Proben lohnt, auch wenn er für manche | |
beschwerlich ist, wie für Helmut Scholz, der sich nur mit einem Rollator | |
fortbewegen kann. Wegen der „Hilfe bei der Überwindung von Kriegstraumata“, | |
der „generationenübergreifenden Kontakte“, der „politischen Bildung“. … | |
allem aber aus einem Grund, sagt Helmut Scholz: „Weil uns endlich jemand | |
zuhört. Nach 1945 interessierte sich niemand für unsere Geschichten. Dank | |
an die jüngere Generation.“ | |
19 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Frank Gerstenberg | |
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