# taz.de -- Debatte Kriegsaufarbeitung: Das Trauma der Linken | |
> Natürlich hatten auch Linke in anderen Ländern antiliberale Tendenzen | |
> inne. Aber die deutsche Bewegung wusste, wohin der Gewaltkult führen | |
> konnte. | |
Bild: Die Befreiung des entführten Air-France-Passagiere 1976. Entebbe war in … | |
Als Amerikanerin, Jüdin, Linke und Journalistin bin ich fasziniert – und | |
manchmal auch beeindruckt, irritiert oder abgestoßen – von der Art, wie | |
Deutsche versuchen, mit der Vernichtung der Juden durch die Nazis | |
fertigzuwerden. Mir ist in den Monaten, seitdem ich in Berlin lebe, immer | |
klarer geworden, dass die deutsche Beziehung zur „jüdischen Frage“ (die | |
einige die „deutsche Frage“ nennen) untrennbar mit der Geschichte und | |
Praxis der deutschen Linken verbunden ist. | |
Anlässlich des Buchs von Wolfgang Kraushaar „Wann endlich beginnt bei Euch | |
der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ ist die Debatte über linken | |
Antisemitismus wiederaufgeflammt. Ein faszinierender Vorläufer seines | |
Bandes ist „Utopia or Auschwitz: Germany’s 1968 Generation and the | |
Holocaust“ von Hans Kundnani (320 Seiten, Hurst & Company, London 2009). | |
Der britische Journalist untersucht darin die Beziehung der neuen Linken | |
(also der in den 60er Jahren neu entstandenen Bewegungen) in Deutschland | |
zum Holocaust. Kundnani argumentiert überzeugend, dass diese Beziehung der | |
Grund für die immer obsessiveren Attacken auf Israel und die Wendung zum | |
Terror war. | |
Die französische neue Linke ließ sich vom Heroismus der Résistance | |
inspirieren, die deutsche sah sich von den Bildern der Gaskammern verfolgt. | |
Sie glaubte, die Alternative bestünde für Deutschland entweder in der | |
Schaffung einer Utopie oder einem neuen Auschwitz. „Während junge Leute in | |
anderen Ländern von dem Traum, eine bessere Gesellschaft zu schaffen, | |
angetrieben wurden, war ihr Antriebsmotor in Deutschland ein Alptraum“, | |
schreibt Kundnani. | |
## Deutscher Faschismus ist eine Kapitalismusvariante | |
Auf Max Horkheimers berühmtes Zitat: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden | |
will, soll auch vom Faschismus schweigen“, stürzten sich die studentischen | |
Aktivisten mit Enthusiasmus. Es erlaubte ihnen, den entscheidenden | |
Unterschied zum Nationalsozialismus, den Völkermord, in ihrer Analyse zu | |
umgehen und den deutschen Faschismus zu einer bloßen Variante des | |
Kapitalismus zu erklären. | |
„Obwohl Auschwitz seinen festen Platz in der Rhetorik der Studentenbewegung | |
hatte, tendierten die Aktivisten auf einer tieferen Ebene dazu, den | |
Holocaust zu einem Nebengeschehen zu erklären“, so Kundnani. | |
Aus Bequemlichkeit ignorierte die neue Linke Horkheimers anderes Diktum: | |
„Wer Antisemitismus erklären will, muss den Nationalsozialismus meinen.“ | |
Als die Studentenbewegung immer autoritärere Züge annahm – als sie | |
Professoren attackierte, die Freiheit der Rede unterdrückte, die Justiz | |
verhöhnte –, wurde ihr Bruch mit den Theoretikern der Frankfurter Schule | |
deutlich. | |
Natürlich hatten die Bewegungen in anderen Ländern dieselben antiliberalen | |
Tendenzen inne. Aber Deutschland war auch hier besonders: Die deutsche | |
Bewegung wusste – oder hätte zumindest wissen sollen –, wohin politische | |
Einschüchterung und ein Kult der Gewalt führen konnten. | |
## Der Sechstagekrieg und die Linke | |
Der amerikanische Historiker Moishe Postone hat über die deutsche neue | |
Linke geschrieben: „Keine westliche Linke war vor 1967 so philosemitisch | |
und prozionistisch. Danach identifizierte sich keine so stark mit der | |
palästinensischen Sache.“ | |
Der israelische Sieg im Sechstagekrieg und die folgende Besetzung der | |
Palästinensergebiete, verbunden mit der gleichzeitigen Abwendung der Linken | |
von der einheimischen Arbeiterklasse und der Hinwendung zu den „Verdammten | |
dieser Erde“, schuf dafür die perfekten – um genau zu sein: die fatal | |
perfekten – Voraussetzungen. | |
„Was Antizionismus genannt wurde, war in Wirklichkeit so emotional und | |
psychisch aufgeladen, dass es die Grenzen einer politischen und sozialen | |
Kritik des Zionismus sprengte“, so Postone. | |
Eine kleine, wenn auch einflussreiche Minderheit von Aktivisten nahm an | |
militärischen Trainingcamps der Palästinenser teil und griff jüdische und | |
israelische Ziele mit Bomben und Brandsätzen an. Die verbale Kritik an der | |
Besatzung der Palästinensergebiete – die meines Erachtens grundsätzlich | |
berechtigt ist – durch die deutsche Linke nahm ein weitaus größeres Ausmaß | |
an. Sie schmähte Israel mit wachsender Wut als faschistisch. | |
## Die Beschäftigung mit Israel – eine Entlastungsfunktion | |
Die Beschäftigung mit Israel hatte, wie es der Historiker Dan Diner nennt, | |
eine Entlastungsfunktion: Sie war ein Versuch, die Einzigartigkeit der | |
NS-Verbrechen bestreiten zu können, indem man die Politik der Nazis auf | |
ihre früheren Opfer projizierte. Gleichzeitig bestanden studentische | |
Aktivisten auf einer anderen wirren Projektion. Sie seien die „neuen | |
Juden“. Ich bin mir nicht sicher, ob es dafür ein Wort im Deutschen gibt, | |
aber im Jiddischen würde dies Chuzpe genannt werden. | |
Die schreckliche Konsequenz all dieser Bosheiten war 1976 die Entführung | |
des Air-France-Fluges ins ugandische Entebbe durch Palästinenser und | |
Deutsche, die jüdische und israelische Passagiere für eine mögliche | |
Exekution selektierten – ein hässlicher Widerhall der Selektion von Juden | |
durch die Nazis. Und die Entführer konnten sich nicht einmal darauf | |
berufen, nur Befehle zu befolgen. | |
Entebbe war in gewissem Sinn der Anfang vom Ende. Kundnani schreibt, dass | |
der Schock nach der Entführung eine Neubewertung der Analyse, der Taktik, | |
der Ziele und des Ethos der deutschen neuen Linken auslöste. Und nicht nur | |
der Antisemitismus der deutschen Linken wurde zum Thema. | |
Auch etwas weitaus Verstörenderes kam zum Vorschein: Die Erkenntnis, dass | |
das Ethos der Nazis sich nicht in den Institutionen der Bundesrepublik | |
widerspiegelte, sondern in den Aktivisten. Wie in einer griechischen | |
Tragödie war die größte Angst der jungen Deutschen Realität geworden. Statt | |
sich von der Vorgängergeneration zu befreien, hatten die linken Aktivisten | |
ihre schlimmsten Eigenschaften geerbt. | |
## Die Friedensbewegung der 80er | |
Kundnani sieht die folgenden Ereignisse – die Gründung der Grünen und die | |
Friedensbewegung der 80er Jahre – gleichzeitig als Zurückweisung der | |
deutschen Vergangenheit und ihrer Kontinuität. | |
Auf der einen Seite wandte sich die Friedensbewegung gegen den deutschen | |
Militarismus; auf der anderen Seite war sie äußerst nationalistisch und sah | |
Deutschland als Opfer des amerikanischen Imperialismus. Die | |
Antikriegseinstellung wurde insbesondere in den postjugoslawischen Kriegen | |
der 90er Jahre einer schmerzhaften Prüfung unterzogen. | |
In einem besonders lesenswerten Abschnitt skizziert Kundnani die | |
innergrünen Debatten über Bosnien und Kosovo, in denen die Pazifisten samt | |
ihrer „Nie wieder Krieg“-Haltung mit Leuten wie Daniel Cohn-Bendit | |
aufeinanderprallten, die eine bewaffnete Intervention gegen Slobodan | |
Milosevic unterstützen und mit dem kategorischen Imperativ „Nie wieder | |
Auschwitz“ argumentierten. | |
Beide Seiten argumentierten mit den Lektionen, die das | |
Nachkriegsdeutschland aus dem Holocaust ziehen sollte. In den Monaten, | |
seitdem ich in Berlin bin, fühle ich manchmal eine – niemals explizit | |
gestellte – Frage zum Holocaust von wohlmeinenden Deutschen, die in etwa so | |
geht: Mit all unseren Gedenkstätten, Büchern, Lehrplänen, Gerichtsverfahren | |
und Reparationszahlungen – können wir das mit dem Holocaust nicht in | |
Ordnung bringen? | |
## Unmöglich, die Vergangenheit zu bewältigen | |
Die Frage ist verständlich, aber die Antwort ist dennoch Nein. Völkermord – | |
und dessen unfassbarer, kranker Sadismus – kann niemals in Ordnung gebracht | |
oder vollständig verstanden oder erledigt werden. Adornos Warnung vor der | |
Unmöglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen, sollte noch immer befolgt | |
werden. | |
Die deutsche neue Linke war zu nahe an der Vergangenheit, die sie so | |
verzweifelt verleugnen wollte; sie konnte keine vernünftiges Verhältnis zu | |
den Verbrechen und der Grausamkeit der Nazizeit entwickeln. Auch für jede | |
neue Generation von Nachkriegsdeutschen wird dies ein schwieriges | |
Unterfangen bleiben. Aber es ist ein gutes Zeichen im heutigen Deutschland, | |
dass es andere Alternativen gibt als eine Utopie, die niemals erreicht | |
werden kann, oder Auschwitz, das die unheilbare Wunde bleiben wird. | |
27 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Susie Linfield | |
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