# taz.de -- Euphorie um Twitter: Es braucht Arschlöcher | |
> Hochwasser! Terror! Revolution! Wer die Twitter-Euphorie nicht teilt, hat | |
> den Schuss nicht gehört. Wie bitte? Eine Polemik. | |
Bild: Einfach mal Rumschreien. Ist das Twitter? | |
Es gibt Leute, die können mit Twitter etwas anfangen. Und es gibt Leute, | |
die können das nicht. Vielleicht muss das so sein. Bis zu einem bestimmten | |
Alter werden technologische Errungenschaften, und seien sie auch noch so | |
atemberaubend, mühelos als notwendig oder wenigstens angenehm ins eigene | |
Leben integriert. | |
Ab einem bestimmten Alter ist jede technische Errungenschaft nur noch | |
überflüssig und eine beleidigende Erinnerung daran, dass der Fortschritt | |
durch unser Desinteresse oder unser Unverständnis nicht aufzuhalten sein | |
wird. | |
Unklar ist, wann genau dieses „bestimmte Alter“ erreicht wird. Klar ist, | |
dass beispielsweise der türkische Ministerpräsident Erdogan es bereits | |
überschritten hat: Seine Perspektive ist die des autoritären Potentaten. | |
„Es gibt jetzt eine neue Bedrohung namens Twitter“, eröffnete er unlängst | |
seinem verblüfften Volk. „Die besten Beispiele für Lügen können dort | |
gefunden werden. Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung | |
der Gesellschaft.“ | |
Merkwürdig nur, dass er selbst eifrig twittert oder twittern lässt. Und | |
typisch, dass diese Bemerkung eines „Bösen“ das soziale Netzwerk zu einem | |
Instrument des Guten adelt. | |
## Ohne Twitter wären wir ĺängst ertrunken | |
Twitter werden im gesellschaftlichen Diskurs sogar von seinen Gegnern | |
geradezu messianische Qualitäten zugesprochen. Wobei Gegnerschaft keine | |
satisfaktionsfähige Position mehr ist. Wer die Euphorie nicht teilt, hat | |
einfach den Schuss nicht gehört. Punkt. Der Kampf gegen die | |
Flutkatastrophe? Ohne Twitter wären wir längst alle ertrunken. Sexismus in | |
Deutschland? Vor #Aufschrei war das noch nie ein Thema. Der türkische | |
Frühling? Ohne Twitter nicht denkbar. | |
Der arabische Frühling in Tunesien, Ägypten, Libyen? Hätte ohne soziale | |
Medien nie stattgefunden. Schon fragt man sich, wie Menschen in der | |
Geschichte sich überhaupt jemals sozial verhalten oder von ihren | |
Unterdrückern befreien konnten – so ganz ohne die Segnungen sozialer | |
Netzwerke. | |
Dass tatsächlich die Demonstranten vom Tahrir-Platz in Kairo den | |
Kurznachrichtendienst als kryptomilitärischen Geheimdienst nutzten, | |
„gefällt“ vor allem Nutzern in der westlichen Wohlstandssphäre. Es ist die | |
Tapferkeit, außer Reichweite zu sein. Bürgerkrieg im digitalen | |
Live-Mitschnitt, wo nicht Haubitzen und Jagdbomber, sondern die meisten | |
„Likes“ und „Follower“ über Sieg und Niederlage entscheiden. | |
Geht es noch kindischer, weltfremder? So könne man, meint beispielsweise | |
Mercedes Bunz in ihrem Buch „Die digitale Revolution“, minutiös | |
nachverfolgen, wann über welche Zufahrtsstraßen welche Panzer ins Zentrum | |
der ägyptischen Hauptstadt gerollt und in welche Seitenstraßen daraufhin | |
die Demonstrierenden ausgewichen seien. | |
## „Lasst uns das Schwein tot hauen!“ | |
Und was genau ist damit gewonnen? Überblick? Eine Revolution? Oder doch nur | |
das ebenso zweifelhafte wie schmeichelhafte Gefühl, auf der richtigen Seite | |
gestanden zu sein? Dass der Schuss, den manche angeblich nicht gehört | |
haben, auch nach hinten losgehen kann, zeigte die Jagd auf die Bombenleger | |
von Boston. Sehr schnell, viel schneller als die Behörden, hatte der | |
Schwarm einen vermissten (und später tot aufgefundenen) Studenten als Täter | |
erkannt – und damit dessen Familie das Leben zur Hölle gemacht. | |
Und als nach einem Kindermord in Emden ein (unschuldiger) Verdächtiger | |
gefasst worden war, versammelte sich ein immerhin 50-köpfiger Lynchmob vor | |
der Polizeiwache, der dem Facebook-Aufruf „Aufstand. Alle zu den Bullen. Da | |
stürmen wir. Lasst uns das Schwein tot hauen!“ gefolgt war. | |
Das sind keine Betriebsunfälle. Das ist schlicht die Kehrseite einer | |
Technologie, über die gesprochen werden muss. Selten war unser Bestes, | |
selten aber auch unser Schlechtestes so umstandslos zutage gefördert. Von | |
den Opfern des anonymen Cybermobbings soll gar nicht erst gesprochen | |
werden, auch nicht von dem ozeanischen Dünnpfiff, den die meisten | |
parasozialen und hyperbanalen Alltagstweets darstellen. | |
Dieser Ozean entfaltet seine wahre Wucht, wenn er sich zu Empörungswellen | |
auftürmt. Für einen Shitstorm, auch für den angeblich „gerechten“, brauc… | |
es kein kulturelles Hintergrundwissen, keine politischen Überzeugungen, | |
keine fundierte Meinung und nicht einmal mehr Mut. Nur Arschlöcher. | |
Was meinen Sie? Wird Twitter überbewertet? Oder sollten wir froh sein, | |
ungefilterte Informationen aus Istanbul und Kairo zu bekommen? Was sind | |
Ihre Erfahrungen? Schon mal einen Shitstorm erlebt? Oder selbst | |
angezettelt? Wir freuen uns über Ihre Meinung. Diskutieren Sie mit - hier | |
auf taz.de. | |
Und gibt es überhaupt noch einen öffentlichen Ort, an dem spannende | |
Debatten möglich sind? Im Polittalk von ARD und ZDF? Bei Jauch etwa? Unser | |
Autor Arno Frank hat ein Experiment versucht - vier Wochen lang. Die | |
Titelgeschichte „Wo diskutiert man schlechter: Twitter oder Jauch?“ lesen | |
Sie in der [1][taz.am wochenende vom 8./9. Juni 2013]. | |
7 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://bit.ly/17vqaM6 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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