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# taz.de -- Debatte Naturschutz: Freie Sicht für freie Bürger
> Die Natur muss Opfer für die Energiewende bringen, glauben selbst
> Umweltschützer. Die Wildnis gerät unter die Räder des grünen
> Fortschritts.
Bild: Der Fuchs muss nichts befürchten.
Wenn Sie in diesen Tagen mit dem Auto über Land fahren, kann Ihnen die
tolle Sicht auffallen. Kaum ein Falter oder eine Fliege klatscht auf die
Windschutzscheibe und verschmiert das Glas. Sollten Sie älter als 30 Jahre
alt sein, erinnern Sie sich vermutlich noch daran, dass Autofahrer früher
nach einer Fahrt in die Sommerfrische die Windschutzscheibe von
Insektenresten freikratzten und schon zuvor während der Fahrt mit
Scheibenwischer und Sprühnebel das Gröbste beseitigten.
Diese Zeiten sind vorbei. Und zwar aus einem einfachen Grund: Die Zahl der
Insekten ist zurückgegangen. Ein Großteil der Wildbienen, Käfer, Hummeln,
Fliegen, Libellen und Schmetterlinge hat den Pestizideinsatz und das
Trockenlegen von Auen nicht überlebt.
Zyniker denken nun: „Freie Sicht für freie Bürger“. Zynismus wegen des
Verschwindens von Unterholz-Bewohnern wie der Bergwald-Bodeneule (eine
Schmetterlingsart) oder der Speer-Azurjungfer-Libelle ist angesichts des
größten Artensterbens seit dem Aussterben der Dinosaurier jedoch fehl am
Platz. Im Unterschied zu damals entwickeln sich heute keine neuen Tier-
oder Pflanzenarten. Der Mensch hat mittlerweile jeden Lebensraum auf der
Erde besetzt; er lässt der Evolution keine Ruhe, neue und der Situation
angepasste Tiere hervorzubringen.
## Kein Platz für Balz und Brut
Bis zu 42 Prozent der Insekten können in Deutschland aussterben, warnen
Forscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung. Der Artentod im Reich
der Wirbellosen löst unwiederbringlich eine Kettenreaktion aus, die bis in
die Vorgärten reicht. Blaumeisen, Gartenrotschwänze, Kleiber und andere
Singvögel ernähren sich von Insekten, ebenso wie Frösche, Eidechsen,
Schlangen oder auch Igel und Fledermäuse.
Die meisten Vertreter der genannten Tierarten stehen ebenso wie ihre
Nahrung auf der Roten Liste bedrohter Arten. Die einen als gefährdet, die
anderen als vom Aussterben bedroht. Ihnen fehlen ausreichend Futter,
ausreichend Platz für Balz und Brut und von Pestiziden unbelastetes Wasser,
Boden und Luft.
## Die Energiewende erdrückt Umweltpolitik
Die Wissenschaftler des Helmholtz-Instituts glauben, dass ein kritischer
Punkt erreicht worden ist. Solche Studien rufen jedoch keinerlei Resonanz
bei Politikern von links über grün bis rechts hervor. Regierung,
Unternehmen, Kirchen und selbst die Naturschutzverbände schweigen.
Die politischen Kräfte derjenigen, die sich einst für Natur- und
Umweltschutz eingesetzt haben, fokussieren sich heute alleine auf die
Energiewende. Dahinter verschwinden alle anderen umweltpolitischen
Notwendigkeiten.
## Naturschützer werden diffamiert
Welcher Umweltpolitiker spricht heute noch von Müllvermeidung,
Mehrwegsystemen oder Flächenversiegelung? Von Stickstoffeinträgen durch
Autos und Laster? Von überdüngten Böden? Dabei hat die Energiewende meist –
über die Klimafrage – nur mittelbar mit Umweltschutz zu tun, trägt aber
ihrerseits zur Umweltzerstörung bei.
Siehe etwa die Offshore-Windkraftanlagen, deren Bau das Wattenmeer zerstört
und das Aussterben von Schweinswalen und Robben beschleunigt. Ein
Grünen-Mitglied und Lobbyist eines Energiewende-Think-Tanks in Berlin sagte
kürzlich, dass für die Energiewende eben alle Opfer bringen müssen – auch
die Natur.
Die Energiewende ist ein Milliardengeschäft für Wind- und
Solarparkbetreiber; wer sie kritisiert, gilt als Büttel der Atomindustrie.
Naturschützern ergeht es heute wie den Umweltschützern und
Anti-AKW-Aktivisten der 1980er und 1990er Jahre. Sie stellen das
Gedankensystem derjenigen in Frage, die ihre politischen und
wirtschaftlichen Interessen durchdrücken wollen.
## Die Grünen drängen Naturschützer an die Wand
Naturschützer werden deshalb als naive Spinner diffamiert, lächerlich
gemacht und als die Anti-Modernisierer von Wirtschaft und Gesellschaft
dargestellt. In der grünen Bundestagsfraktion haben die
Naturschutzpolitiker schon seit Jahren nichts mehr zu sagen. Die
Befürworter der Energiewende haben sie so sehr an die Wand gedrückt, dass
sie keinen offenen Widerspruch mehr wagen.
Auch in der Partei haben sich die Wirtschaftspolitiker und Energiewender
durchgesetzt, wie der Mitgliederentscheid zu den wichtigsten
Wahlkampfthemen zeigt: 52 Prozent für das Ziel „100 Prozent Erneuerbare“,
nur 13 für den Schutz von Storch und Laubfrosch.
In den meisten Natur- und Umweltschutzverbänden bestimmen die
Energiepolitiker als Klimaschützer den Kurs. Und vom Umweltministerium
angefangen bis in die Amtsstuben der Stadtkämmerer gilt der Glaubenssatz,
dass zuerst die Energiewende gelingen müsse, damit der Klimawandel
aufgehalten werde, und dann könne man sich wieder um Tiere und Pflanzen
kümmern.
## Hinter dem Artentod steckt immer der Mensch
Aber bis dahin ist es zu spät. Die Weltnaturschutzunion hat Anfang Juli die
Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Tiere und Pflanzen aktualisiert und
4.807 neue Arten darauf gesetzt. Weltweit sind 70.294 Tiere und Pflanzen
bedroht, davon drohen 20.934 Arten in den nächsten Jahren auszusterben. Die
Ursachen dafür sind verschieden, aber immer steckt der Mensch dahinter,
weil er Wasserkraftwerke baut, Wälder rodet oder Landschaften für den
Tagebau abbaggert. Der Klimawandel kommt noch on top.
## Wieviel Wildnis erträgt diese Zivilisation
Wer gilt schon gern als von gestern? Ob es nun an der Größe der Aufgabe
oder am gesellschaftlichen Klima liegt, Naturschützer haben sich in den
vergangenen Jahren von der politischen Bühne verzogen. Es ist an der Zeit,
dass sie wieder aus der Deckung kommen und sich einmischen.
Die Fokussierung der Umweltpolitiker auf die Energiewende verhindert ja
auch, dass der Naturschutz sich selbst weiterentwickelt. Er hängt an den
Dogmen des 19. und 20. Jahrhunderts, nach denen Natur gehegt und gepflegt
werden soll. Dabei wächst es draußen ganz von allein, wenn der Mensch sich
heraushält.
Ein zeitgemäßer Naturschutz erkennt auch dieses anarchisch anmutende
Lebensrecht der Natur an, doch widerspricht das den Überzeugungen etlicher
Funktionäre in den Naturschutzverbänden. Es geht also nicht nur um die
Frage, wie viel Mensch die Natur verträgt. Sondern auch darum, wie viel
Wildnis diese Zivilisation erträgt.
16 Jul 2013
## AUTOREN
Ulrike Fokken
## TAGS
Natur
Umweltbewegung
Energiewende
Wildnis
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Schwerpunkt Klimawandel
Landwirtschaft
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