# taz.de -- EU-Parlamentspräsident über Spionage: „Europa ist kein Karneval… | |
> Europa muss unabhängiger von den USA werden, sagt SPD-Politiker und | |
> EU-Parlamentspräsident Schulz. Ein eigener Geheimdienst wie die NSA sei | |
> aber nicht nötig. | |
Bild: Auch Martin Schulz benutzt ein älteres Handymodell | |
taz: Herr Schulz, dürfen wir mal Ihr Handy sehen? | |
Martin Schulz: Aber sicher. | |
Ein olles Nokia, ziemlich lädiert. Das ist ja noch älter als das von Angela | |
Merkel. | |
In der Hinsicht bin ich altmodisch. Ich habe noch zwei weitere davon. Die | |
gebe ich auch nicht ab. Ich kann sowieso mit diesem ganzen Computergedöns | |
nicht umgehen. | |
Haben Sie mal über ein Krypto-Handy nachgedacht? | |
Krypto-Handy? Nee. | |
Warum nicht? | |
Mit diesem Telefon hier hat der Herrgott ja selbst noch telefoniert. Das | |
Ding können die Amerikaner nicht abhören. Dafür ist die Technologie zu alt. | |
Glauben oder wissen Sie das? | |
Die Experten in Brüssel sagen, dass dieses Handy nicht auf die Abhörtechnik | |
anspringt. Außerdem hält der Akku 36 Stunden. Deshalb habe ich einen sehr | |
aufrechten Gang – im Gegensatz zu meinen Mitarbeitern. Ich dachte am | |
Anfang, es wäre Ehrfurcht vor mir als Präsident, wenn die so gebückt ins | |
Zimmer kamen. Aber die suchten nur Steckdosen, weil ihre Smartphones | |
ständig Strom brauchen. | |
Wir sitzen hier in Ihrem Berliner Büro, einen Steinwurf entfernt von der | |
amerikanischen, britischen und russischen Botschaft. Werden wir abgehört? | |
Ich weiß es nicht. Wenn hier tatsächlich Botschaften dafür benutzt werden, | |
dann ist es relativ wahrscheinlich, dass wir abgehört werden. | |
Auch die britische Botschaft in Berlin dient offenbar Spionagezwecken. Wie | |
fühlt sich das für Sie an? | |
Wenn sich das bewahrheitet, ist das sehr bedenklich. Wir dachten ja, dass | |
diese Methoden zum Kalten Krieg gehörten. Dass Freunde sich gegenseitig | |
ausspionieren, kann nach meiner Einschätzung nicht das Resultat des | |
politischen Willens sein, sondern das eines verselbständigten | |
Geheimdienstapparates. | |
Und die Staatschefs kriegen das nicht mit? | |
Mein Gefühl ist zumindest, dass die Geheimdienste hier abgekoppelt von | |
politischer oder parlamentarischer Aufsicht operieren. Ich kann mir einfach | |
nicht vorstellen, dass die Regierung eines Mitgliedstaats der EU anordnet, | |
den Regierungschef eines anderen EU-Mitgliedstaats auszuspionieren. | |
Und wenn doch? | |
Wenn sich das erhärten würde, wäre das ein schwerwiegender politischer | |
Vorgang, von dem wir noch viel hören würden. | |
Fühlen Sie sich ohnmächtig? | |
Nein, damit kann ich nicht dienen. Die Annahme, man könne in der Politik | |
dem Gefühl der Ohnmacht nachgeben, ist das Ende der Politik. Das akzeptiere | |
ich nicht. Dass Politik hartes Steinekloppen ist, ist ja nichts Neues. | |
Sie haben sich im Juli schon über das Ausmaß der Überwachung aufgeregt und | |
Konsequenzen gefordert. Welche hat es denn seitdem gegeben? | |
Ich habe angeregt, dass wir mal durchatmen und überlegen, wie wir die | |
Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA fortführen. Wenn wir | |
wirklich vertrauensvoll über das Freihandelsabkommen mit den USA | |
weiterverhandeln wollen, müssen wir den Datenschutz und das Recht auf | |
informationelle Selbstbestimmung ganz oben auf die Agenda der | |
transatlantischen Beziehungen setzen oder, besser noch, gleich ein | |
umfassendes europäisch-amerikanisches Datenschutzabkommen zügig | |
verabschieden. Wir müssen die Verhandlungen mit Maßnahmen unterfüttern, die | |
die Wahrung der Grundrechte in Europa garantieren. | |
Glauben Sie wirklich, dass Durchatmen die US-Seite beeindruckt? | |
Vielleicht nicht. Aber wenn wir mit einem starken Datenschutzpaket in die | |
Verhandlungen gehen, kann das die Amerikaner durchaus beeindrucken. | |
Das Wenigste wäre doch zu sagen: Verhandlungen erst nach dem verbindlichen | |
Ende der Spionage. | |
Mir geht es darum, dass wir uns als Europäer zunächst untereinander | |
verständigen. Das ist ja gar nicht so einfach. Die EU ist kein Bundesstaat. | |
Es gibt 28 Mitgliedsländer, viele mit sehr besonderen Interessen. Das ist | |
eine komplizierte Lage. | |
„Mal ganz ehrlich: Glaubt irgendjemand, dass irgendein Abkommen die | |
Amerikaner davon abhalten kann, uns weiter auszuspionieren?“ Das haben Sie | |
vor vier Monaten gesagt. Wieso sagen Sie heute nicht klipp und klar: Europa | |
ist ein Karnevalsverein, der seine Bürger nicht schützen kann? | |
Europa ist kein Karnevalsverein. Sie können das vielleicht als Journalist | |
so formulieren. Ich muss als Präsident einer internationalen Organisation | |
die Sprache der Diplomatie sprechen und meine Worte wägen. Ich bin | |
eigentlich ein Klartextredner, also mache ich es einfach: Die Beziehungen | |
zwischen Europa und den USA werden weitergehen, das ist doch logisch. Dazu | |
sind viel zu viele ökonomische, politische, soziale und kulturelle | |
Verflechtungen da - welchen Sinn würde es machen, das zu unterbrechen? Beim | |
Freihandelsabkommen geht es ja nicht nur ums Digitale. Auch die deutsche | |
Automobilindustrie und andere Branchen wollen weiter ihre Produkte in die | |
USA verkaufen. | |
Wenn Ihnen vor zwei Monaten jemand erzählt hätte, dass die USA seit 10 | |
Jahren das Handy der Bundeskanzlerin abhören, hätten Sie damals nicht | |
gesagt: Das ist ein Spinner? | |
Nein. Ich hätte nicht Spinner gesagt, sondern einen diplomatischeren | |
Terminus verwendet. | |
Welchen denn? | |
Ich hätte vermutlich gesagt: Das ist eine unrealistische Einschätzung. | |
Sie treten als sozialdemokratischer Spitzenkandidat bei den Europawahlen im | |
Mai 2014 an und wollen EU-Kommissionspräsident werden. Was ist denn Ihre | |
Vision im Hinblick auf den effektiven Schutz der digitalen Grundrechte der | |
EU-Bürger? | |
Wir müssen in Europa verbindliche Kriterien definieren, wie wir die | |
informationellen Rechte unserer Bürger schützen können. Das kann kein | |
Nationalstaat mehr alleine leisten. Diese Kriterien müssen wir dann zum | |
Gegenstand von Verhandlungen und Abkommen mit anderen Teilen dieser Welt | |
machen. Außerdem müssen wir sicherstellen, dass wir in der digitalen Welt | |
unabhängiger werden. | |
Wie soll das aussehen? | |
Alle großen sozialen Netzwerke und Speicherkapazitäten und damit fast die | |
gesamte Verwendung von gespeicherten Daten liegt heute in den Händen von | |
Unternehmen in den USA. Das kann so nicht bleiben. Europa muss investieren | |
und Geld in eine eigene europäische digitale Agenda stecken. Das fängt bei | |
der Breitbandverkabelung an und hört bei eigenen Suchmaschinen und anderen | |
Infrastruktureinrichtungen europäischer Art auf. Das muss Europa als eines | |
seiner großen Projekte betrachten. | |
Braucht Europa eine eigene NSA? | |
Nein, wir brauchen eine eigene digitale Infrastruktur, die die | |
Silicon-Valley-Entwicklung auch in Europa möglich machen würde – für | |
Investoren, die in Europa investieren. Wer technologisch völlig abhängig | |
ist, kann schwer Augenhöhe herstellen. | |
Es geht doch hier um Grundrechtsschutz. Kann der Markt das richten? | |
Nicht nur. Für den Grundrechtsschutz sind die nationalen Regierungen und | |
die EU zuständig. Die EU hat eine Grundrechtecharta verabschiedet, in der | |
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet ist. Ich | |
glaube, dass wir dieses Recht in dem Freihandelsabkommen mit den USA | |
verankern müssen. | |
Sie wollen eine europäische digitale Agenda und gleichzeitig den Markt noch | |
mehr für US-Firmen öffnen: Ist das kein Widerspruch? | |
Es nützt ja nichts, US-Firmen vorzuwerfen, dass sie sich einen Marktvorteil | |
erarbeitet haben. Dass diese Firmen ihre Vorteile missbrauchen, indem sie | |
mit dem militärisch-industriellen Komplex in den USA kooperieren und die | |
Rechte von EU-Bürgern missachten - das ist die Herausforderung für Europa. | |
Die falsche Antwort ist zu sagen: Wir können dagegen nichts tun. Die | |
richtige: Wir brauchen eine starke, handlungsfähige EU. Wir, 507 Millionen | |
EU-Bürger, sind der reichste Binnenmarkt der Welt. Wenn die USA weiter | |
Zugang zu diesem Markt haben wollen, müssen sie unsere Grundrechte | |
akzeptieren. | |
Sagen Sie mal einen Zeitrahmen, den Sie sich da vorstellen. | |
Wir hinken weit hinterher. Ob es überhaupt gelingt, weiß ich nicht. Europa | |
stellt heute 7,8 Prozent der Erdbevölkerung. Das heißt 92,2 Prozent der | |
Menschen leben nicht in Europa. Die Wahrnehmung der Europäer aber ist: Es | |
gibt uns - und dann noch ein paar woanders. Die Realität ist, es gibt ganz | |
viele woanders und dann noch uns. Diese Haltung führt dazu, dass uns andere | |
Teile dieser Welt abhängen - die Amerikaner haben uns mit ihrer digitalen | |
Agenda schon längst abgehängt. Jetzt ist die Frage: Unterwerfen wir uns? | |
Dann sind wir irrelevant. Oder sind wir in der Lage, aufzuholen? | |
Falls Sie 2014 Kommissionspräsident werden – was können Sie uns heute | |
versprechen? | |
Sie können von mir erwarten, dass ich versuchen werde, verbindliches | |
europäisches Recht zu schaffen, das die Bürger hier schützt. Es muss klar | |
sein: Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist auch gebrochen, wenn | |
die Wohnung abgehört wird. Ob ich all das, was ich hier skizziert habe, in | |
multilateralen Verhandlungen auch durchsetzen kann, kann ich Ihnen nicht | |
versprechen. | |
Klingt eher nach Ohnmacht als nach Macht. | |
Nein. Sondern klassisch sozialdemokratisch: Es geht nur Schritt für | |
Schritt. | |
7 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Martin Kaul | |
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