# taz.de -- Debatte USA und Überwachung: Amis völlig paranoid | |
> Die USA sollten ihr Sicherheitskonzept überdenken. Die Amerikaner sind | |
> von Furcht getrieben. Aber Angst ist ein Arschloch. | |
Bild: Hillary Clinton schaut bei der Tötung Bin Ladens zu | |
Große Rede: „Unsere gesamte Nation wird sich für immer an den Charakter | |
dieses Angriffs erinnern. (…) Wir werden nicht nur uns selbst bis zum | |
Letzten verteidigen, wir werden sehr klarmachen, dass uns diese Form des | |
Verrats nie wieder in Gefahr bringen soll.“ Präsident Franklin D. Roosevelt | |
richtete diese Worte am 8. Dezember 1941 an die amerikanische Gesellschaft | |
und die Welt. Der Angriff auf Pearl Harbor hatte die USA in ihrem Kern | |
getroffen, es war der erste Angriff auf amerikanischem Boden durch | |
Ausländer seit 1814. Ein Trauma. | |
Das Trauma sollte sich wiederholen. George W. Bush hätte die Worte von | |
Roosevelt nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 übernehmen | |
können. Denn es gibt im amerikanischen Selbstverständnis nur eine Reaktion | |
auf eine derartige Verletzung: die Verteidigung der eigenen Freiheit und | |
die Wiederherstellung der scheinbaren Unangreifbarkeit. | |
Die Folge von 9/11 waren nicht nur zwei Kriege und eine konstruierte Achse | |
des Bösen. Die amerikanische Gesellschaft veränderte sich. Ihr Handeln wird | |
seither unterschwellig von einem Gefühl bestimmt, das für ein souveränes | |
Land irritierend ist: Angst. | |
Aber Angst ist ein Arschloch. Jedoch ein mächtiger Einfluss, besonders, | |
wenn ein Land nicht nur seine globale Vormachtstellung beweisen, sondern | |
auch eine Nation der Individualisten, ausgestattet mit einem | |
unerschütterlichen Glauben an die eigene Überlegenheit, ihren Lebensentwurf | |
verteidigen will. | |
## | |
## Milliardenbudgets für Behörden und Geheimdienste | |
Unter diesen Voraussetzungen haben sich in den USA die Ansichten darüber, | |
was im Namen der Sicherheit richtig ist, verändert. Im Jahr nach den | |
Anschlägen winkte der Kongress insgesamt 48 Gesetze und Resolutionen durch | |
– darunter der berühmte USA Patriot Act. Die viel beschworene rote Linie | |
wurde im Bereich der Überwachung und der Macht des Staats, in die | |
Privatsphäre jedes Einzelnen einzugreifen, verschoben. Zugunsten einer | |
gefühlten Sicherheit. | |
Behörden und Geheimdienste bekamen Milliardenbudgets hinterhergeschmissen. | |
Niemand guckte genauer hin, und egal ob der Präsident Bush oder Obama | |
heißt, die beschafften Informationen werden stets dankbar angenommen. Die | |
Geheimdienste füllen die Lücke, die nach 9/11 entstanden war. Die NSA ist | |
dabei nur einer von 15 Geheimdiensten der USA, ihr Budget wird auf 75 | |
Milliarden Dollar geschätzt – konkrete Zahlen gibt es nicht, sie | |
unterliegen der Geheimhaltung. Doch Edward Snowdens Enthüllungen zwingen | |
die USA, sich nicht nur mit den Verfehlungen, sondern auch mit der | |
legitimierten Macht ihrer Sicherheitsbehörden auseinanderzusetzen. | |
Das Problem liegt bisher darin, dass sich die Amerikaner nicht empören. | |
Eine Demo gegen Überwachung in Washington, ein Senatsausschuss, der sich | |
jetzt mal kümmern will, und ein paar zerknirschte Worte von Außenminister | |
Kerry. In zwölf Jahren hat sich die amerikanische Gesellschaft daran | |
gewöhnt, einen zu hohen Preis für etwas zu bezahlen, das niemals erkauft | |
werden kann: absolute Sicherheit. Der Anschlag auf den Marathon in Boston | |
im April hat das erneut gezeigt. | |
Alle gesammelten Daten, alle abgehörten Telefone von Gegnern wie | |
Verbündeten konnten dagegen nichts ausrichten. Dennoch folgten Rufe nach | |
noch mehr Überwachung. Nachgegeben werden darf ihnen nicht. Und hier kann | |
die weltweite Kritik, die an der unkontrollierten Ausspähwut geübt wird, im | |
besten Fall wie ein Katalysator wirken. | |
## Obama ist getrieben von innenpolitischen Zwängen | |
Denn Barack Obama und der Kongress werden den eingeschlagenen Weg so | |
schnell nicht verlassen. Obama ist Realpolitiker, getrieben von | |
innenpolitischen Zwängen, nicht von empörten Partnern. Deutschland hat zu | |
lange ignoriert, dass die Maßnahmen, die die Amerikaner nach 9/11 getroffen | |
haben, uns sehr viel mehr tangieren, als nur bei der Einreise im Umgang mit | |
der Homeland Security. | |
Eine Weltmacht, die von Angst getrieben ist, legt die eigene Paranoia nicht | |
an der Landesgrenze ab. Und nimmt keine Rücksicht auf Freunde. In den | |
letzten Jahren ging es den USA um Informationsvorsprung durch Überwachung. | |
Das muss man natürlich kritisieren. Aber auch eine deutsche Regierung würde | |
sich eine von außen aufoktroyierte Veränderung der eigenen Handlungsmaxime | |
verbitten. | |
Doch internationaler Druck kann ein Weg sein, eine Debatte auch innerhalb | |
der USA anzustoßen. Amerikanische Medien müssten diese aufnehmen und eine | |
kritische Stimme im Land sein. Etwas, das sie nach 9/11 lange nicht erfüllt | |
haben. Der anstehende Besuch amerikanischer Kongressabgeordneter in Europa | |
ist ein Signal, dass die von außen angestoßene Kritik die amerikanische | |
Wirklichkeit erreicht hat. Doch es muss mehr sein als nur ein | |
Gefälligkeitsbesuch: Die Amerikaner müssen zuhören und die Diskussion in | |
Washington weiterführen. Und Obama muss als Präsident das National Security | |
Council wieder als wirkliches Kontrollinstrument nutzen und die Aktivitäten | |
der Geheimdienste kontrollieren – und nicht länger einfach nur hinnehmen. | |
Die amerikanische Politik basiert auf dem in der Verfassung | |
festgeschriebenen „Checks and Balances“-Prinzip. Das soll garantieren, dass | |
kein Verfassungsorgan des Staats zu mächtig wird. Im Extremen | |
durchdekliniert, hat dieses Prinzip die USA vor Kurzem beinahe in den | |
finanziellen Ruin getrieben. Positiv gewendet, sollte genau diese Kontrolle | |
und Balance dafür sorgen, den Überwachungsstaat herunterzufahren. | |
## Legale und moralische Grenzen korrigieren | |
Budgets für die Dienste müssen gekürzt und Gesetze aus der 9/11-Ära, die | |
gnadenloses Schnüffeln erlauben, gekippt werden. Und den | |
Kongressausschüssen, die sich nun dem Abhörskandal widmen, muss voller | |
Einblick in die Arbeit der Geheimdienste gewährt werden. | |
Nur so können die verschobenen legalen wie moralischen Grenzen korrigiert | |
werden. Dafür müssten sich die Amerikaner jedoch von ihrer Angst befreien. | |
Die USA haben die Kraft zur Selbsterneuerung, auch darauf basiert die | |
Erfolgsgeschichte der Nation. Die amerikanischen Bürger müssen sich auf das | |
besinnen, was sie in den letzten Jahren so verzweifelt zu verteidigen | |
versucht und dabei völlig aus den Augen verloren haben: ihr demokratisches | |
Selbstverständnis. | |
8 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Rieke Havertz | |
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