# taz.de -- Völkerrechtler über Sparauflagen: „Das ist Hartz IV für Europa… | |
> Die Sparauflagen für EU-Mitglieder wie Griechenland verschlimmern die | |
> Lage. Und sie seien rechtswidrig, sagt Völkerrechtler Fischer-Lescano. | |
Bild: Selbst in Not geraten: Krankenhaus in Athen. | |
taz: Herr Fischer-Lescano, Sie werfen der EU vor, mit ihrer Krisenpolitik | |
ihre Kompetenzen zu überschreiten und Menschenrechte zu verletzen. Weshalb? | |
Andreas Fischer-Lescano: Die „Memoranden of Understanding‘, die | |
Vereinbarungen über die Kreditauflagen, greifen in eine ganze Reihe von | |
Grund- und Menschenrechten ein. | |
Welche? | |
Gesundheitsrechte etwa, wenn ganz konkrete Zuzahlungserhöhungen für | |
Medikamente verlangt werden, oder das Recht auf Bildung. Vor allem aber ist | |
der Bereich Arbeit und soziale Sicherheit betroffen: Sanktionen gegen | |
Arbeitssuchende werden eingeführt, soziale Sicherungssysteme fallen weg. | |
Das ist, um es zuzuspitzen, Hartz IV für Europa. Dies verletzt die | |
Tarifautonomie, das Recht auf Berufsfreiheit und auf faire Entlohnung. | |
Das mag einem nicht gefallen, aber warum sollten politische Institutionen | |
das nicht so entscheiden dürfen? | |
Diese Eingriffe verstoßen unter anderem gegen die Europäische | |
Grundrechtecharta, den UN-Sozialpakt oder die Europäische | |
Menschenrechtskonvention. Die europäischen Organe, also die Kommission und | |
die Zentralbank, sind an diese Normen gebunden – auch und gerade in der | |
Finanzkrise. Durch die Krise ist das Unionsrecht nicht etwa suspendiert. | |
Die Memoranden sind als Verträge zu Lasten Dritter evident rechtswidrig. | |
Das bedeutet, ein griechischer Krebspatient, der seine Medikamente nicht | |
mehr bezahlen kann, könnte gegen die Kreditauflagen klagen? | |
Unter bestimmten Umständen: Ja. Es gibt ja bereits Klagen, aber sie richten | |
sich meist direkt gegen die nationalen Umsetzungsakte, also etwa die | |
griechische Regierung. Bislang werden die Handlungen der EU-Organe selbst | |
nicht deutlich genug problematisiert. Dabei werden auf Unionsebene die | |
menschenrechtswidrigen Weichen gestellt. | |
Sie empfehlen also Klagen beim Europäischen Gerichtshof gegen die | |
EU-Kommission und die Europäische Zentralbank? | |
Die Kreditauflagen sind von der Kommission und der EZB ausgehandelt worden. | |
Deswegen muss gegen sie vorgegangen werden können. In der Vergangenheit hat | |
sich der Europäische Gerichtshof in solchen Fragen leider nicht gerade zum | |
Anwalt der Entrechteten gemacht. Die jüngsten Entscheidungen, etwa zur | |
Vorratsdatenspeicherung, geben allerdings Hoffnung, dass er in Zukunft eine | |
aktivere Rolle einnimmt. Sinnvoll wäre es, auch andere gerichtliche Foren, | |
vom Europäischen Sozialausschuss bis zum Europäischen Gerichtshof für | |
Menschenrechte, intensiver einzuschalten als bislang. | |
Vor dem EuGH gab es schon eine Klage griechischer Beamter. | |
Die wollten die Streichung ihres 13. Monatsgehaltes für nichtig erklären | |
lassen. Genau das aber steht im betreffenden Memorandum so nicht explizit | |
drin. Die griechische Regierung hatte da in der Umsetzung der Auflage | |
Spielräume. Deswegen lehnte der EuGH eine Entscheidung ab. Es kommt jetzt | |
darauf an, Fälle zu finden, in denen die negative Betroffenheit durch die | |
Memoranden selbst evident ist. | |
Was für Fälle könnten das sein? | |
Beispielsweise verpflichtet das Memorandum mit Irland zur Absenkung des | |
Mindestlohnes um einen Euro, das Memorandum mit Griechenland nennt konkrete | |
Summen bei der Medikamentenzuzahlung. Solche Klauseln könnte man vor dem | |
EuGH angreifen. | |
Sie kritisieren auch, dass die Kommission die Kreditverträge ausgehandelt | |
hat. Warum hätte sie das nicht tun dürfen? | |
Wir haben es hier mit einer sogenannten Organleihe zu tun: Die Kommission | |
verhandelt im Auftrag des Europäischen Stabilitätsmachanismus. | |
Grundsätzlich ist so etwas möglich. Die Kompetenzen des entliehenen Organs | |
dürfen aber nicht verfälscht oder erweitert werden. Genau das ist aber | |
passiert. Die Kommission hat in vielen Sachbereichen der Memoranden, etwa | |
der Tarifautonomie oder der Lohnhöhe, gar keine Kompetenz. | |
Ist das im Nachhinein nicht herzlich egal? Ohne den Umweg über die | |
Kommission hätte die Eurogruppe mit Griechenland doch genau denselben | |
Vertrag geschlossen. | |
Das ist keineswegs egal. Die Einhaltung der prozeduralen Vorschriften des | |
Unionsrechts würde die Verhandlungen aus den Hinterzimmern herausholen. | |
Sozialpartner und Europaparlament säßen mit am Tisch. In einer öffentlichen | |
Debatte über die Bedingungen hätte man auch diskutieren können, ob die | |
Einschnitte in die sozialen Grundrechte verhältnismäßig sind. | |
Wie sähen denn verhältnismäßige Einschnitte aus? | |
Die sozialen Menschenrechte sind nicht unantastbar und jeder politischen | |
Einflussnahme enthoben. Aber es gibt Vorschriften für Einsparungen, die | |
beachtet werden müssen: Dazu gehört etwa das Diskriminierungsverbot, nach | |
dem schwächere Gruppen nicht benachteiligt werden dürfen. Doch gerade in | |
ihrer Kombination bringen viele Sparauflagen Kinder, Rentner, Behinderte, | |
Migranten in existenzbedrohende Situationen. Außerdem gilt das | |
Verschlechterungsverbot: Wenn die EU-Organe Einschnitte in soziale | |
Menschenrechte vornehmen, müssen sie die relevanten Gruppen in den | |
Rechtssetzungsprozess einbeziehen. Im Fall der Sparauflagen wären das vor | |
allem die Sozialpartner und das Europäische Parlament. Beides ist nicht | |
hinreichend erfolgt. Schließlich missachten die Sparauflagen auch das | |
Gebot, jeweils das mildeste Mittel zu wählen, also grundrechtsschonende | |
Alternativen zu prüfen. | |
Und wie ließe sich denn mit milderen Mitteln der griechischen | |
Staatshaushaltes stabilisieren? | |
Denkbar wären da eine vorrangige Kürzung der Militärhaushalte, eine | |
stärkere Neuverschuldung oder eine Erhöhung der Defizitgrenzen. Man könnte | |
auf der Einlagensicherungsseite viel tun, Vermögen stärker besteuern. | |
Vieles in dieser sogenannten Sparpolitik hat im Übrigen mit Sparen nichts | |
zu tun. Der Staat spart nichts durch die Einschnitte in die Tarifautonomie. | |
Am Ende zahlt er drauf. | |
Das alles erinnert an die Strukturanpassungsprogramme, mit denen der | |
Internationale Währungsfonds und die Weltbank in den 1980er Jahren | |
politische Reformen in verschuldeten Staaten erzwungen haben. | |
Die Parallelen sind offenkundig. Die Konditionalisierungspolitik von IWF | |
und Weltbank hat seit Jahrzehnten ganze Kontinente durch die neoliberale | |
Doktrin verwüstet. Heute erleben wir das Entstehen von Massenarmut in | |
Europa. Die Regulierungstechnik ist die gleiche: Auch die Kredite an | |
Lateinamerika liefen über „Memoranden of Understanding“. So werden diese | |
Einschnitte demokratischer Kontrolle entzogen. | |
Warum? | |
Die Memoranden sind eine Kategorie jenseits des völkerrechtlichen | |
Vertrages, aus dem Beteiligungsrechte der Parlamente erwachsen … | |
Aber das griechische Parlament hat den Kreditauflagen zugestimmt. | |
Das Parlament hatte keine Wahl. Das einzige Parlament, das den supra- und | |
internationalen Organisationen auf Augenhöhe entgegentreten könnte, war | |
nicht ansatzweise beteiligt. Das ist, wie Jürgen Habermas es zu Recht | |
kritisiert hat, eine „Fassadendemokratie“: Die Institutionen existieren, | |
können ihrer Kontrollfunktion aber nicht nachkommen. | |
Sie sagen, die Austeritätspolitik sei ökonomisch nicht sinnvoll, um | |
finanzielle Stabilität zu erreichen. Das ist keine sehr juristische | |
Argumentation. | |
Doch. Der EuGH sagt, die Finanzmaßnahmen müssen geeignet sein, um ein | |
legitimes Ziel zu erreichen. Das legitime Ziel, mit dem nach dem EuGH | |
Eingriffe gerechtfertigt werden können, ist die finanzielle Stabilität. Und | |
finanzielle Stabilität schließt soziale Stabilität ein. | |
Wie wären denn soziale und finanzielle Stabilität miteinander in Einklang | |
zu bringen? | |
Selbst der IWF stellt fest, dass die Sparpolitik die strukturellen Probleme | |
noch vertieft. Europas strukturelle Probleme, die unterschiedlichen | |
Außenhandelsbilanzen, die unzureichende Bankenregulierung, die fehlende | |
Koordinierung der Steuern, werden durch die Sparpolitik nicht gelöst, | |
sondern verstärkt. Eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik müsste | |
auf europäischer Ebene Einnahmensicherungen vorsehen, durch Vermögensteuer | |
und Finanztransaktionsteuer. Sie müsste zur Beachtung sozialer | |
Mindeststandards verpflichten und den Niedrigsteuerwettbewerb unterbinden. | |
Von diesen Notwendigkeiten wird jedoch aktiv abgelenkt. | |
Wodurch? | |
Es geht ja nicht darum, wie man uns weismachen will, dass die Siesta der | |
Griechen länger dauert als die der Deutschen. Die Menschen in Deutschland | |
und Griechenland begleichen die Rechnung eines außer Kontrolle geratenen | |
Wirtschaftssystems. Erst wenn wir mit der Lüge Schluss machen, die die | |
soziale Frage Europas in zwischenstaatliche Kulturkonflikte umdeutet, | |
können wir die nötigen Strukturveränderungen in Gang bringen. | |
2 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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